Staat soll Standards und Strukturen schaffen
Missbrauch und Gewalt gegen Kinder: Petition für eine unabhängige staatliche Aufarbeitung
Immer wieder erschüttern neue Missbrauchsskandale in Kirche und Vereinen die Öffentlichkeit, doch die Aufarbeitung dieser Fälle blieb bislang den Institutionen selbst überlassen. Von dieser Logik müsse man weg, so die Organisatoren der Petition „Gewalt gegen Kindern und Jugendlichen entschlossen entgegentreten!“. Sie fordern eine staatliche Kommission, die Betroffenen unabhängige und professionelle Unterstützung bietet.
Bayern – Es ist höchste Zeit, dass der Staat mehr für Opfer tut. Das ist auch die Ansicht von Richard Kick, der zusammen mit sechs weiteren Profis im Bereich „Missbrauchsaufarbeitung“ die Petition „Gewalt gegen Kindern und Jugendlichen entschlossen entgegentreten!“ ins Leben rief. Die zentrale Forderung: Der Freistaat Bayern soll eine unabhängige Aufarbeitungskommission schaffen, die sich aus Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen zusammensetzt. Diese Experten – Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Rechtswissenschaftler und Mediziner – sollen dann Standards für die Aufarbeitung von Missbrauch formulieren und Prozesse dafür strukturieren und anleiten. Der Freistaat Bayern sei verfassungsrechtlich zum Schutz verpflichtet und dürfe diese Aufgabe nicht den Vereinen und Institutionen überlassen, unter deren Dach Kinder Erfahrung mit Gewalt sammeln mussten.
Expertenkommission für Aufarbeitung
Dass eine solche Forderung gerade vom Betroffenenrat der Erzdiözese München Freising gestellt wird, lässt aufhorchen. 2020 hatte sie ein unabhängiges Missbrauchsgutachten bei der Rechtsanwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl in Auftrag gegeben, das zahlreiche Fälle ans Licht brachte und die Kirche als einen „Ort des Unheils“ aufzeigte, wie Erzbischof Reinhard Marx sich ausdrückte. Doch Missbrauch fand nicht nur durch Geistliche statt, nicht nur in Garching an der Alz, in Maitenbeth, Poing oder Schnaitsee. Jüngste Studien belegen, dass deutschlandweit jeden Tag 54 Kinder und Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs werden – und dies eben auch hinter verschlossenen Wohnungstüren, im Sportverein oder bei den Pfadfindern.
Dass es gerade Kindern nach einem solchen Erlebnis die Sprache verschlägt – das Vokabular und nötige Wissen fehlt, sich auszudrücken – und dass Eltern aus Sorge oder Angst überfordert sind, wird häufig unterschätzt. Gerade in Gerichtsprozessen gegen Missbrauchstäter steht häufig „Aussage gegen Aussage“ und gerade dann wiegt jedes Wort, jeder Widerspruch, jede Erinnerungslücke schwer. Richard Kick, der als Achtjähriger selbst Opfer jahrelangen schweren sexuellen Missbrauchs wurde, weiß aus erster Hand, wie hilflos man sich als betroffenes Kind dann fühlte. Er hätte sich gewünscht, dass seine Eltern ihn verstanden und sich für sein Wohl eingesetzt hätten. Dem Pfarrer nicht zu glauben? Das wäre sicher eine Sünde gewesen.
Viele Missbrauchsfälle verjährt
Rechtlich ist der Missbrauch, den Kick erlebte, inzwischen längst verjährt, aber es hätte Hilfe für ihn geben können. Sein Leben wäre dann vielleicht nicht den Bach runter gegangen, wie er sich selbst ausdrückte. Erst Jahrzehnte später erkannte Kick, dass nicht er der „Loser“ und Versager war, sondern der Täter. Der war inzwischen jedoch längst, und hat sicherlich vielen weiteren Kindern das Leben verdorben. Kick der inzwischen Sprecher des unabhängigen Betroffenenbeirats der Erzdiözese München-Freising, ist nur ein Mitglied des Kreises, der die Petition ins Leben rief und sich für mehr Hilfe für Kinder in solchen Lagen einsetzt.
Neben Dr. Robert Köhler, Sprecher im Rahmen der Missbrauchsaufarbeitung im Kloster Ettal stehen auch Prof. Dr. Susanne Nothafft und Prof. Dr. Annette Eberl von der Katholischen Stiftungshochschule München hinter der Petition. Außerdem Prof. Dr. Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, und Dr. Martin Pusch von der Kanzlei Westphal Spilker Wastl. Jeder von ihnen weiß, dass die Unterstützung und Beratung von Betroffenen nicht den Sportvereinen oder Kirchen überlassen werden darf. Es bedarf einer unabhängigen Stelle.
Bayerisches Aufarbeitungsgesetz als rechtliche Grundlage
Es ist doch nur logisch, dass eine Institution oder ein Verein immer bedacht darauf sein wird, das eigene Ansehen zu schützen. Dass gerade kleinen Vereinen die Expertise und die nötigen Mittel für eine Erstberatung, Aufklärung und Aufarbeitung fehlen, liegt ebenso auf der Hand. Eine unabhängige Beratungsstelle würde hier eine dringend benötigte strukturelle Unterstützung bieten, betont Kick. Gerade in der kirchlichen Aufarbeitung fehle die systematische Ermittlung von Missbrauchsfällen. „Wir müssen weg von der Logik, dass Institutionen ihre eigenen Skandale aufarbeiten“, heißt es im Text zur Petition, die fordert, dass der Freistaat selbst aktiv wird, und flächendeckend Schutzmaßnahmen implementiert.
Neben Aufklärung und Prävention richtet sich der Fokus der Petition vor allem auf die Unterstützung von Betroffenen. Gefordert werden Fonds für Entschädigungszahlungen sowie eine bessere Versorgung durch Traumatherapie. Ein weiteres Ziel ist die Einführung eines Bayerischen Aufarbeitungsgesetzes, das klare Kompetenzen und Zuständigkeiten definiert. Nur so könne sichergestellt werden, dass Betroffene ein Recht auf Akteneinsicht, unabhängige Beratung und Entschädigung erhalten. „Dieses Gesetz würde nicht nur die Rechte von Opfern stärken, sondern auch den Weg für eine flächendeckende Aufklärung ebnen“, unterstreicht Kick.
Öffentlicher Druck und prominente Unterstützer
Die Petition wird von einer breiten Allianz getragen, darunter Wissenschaftler, Betroffene und Vertreter der Stadt München. Auch der evangelische Landesbischof unterstützt die Forderungen. „Wir müssen weiter Druck machen, um den Staat in die Verantwortung zu zwingen“, erklärt Kick. Der öffentliche Druck habe bereits Wirkung gezeigt, wie die Diskussionen im Bayerischen Landtag zeigen. Doch die Umsetzung der Forderungen bleibe jedoch ungewiss. Mit der Petition keimt jedoch Hoffnung auf und mit jeder weiteren Unterschrift rückt ein neuer Meilenstein in der Aufarbeitung bayerischer Missbrauchsfällen näher.