Prozess gegen Erzbistum München Freising
Missbrauchs-Prozess: Priester soll sich bewusst Söhne von Alleinerziehenden gesucht haben
Der Zivilprozess gegen das Erzbistum München wird fortgesetzt: Wegen der Mitschuld an seinem Missbrauch durch den einschlägig vorbestraften Ex-Priester H. in Garching, hatte Andreas Perr (39) eine Feststellungsklage eingereicht – mit hohen Schmerzensgeldforderungen gegen das Bistum und den mitangeklagten Papst Benedikt XVI.
Das Wichtigste in Kürze:
Update, 18.09 Uhr - „Ich wollte das Gefühl des Ekels wegkriegen“
Zum Ende des Verhandlungstages wird nun der Kläger selbst angehört. Zu dem sexuellen Missbrauch selbst muss Andreas Perr (39) sich nicht äußern. Richterin Dr. Nitzinger-Spann weist alle Anwesenden darauf hin, dass die Tat des Priesters unstrittig ist. In dem Zivilprozess wird am Ende kein Urteil gefällt: Es geht „nur“ darum, wie hoch das Schmerzensgeld seitens des Erzbistums München-Freising ausfallen soll. Der Anspruch des Klägers auf Schadensersatz ist ebenso unstrittig. Die Anwälte Perrs hatten 300.000 Euro für ihren Mandanten gefordert.
Perr wiederholt im Wesentlichen, was die vorherigen Zeugen zu seinem Drogenkonsum bereits ausgesagt hatten. Nach dem Missbrauch sei er von zu Hause weggelaufen, in der Schule schlecht geworden und habe immer mehr zu Alkohol und auch zu harten Drogen gegriffen. „Ich wollte die Bilder und das Gefühl des Ekels wegkriegen“, sagt Perr. Er habe so hohe Dosen genommen, dass er das Bewusstsein regelmäßig verloren habe. Die Drogenproblematik ziehe sich mit cleanen Phasen bis heute.
„Die haben ihn alle in den Himmel gehoben“
„2005 habe ich einen Selbstmordversuch unternommen, weil mein Leben so beschissen war“, sagt Perr. Erst 2010 habe er den Missbrauch zur Anzeige bringen können – vorher habe er sich zu sehr geschämt und nicht über die Angelegenheit sprechen können. Erst bei einem Klinikaufenthalt im Jahr 2015 konnte Perr darüber reden. Die Drogensucht wirke sich bis heute auf Perrs Leben aus: Noch immer wird er substituiert.
Laut Perr habe der ehemalige Priester Peter H. ganz bewusst Kinder ausgesucht, die alleinerziehende Eltern hatten. Bei einem Treffen mit dem Missbrauchsbeauftragten, Dr. Kneißl, soll dieser zu ihm gesagt haben, dass Perr selbst schuld sei, dass ihm das passiert sei. Immerhin sei er zu dem Priester gegangen und habe dort Pornos geschaut. Andreas Perr habe sich daraufhin als Täter gefühlt.
Der Ex-Priester Peter H. habe gern Menschen gegeneinander ausgespielt und auch ihn immer wieder als „bösen Jungen“ hingestellt. „Die haben sich alle blenden lassen und ihn in den Himmel gehoben, obwohl er in die Hölle gehört“, sagt Perr. Nach dem Missbrauch habe Perr Erwachsenen nicht mehr trauen können.
Da noch eine ausführliche Anamnese durch den psychiatrischen Gutachter stattfinden soll, wird die Anhörung des Klägers sodann beendet. Einen Termin für die Fortsetzung der Verhandlung kann die Richterin noch nicht nennen. Dieser wird erst festgelegt, wenn das Gutachten fertig ist.
Update, 17.02 Uhr - Drogen, damit die Bilder weggehen“
Auch die Mutter des Klägers wird in den Zeugenstand gebeten. Sie verweigert aber die Aussage und eine weitere Ärztin wird in den Saal gerufen. Die Zeugin untersuchte Andreas Perr im September 2011, nachdem dieser einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt hatte. Perr habe angegeben, dass er eine schwerwiegende und langjährige Drogenabhängigkeit sowie eine Persönlichkeitsstörung durch den sexuellen Missbrauch davon getragen habe.
Vom Versorgungsamt habe die Ärztin nur einen ungefähren Zeitraum zwischen 1994 und 1996 bekommen. Der Befundbericht eines weiteren Arztes aus dem Jahr 2010 habe besagt, dass Perr sich nicht getraut habe, über den Missbrauch durch Priester H. zu sprechen. Erst nachdem weitere Fälle in Zusammenhang mit Peter H. an die Öffentlichkeit gekommen waren, habe er den Schritt gewagt. Die Ärztin schrieb damals in einem Gutachten, dass Perr vor dem Missbrauch lebenslustig gewesen sei, nach dem Vorfall aber mit dem „Zündeln“ begonnen habe.
Mit 16 Jahren Heroin gespritzt
Perr habe ihr gegenüber seine Suchtkarriere dargestellt: So soll er mit 14/15 Jahren bereits einen Kasten Bier oder eine Flasche Wodka getrunken haben. Mit 16 Jahren soll er bereits Heroin gespritzt und diverse starke Beruhigungstabletten in großen Mengen genommen haben. Außerdem soll ihm ein Arzt bereits im 16. Lebensjahr Methadon zur Substitution verschrieben haben. Perrs Eltern hätten sich bereits in seiner Kindheit scheiden lassen, doch seine Kindheit sei gut gewesen.
Der Ärztin gegenüber hatte Perr angegeben, dass er im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren drei bis vier Mal von dem Priester missbraucht worden sei. Einmal habe Peter H. onaniert, während Perr und sein Freund in dessen Wohnung Pornos anschauen mussten. Nach dem Missbrauch habe Perr sich zurückgezogen, sei nicht mehr aus dem Haus gegangen, und die Erinnerung an den Missbrauch hätten ihn überfordert. Es sei für ihn widerlich gewesen.
Rausch, um Bilder zu unterdrücken
Er habe dann die Schule geschwänzt, Mitschüler geschlagen, und seine Leistungen seien abgefallen. Wenn er Alkohol getrunken habe, seien die Bilder im Kopf weggegangen. Später habe er deswegen Suchtmittel konsumiert. Perr habe den Missbraucht verdrängt, doch 2010 sei alles hochgekommen. Er habe an Schlaf- und Angststörungen gelitten und auch sexuelle Probleme gehabt. Eine Klinik, in der Perr behandelt wurde, benannte aber weitere Ursachen für seine Suchterkrankung.
Laut der Zeugin bestand bei Perr eine „ruhende Anlage“ für eine Suchterkrankung. Das Risiko für eine spätere Sucht sei bei Perr auch ohne dem Missbrauch erhöht gewesen. Doch weil ein zeitlicher Zusammenhang mit dem frühen Alkoholmissbrauch Perrs bestand, sowie ein innerer Zusammenhang mit dem Wunsch nach Verdrängung der Bilder im Kopf. Den Grad der Schädigung Perrs durch den Missbrauch setzte die Ärztin auf 40 von 100 fest. Die Ärztin bezieht sich bei ihrem Urteil auf deutsche Lehrmeinung.
Update, 15.52 Uhr - Selbstmordversuch in Haft
Nach einer kurzen Pause wird der Facharzt für Psychiatrie weiter zur Suchtproblematik von Andreas Perr (39) befragt. Der Zeuge sagt, es könne keine Gewichtung der Ursachen für eine Sucherkrankung vorgenommen werden. Das würde bedeuten, dass nicht gesagt werden kann, ob das Fehlen von Perrs Vater, der sexuelle Missbrauch durch den Priester oder seine Freundschaft zu Jugendlichen mit Drogenkontakten sich auf die Ausbildung einer Suchterkrankung ausgewirkt haben.
Weil ein anwesender Sachverständiger, Dr. Rainer Huppert, aufgrund der Aussagen seines Kollegen und weiterer Zeugen – unter anderem Andreas Perr selbst – ein Gutachten dazu erstellen soll, inwieweit Perrs Sucht auf den Missbrauch zurückzuführen ist, geht es den Rechtsanwälten um Details. So wollen Perrs Anwälte wissen, welche Erfahrungen der Facharzt in Bezug auf sexuellen Missbrauch und Suchterkrankungen vorweisen kann.
Frage nach Missbrauch „hat sich nicht aufgedrängt“
Andreas Schulz, der bereits andere Missbrauchs-Betroffene erfolgreich vor Gericht vertreten konnte, will von dem Facharzt wissen, ob eine sexuelle Problematik und Sucht miteinander auftreten können. Der Facharzt bejaht dies. Schulz fragt weiter, warum man seinen Mandanten während der Therapie nicht nach Missbrauchserfahrungen gefragt habe. Der Zeuge sagt, die Frage habe sich dem behandelnden Team nicht aufgedrängt, und Perr habe „nichts gesagt“.
Weil der Facharzt vorher angegeben hatte, dass ihm das Zusammenfallen von Sucht und Missbrauch bekannt sei, will Perrs Anwalt wissen, ob sich diese Erfahrung auf die Täter- oder Opferperspektive bezieht. Der Zeuge antwortet, dass es sich meist um die Täterseite gehandelt habe. Dann holt Klägervertreter Goldbach aus und fragt, ob dem Facharzt für Psychiatrie bekannt sei, dass Perr im Jahr vor dem Antritt seiner Entziehungstherapie einen Selbstmordversuch unternommen habe. Der Zeuge verneint dies.
Auf die Frage des Sachverständigen, ob dem Facharzt die Diagnose einer weiteren Klinik bekannt sei, in der Perr eine psychopathologische Traumafolgestörung bescheinigt wurde, erfolgt ein weiteres „Nein“.
Update, 14.40 Uhr - Facharzt über langjähriges Verhalten und Ursachenketten
Bezüglich der Gespräche über die Gründe der Suchterkrankung Andreas Perrs, werden viele Fragen an den Facharzt für Psychiatrie gestellt. Der Zeuge hatte ausgesagt, dass Perr durch eine Bezugstherapeutin nicht offensiv auf den Missbrauch angesprochen worden sei. Obwohl aber angeboten worden sei, dass Perr dieses Erlebnis in die Therapie mit einbringen könne, habe er die therapeutische Aufarbeitung aber verschieben wollen.
In der Therapie wolle man Patienten lediglich Mittel an die Hand geben, die Sucht zu bewältigen. „Eine Sucht hat viele Ursachen und in aller Regel sieht man diese alle an, doch allein damit wird man nicht weiterkommen“, so der Facharzt. Man könne versuchen, die Gründe für die Sucht mit in die Therapie einzubeziehen, doch man könne nicht davon ausgehen, dass „eine monokausale Ursache“ die Sucht begründe. Laut dem Arzt sollen sich Patienten selbst eine Ursachenkette als Rechtfertigung für die Sucht zurechtlegen.
„Wenn sich ein Verhalten durch viele Jahre seines Lebens zieht, dann kann man versuchen, langfristig eine Verhaltensänderung herbeiführen“, so der Zeuge. Noch während die Rechtsanwälte von Perr und die Verteidigung des Erzbistums mit der Vorsitzenden Richterin wegen des zu protokollierenden Wortlauts diskutieren, trifft der Kläger, Andreas Perr im Gerichtssaal ein. Er hat sichtlich an Körpergewicht abgenommen und wirkt zerbrechlicher als bei seinem ersten Verhandlungstermin im Juni 2023.
Update, 13.41 Uhr - Suchtkarriere des Klägers begann mit 12 Jahren
Der Zivilprozess gegen das Erzbistum München-Freising und den ehemaligen Gemeindepriester von Garching an der Alz, Peter H., beginnt, obwohl der Kläger, Andreas Perr, noch nicht eingetroffen ist. Weil dessen Rechtsanwälte aber da sind, kann die Vorsitzende Richterin, Dr. Elisabeth Nitzinger-Spann, dennoch mit der Anhörung von Zeugen starten. Als Erstes wird ein Facharzt für Psychiatrie vom Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg in den Saal gerufen.
Der Zeuge sagt, dass er den Kläger bereits seit September 2005 kenne. Andreas Perr sei damals zu einer Haftstrafe und zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt worden. Der Aufenthalt in Gabersee habe nur drei Monate gedauert, weil Perr – um seine Berufsausbildung fortsetzen zu können – im Dezember 2005 in eine andere Klinik verlegt worden sei. Der Zeuge erklärt, dass der Kläger Opiate, Kokain und Benzodiazepine, diverse Psychostimulanzien und Cannabis missbraucht habe.
Alkohol soll Andreas Perr bereits seit seinem 13. Lebensjahr konsumiert haben. Dem Facharzt ist in Erinnerung, dass der Patient sich nur oberflächlich auf die therapeutischen Interventionen einließ. Obwohl er aber schon im Jahr 2002/2003 eine Langzeittherapie deswegen durchlaufen hatte und allein im Jahr 2004 vier und 2005 noch einen Rückfallerlitten habe, soll Perr die Sucht bagatellisiert haben. „Ob er damals Angaben zu sexuellem Missbrauch gemacht hat, kann ich nicht sagen“, so der Facharzt.
Mit 12 Jahren begann die Sucht-Karriere
Auf nochmalige Nachfrage sagt der Arzt, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, ob Perr bereits im Jahr 2005 über den Grund der Suchtmittelproblematik gesprochen habe. Er könne sich nur an ein Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt erinnern. Dies habe im Jahr 2020 stattgefunden – im Rahmen einer erneuten Verurteilung und Entziehungstherapie. Perr habe dabei von seinem sexuellen Missbrauch durch einen Priester im Grundschulalt erzählt.
Nach dem Missbrauch habe sich Perr seiner Mutter anvertraut, doch die habe ihm nicht geglaubt. Perr habe sich dann älteren Jugendlichen zugewandt und bereits mit 12 Jahren begonnen, Zigaretten zu rauchen. Mit 13 soll er begonnen haben, Alkohol zu trinken, und mit 14 Cannabis zu konsumieren. Im Rahmen des Gesprächs mit dem Facharzt habe der Kläger angegeben, dass er rechtlich gegen den Missbrauchstäter und die Kirche vorgehen wolle und selbst eine Traumatherapie beginnen wolle.
Vorbericht:
Traunstein; Garching/Alz – Vor etwa sechs Monaten startete am Landgericht Traunstein ein Zivilprozess gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI., Kardinal Friedrich Wetter und das Erzbistum München-Freising. Mit der Einreichung einer Feststellungsklage wollte Rechtsanwalt Andreas Schulz für seinen Mandanten Andreas Perr (39) erreichen, dass die Kirche Verantwortung für den Einsatz eines einschlägig vorbestraften Missbrauchstäters übernimmt: den ehemaligen Priester Peter H.
300.000 Euro Schmerzensgeldforderung
Perr hatte angegeben, dass der Priester ihn und einen seiner Freunde angefasst habe. Im Sommer 1996 habe er den damals Zwölfjährigen im Wohnzimmer des Garchinger Pfarrhauses Pornos vorgeführt. Anschließend habe er die Kinder animiert zu onanieren und die Jungen schließlich auch angefasst. Obwohl Peter H. im Jahr 1986 bereits wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen und der Verbreitung pornografischer Darstellungen zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden war, hatte ihn das Bistum über 20 Jahre lang als Gemeindepfarrer in Garching eingesetzt. Dort war er insbesondere in der Jugendarbeit tätig – trotz ausdrücklicher Warnung seines Psychiaters.
Weil Perrs Fall strafrechtlich inzwischen verjährt ist, blieb ihm und seinen Anwälten nur der Weg über eine Feststellungsklage. Trotz der hohen Schmerzensgeldforderung gegen das Bistum – es geht um 300.000 Euro – soll es dem Kläger nicht ums Geld gehen. Er möchte sich vorrangig gegen die Bagatellisierung derartiger Missbrauchstaten zur Wehr setzen. Er selbst sei aufgrund der Missbrauchserfahrung ausgerissen und ins Drogenmilieu abgerutscht. Doch das Erzbistum bestreitet dies. Unstrittig war dagegen, dass Peter H. während der Ausübung seiner Priestertätigkeit eine Missbrauchshandlung begangen habe. Auch die Haftung des Bistums wurde nicht abgestritten – und auch nicht, dass Joseph Ratzinger von der Übernahme des Priesters wusste.
So sah die 5. Zivilkammer grundsätzlich einen Anspruch auf Schmerzensgeld als gegeben an. Zur Bestimmung der Höhe waren aber noch weitere Beweisaufnahmen angeordnet worden. Um zu bestimmen, inwieweit Perrs Leben durch die Missbrauchstat zerstört wurde, sollen ein Gutachter, der Kläger selbst und vier weitere Zeugen gehört werden.