Worin Politiker aus der Region die Ursache sehen
„Mündliche Brandstiftung“, „Politischer Frust“? – AfD im Kreis Traunstein so stark wie nie
Nach dem großen Zuwachs der AfD bei den Europawahlen schieben sich in Traunstein die Politiker der Regierungsparteien und der Opposition gegenseitig die Schuld zu. Aber auch in den eigenen Reihen wird der Unmut größer.
Von Martin Lünhörster und Michael Bartel
Landkreis Traunstein – Während die AfD in den fünf großen Bundesländern in Ostdeutschland stärkste Kraft geworden ist, hat in Bayern die CSU die Nase vorn. In allen bayerischen Landkreisen gaben die Bürger der CSU die meisten Stimmen. Vielerorts, wie auch im Landkreis Traunstein, wurde die AfD Zweite. Auf 12,6 Prozent kam die Partei bayernweit, 12,4 Prozent waren es in Traunstein. Dabei konnten sie ein Plus im Vergleich zur Europawahl 2019 von 4,9 Prozent verzeichnen.
Ein Ergebnis, in dem Konrad Baur, Landtagsabgeordneter der CSU für Traunstein, ein erhöhtes Frustpotenzial der Wähler sieht. „Ich führe das starke AfD-Ergebnis nicht auf eigene Erfolge dieser Partei zurück, weil die gibt es ja faktisch nicht.“ Nicht das Ergebnis der AfD sieht er als problematisch an, sondern der Weg dorthin sei das Besorgniserregende. „Je schlechter eine Regierungspolitik ist, je weniger Stabilität von einer aktuellen Regierung in Deutschland ausgestrahlt wird, desto größer ist die Zerfransung an den Rändern. Das heißt, wenn ich schlecht regiere in Berlin, stärke ich die Extremisten an den Rändern, egal ob es links oder rechts ist.“
Die Verlierer der Wahl
Während die CDU im Vergleich zu den Europawahlen 2019 nach dem vorläufigen Ergebnis gut ein Prozent an Stimmen zulegen konnte, verliert die CSU in Bayern ein Prozent. Im Landkreis Rosenheim sind es 3,4 Prozent und im Landkreis Traunstein sogar 4,1 Prozent. Den Ruf Söders nach Neuwahlen kann Bayerns Grünen-Chefin Gisela Sengl aus Sondermoning im Landkreis Traunstein deshalb nicht verstehen. Söder solle sich selbst anschauen, denn „die CSU hat ja verloren in Bayern“, sagt Sengl.
„Wir hatten einen harten Wahlkampf“, sagt sie und bezieht sich damit vor allem auf die Angriffe gegen die aktuelle Regierung, die sie als „Ampel-Bashing“ bezeichnet. Dieses Verhalten würde vor allem den rechtsextremen Parteien und Rechtspopulisten helfen. „Ich weiß gar nicht, was das für eine Stimmung in der Gesellschaft ist. Ich meine, das AfD-Ergebnis ist ja schlimm“, sagt Sengl. Im Landkreis Traunstein hat die AfD mit einem Zuwachs von knapp fünf Prozent 12,4 Prozent erreicht, im Landkreis Rosenheim 12,8 Prozent (Stand 10. Juni). Die Grünen sind deutschlandweit die größten Verlierer der Wahl und blieben in den beiden Chiemgauer Landkreisen unter zwölf Prozent.
Nachholbedarf bei politischer Bildungsarbeit
Bei der politischen Bildungsarbeit sieht Sengl deutlichen Nachholbedarf, besonders da bei dieser Europawahl in Deutschland bereits mit 16 Jahren gewählt werden durfte. „Also wir kämpfen schon immer für das Wahlrecht ab 16, auch bei der Landtagswahl“, sagt Sengl, „aber man muss ganz klar sagen, politische Bildung müsste viel mehr in der Schule vermittelt werden.“ Auch außerhalb des Schüleralters sieht Sengl Defizite, da viele Menschen gar nicht wissen würden, wie die EU funktioniere. Sie führt aus: „Unsere Demokratie werden wir nur erhalten können, wenn jeder von uns bereit ist, auch etwas dazu beizutragen.“
Für Dr. Martin Brunnhuber, Landtagsabgeordneter der Freien Wähler für Traunstein, war das Ergebnis der AfD absehbar. Es gäbe einen Rechtsruck, weil viele Dinge wie die Migrationspolitik und die schwächelnde Wirtschaft noch nicht hinreichend geklärt wurden. Auffällig sei außerdem, dass viele Jugendliche, die bei dieser Wahl das erste Mal wählen durften, ihr Kreuz bei der AfD gemacht hätten. „Bei einem Wahlalter ab 16 Jahren muss man genau darauf aufpassen, dass man eine breite Meinungsbildung vorschickt. Sowohl in der Schule als auch in der Gesellschaft.“ Er möchte niemanden davon abbringen zu sagen, die AfD sei seine Partei. Sie steht genauso auf dem Wahlschein wie viele andere Parteien auch. „Aber ich glaube, dass viele Jugendliche die Wahl zu lax sehen, weil das Wahlrecht eben kein Spaß ist.“
„Es muss Veränderung her“
Franz Bergmüller, Landtagsabgeordneter der AfD, war sehr zufrieden mit dem Abschneiden seiner Partei. Trotz „persönlicher Fehler“ einiger Spitzenleute und dem allgemeinen „Bashing” gegenüber der AfD. „20 Prozent wären sonst drin gewesen, mit Sicherheit.“ Das Engagement vieler Bürger und Unterstützer habe die Nachteile aber teilweise wettgemacht. Auch habe die AfD viel Zuspruch erhalten und sich über die Sorgen der Bürger ein Bild machen können, etwa die Migration und der Zentralismus der EU. „Es muss Veränderung her“, sagte Bergmüller. Es treffe daher auch nicht zu, dass die AfD-Anhänger lediglich Protestwähler seien. Der Kreisverband Traunstein der AfD war mit Vorstand Andreas Füssel weder telefonisch noch per E-Mail für die Redaktion bis Redaktionsschluss erreichbar.
Wenig Zusammenhalt in den eigenen Reihen
„Wir gewinnen zusammen, wie bei der Bundestagswahl 21“, sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am Wahlabend in der ARD, „und wir verlieren zusammen.“ Sündenböcke werden deshalb laut Kühnert nicht gesucht. Dem widerspricht Sepp Parzinger, der Vorsitzende der SPD im Landkreis Traunstein. Hier musste die SPD, anders als bayern- und deutschlandweit, keine Verluste hinnehmen. Parzinger sieht seine Partei als Vermittler zwischen Koalitionspartnern und als diejenigen, die „ein Stück weit Ruhe mit hereinbekommen, gerade zwischen Grünen und FDP, die sich regelmäßig da die Köpfe einschlagen“.
„Mündliche Brandstiftung“ von CSU und Freien Wählern
„Ich glaube, man sieht schon, dass sich die Stimmung im Land auch verändert“, sagt Sepp Parzinger und nimmt, ähnlich wie seine Koalitions-Kollegin Sengl, die CSU und die Freien Wähler mit in die Verantwortung: „Ich würde mir schon öfters wünschen, dass es auch mal mäßigendes Einschreiten auch von CSU und Freien Wählern bei uns gibt“, führt Parzinger aus und bezeichnet das Verhalten der beiden Parteien als „mündliche Brandstiftung.“
Als konkretes Beispiel nennt Parzinger die Bauernproteste Anfang des Jahres. Manche Aktionen seien ihm dabei zu weit gegangen. Etwa, dass Galgen aufgestellt wurden, mit Schildern, „wer das Land verkauft und Bauern fängt, muss sich nicht wundern, wenn er am Galgen hängt,“ erinnert sich Parzinger. Aktionen in dieser Weise würden die politische Stimmung aufheizen. „Da schweigen leider schon CSU und Freie Wähler an der Stelle und das trifft vor allem die Grünen“, sagt der Vorsitzende der SPD für den Landkreis Traunstein.
„Die Leute haben die Schnauze voll“
„Ich glaube sehr klar, dass es einfach einen Teil in der Bevölkerung gibt, der die Schnauze voll hat vom kompletten politischen Meinungsspektrum oder vom demokratischen Spektrum“, sagt Parzinger und erklärt sich so den hohen Zuspruch für die rechtspopulistische AfD. Die letzten Jahre seien vor allem von Kompromissen geprägt gewesen. Zuerst in der Großen Koalition und jetzt in der Ampel-Koalition. Den Bürgern sei zu wenig passiert, „und ich glaube, das ist natürlich eine Herausforderung, gerade für unsere Sozialdemokratie“, führt Parzinger aus. Nach ihm haben sich viele Wähler aus Frustration „gegen die Demokratie“ entschieden.
BSW von Null auf 4,4 Prozent
Was überrascht, ist das starke Ergebnis der neuen Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Erst Anfang des Jahres gegründet, schaffte es die Partei auf Anhieb an der Linken vorbeizuziehen und erreichte im Landkreis einen Stimmenanteil von 4,4 Prozent. Die Linke erreichte im Landkreis 1,1 Prozent und verlor damit 0,9 Punkte. „Das Ergebnis überrascht mich nicht“, sagt Martin Brunnhuber. „Das ist der Effekt des Neuen. Das war auch damals bei den Piraten so. Und die sind am Abschwächeln.“ Hinzu kommt, dass über das Bündnis Sahra Wagenknecht medial sehr viel berichtet wurde. Der Austritt aus der Partei Die Linke habe ihr eine extrem große Bühne bereitet.
Konrad Baur findet, man dürfe das Ergebnis nicht überbewerten. „Ich kenne bis auf Sahra Wagenknecht ehrlich gesagt keinen einzigen Kandidaten oder Kandidatin. Da ist ganz, ganz wenig Personal dahinter, noch weniger Inhalte“, sagt er. Auch das Wahlprogramm sei nur sehr sparsam aufgelegt worden. „Insofern würde ich das wirklich als reine Protestbewegung bewerten.“ Das BSW erreicht in Chieming und Grabenstätt mit 3,1 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis im Landkreis, in Bergen konnte das beste Ergebnis mit 6,1 Prozent der Stimmen eingefahren werden.