Dafür gibt‘s Kontaktlinsen zum Kaffee
Bürokratischer Irrsinn? Warum der Optiker in Grassau-Eichelreuth keine Brillen verkaufen darf
Ein Optiker, der keine Brillen verkaufen darf. Wo gibt‘s denn sowas? In Grassau gibt‘s das. Warum Aldi und DM Brillen verkaufen dürfen, Christina und Thomas Ager aber nicht.
Grassau – Christina und Thomas Ager sind seit vielen Jahren als Optiker in ihrem eigenen Laden an der Kirchstraße aktiv. Aus den knapp 100 Quadratmetern sind sie längst herausgewachsen. Die Werkstatt ist winzig, einen Sozialraum gibt es nicht und nur eine Toilette. Der Raum, in dem die Augen vermessen werden, ist noch winziger als die Werkstatt und offen zum Laden. Da Agers sich unter anderem auf die medizinischen Aspekte der Optik spezialisiert haben, ist gerade das keine gute Situation. Denn da geht es nicht nur darum, eine schicke Brille auszusuchen und mit Gläsern zu versehen, da geht es um die Gesundheit. Die körperliche und die seelische. Zuhörer unerwünscht.
In der Ortsmitte nichts passendes gefunden
In der Ortsmitte hat sich das Optiker-Ehepaar lange umgesehen, kein Geschäft in passender Größe gefunden, sagt Thomas Ager. Da kam die Anfrage von den Erbauern des Ärztehauses in Eichelreuth gerade recht. Genug Fläche für die verschiedenen Untersuchungen, für die Herstellung und Anpassung von Kontaktlinsen, für die Vermessungen und anschließenden Tests mit Profi-Sportlern, für einen Kaffeetresen – da wartet Papa doch entspannter auf den Nachwuchs oder die Frau auf den Gemahlsgatten. Optiker und Investor waren sich schnell einig, dass das Erdgeschoss links vergeben ist. „Wir arbeiten mit Physios, Osteopathen, Kinderärzten und anderen Medizinern zusammen“, sagt Christina Ager, „das wäre da problemlos möglich.“
„Wäre“, denn so weit kam es nie. Es gibt in Grassau ein Einzelhandelskonzept, 2002 erstellt und 2017 überarbeitet. Darin enthalten: Die „Grassauer Sortimentsliste“. In der festgehalten ist, was wo verkauft werden darf, was innenortsrelevant ist. Dazu gehören Arzneimittel. Eine der beiden Apotheken am Ort wollte im Ärztehaus, ganz in der Nähe des Seniorenheims, eine Filiale aufmachen. Durfte sie nicht, lehnte der Marktgemeinderat ab, erzählt Thomas Ager. Bürgermeister Stefan Kattari (SPD) sagt dazu dem OVB: „Arzneimittel gehören zum Sortiment des innerstädtischen Bedarfs und das sieht die Sortimentsliste nicht vor. Ziel ist nicht, jemanden zu gängeln, sondern unseren Innenstadtbereich zu schützen. So arbeiten wir übrigens seit 2002 schon die vierte Wahlperiode hintereinander.“ Nach Meinung von Experten vertrage Grassau keine zwei Zentren, die Geschäfts-Meile in der Innenstadt soll so geschützt werden.
Der Marktgemeinderat machte das Einzelhandelskonzept zudem zum Bestandteil des Bebauungsplanes „Eichelreuth-Nord-Mitte“. Thomas Ager kennt das Einzelhandelskonzept, er ist seit Jahren Mitglied im Verband des Grassauer Gewerbes. Deswegen weiß er auch, dass das Einzelhandelskonzept seit 2002 nirgends Bestandteil eines Bebauungsplanes war. Weil, wie Kattari auf Nachfrage der Redaktion erklärt, der Bebauungsplan auf dem Gelände des ehemaligen Gartenbaubetriebs der erste sei, der Eichelreuth betreffe.
Ager, der die Räume gemietet hat, stolperte eher zufällig darüber, dass das in Eichelreuth nun anders und das Einzelhandelskonzept Bestandteil des Bebauungsplanes ist. „Als Mieter bin ich nicht verpflichtet, in den Bebauungsplan zu schauen.“ Er sei dann sofort zu Kattari gegangen und habe gesagt „Wir haben ein Problem, wir brauchen eine Lösung“. Er, Ager, solle eine Stellungnahme vom Stadtplaner beibringen, dann werde das schon, so die Antwort.
Die Stellungnahme von Jan Vorholt, dem Mann vom Büro Cima, der im Auftrag der Gemeinde 2017 das Einzelhandelskonzept überarbeitet hatte, gibt es. Darin heißt es unter anderem, dass ein Umzug möglich wäre, wenn im Gewerbegebiet der Betrieb eine untergeordnete Verkaufsfläche habe. Die gesamte Betriebsfläche betrage 174 Quadratmeter, wobei der Verkaufsraum lediglich 35 Quadratmeter groß sei. Folglich könne der Verkaufsbereich mit rund 20 Prozent der Fläche als untergeordnet eingestuft werden und somit als Grenzfall beurteilt werden.
Wird mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen?
Der Erste, der sich im Gemeinderat dagegen ausgesprochen hätte, sei der Bürgermeister gewesen, berichtet Ager. Die Mehrheit des Gremiums folgte. Ein Mitglied des Gemeinderates habe ganz klar und unwidersprochen gesagt, dass es ihm völlig gleichgültig sei, ob Optik Ager aus Grassau weggehe, „aber da raus geht der nicht.“ Ging er doch – mit Kontaktlinsen und Café. Die Brillen blieben in der Kirchstraße. Und werden auf der anderen Straßenseite von DM und Aldi verkauft – weil sie dort zum Nebensortiment gehören. Da geht das.
Landratsamt hat keine Bedenken
Kattari kündigt an, dass in den neuen Bebauungsplänen Eichelreuth Nord und Eichelreuth Süd, die derzeit aufgestellt werden, das Einzelhandelskonzept samt Sortimentsliste ebenfalls umgesetzt werde. „Es geht dabei ausdrücklich nicht um Bestandsgeschäfte“, versichert Kattari.
Das Landratsamt Traunstein hat keine Bedenken bei diesem Vorgehen. Zwar gebe es eine Rechtssprechung des EuGH zu Einzelhandelsbeschränkungen aus dem Jahr 2018, die lasse aber durchaus zu, dass eine Kommune Einzelhandelskonzepte aufstellt, die außerhalb des Ortszentrums den Verkauf bestimmter Sortimente unterbinden, um den Innenort zu stärken. Die Rechtssprechung sage auch nicht aus, dass die Einzelhandelsbeschränkungen im gesamten Gemeindegebiet gelten müssten – wegen schon bestehender Geschäfte.
Reine Beschränkung auf Zentrum nicht mehr möglich?
Das allerdings sehen Fachleute anders. Weil die Richter am EuGH feststellten, dass die Tätigkeit des Einzelhandels mit Waren eine Dienstleistung im Sinne der EU-Dienstleistungsrichtlinie 2006/123 ist, wie „Standort Kommune“, eine seit Jahrzehnten aktive Beratungsfirma für Händler wie Kommunen, festhält. Zur Rechtssicherheit von Einzelhandelskonzepten müssten diese die Anforderungen aus den Artikeln 14 und 15 der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie erfüllen. Damit müssten sie laut eines Kommentars zur Rechtsprechung durch „Standort Kommune“ in der Tat das gesamte Gemeindegebiet umfassen, unter anderem die Wettbewerbssituation im regionalen Umfeld analysieren, Entwicklungsspielräume für den Handel enthalten und auch Aussagen zu potenziellen Flächenentwicklungen enthalten. Eine reine Beschränkung der zentralen Versorgungsbereiche werde nach Ansicht von „Standort Kommune“ nicht mehr möglich sein.
Das Grassauer Einzelhandelskonzept diene dem Schutz des Innenortes, sagt der Bürgermeister. Thomas und Christina Ager sehen das anders: „Das schützt uns nicht, das behindert uns in unserer Entwicklung.“
