Ehrliches Psychogramm
„Nicht mehr auszuhalten“: Eltern sprechen nach Todesschuss von Grassau über Leben ihres Sohns (†35)
Er ist in der Öffentlichkeit als Geiselnehmer seiner Mutter bekannt, der mit dem Messer auf Polizisten zulief und erschossen wurde. Aber wie war der Mensch, der am 9. Dezember 2024 durch die Kugel eines Polizisten ums Leben kam? Jetzt schildern die Eltern ihren Sohn aus Ihrer Sicht.
Grassau – Für die Öffentlichkeit ist der 35-Jährige bisher nur der Mann, der am Abend des 9. Dezember 2024 seine Mutter in Grassau-Mietenkam als Geisel nahm. Anschließend mit einem Messer auf die in Grassau-Mietenkam anrückenden Polizisten losstürmte und durch eine Kugel ums Leben kam. Für seine Eltern, die das Drama hautnah miterlebten, ist G. aber viel mehr. Und sie fragen sich: Warum musste es zu diesem Drama kommen?
„Nicht mehr auszuhalten“
Sie haben massive Vorwürfe wegen des Einsatz-Ablaufs gegen die Polizei erhoben (das OVB berichtete), weil ihr Sohn aus Ihrer Sicht nicht hätte sterben müssen. Vater und Mutter, die ihren Namen nicht öffentlich lesen wollen, wünschen sich aber auch, dass das Bild ihres Kindes in der Öffentlichkeit geraderückt wird. Sie sprechen in einem Schreiben an das OVB von „Halbwahrheiten“, die verbreitet würden, „um unseren Sohn in einem schlechten Licht dastehen zu lassen und den tödlichen Einsatz der Dienstwaffe durch die Polizei zu rechtfertigen: Deshalb möchten wir dazu Stellung nehmen, denn das ist nicht mehr auszuhalten.“
Die Sicht der Polizei - und der Eltern
Nach Sichtweise der Polizei hatte der durch andere Gewalt-Delikte bekannte Mann seine Mutter als Geisel genommen. Als die in größerer Zahl angerückten Beamten klingelten, soll der Mann die Haustür geöffnet und mit dem Messer sofort auf die Einsatzkräfte losgegangen sein. Danach fiel der Todesschuss. Da bislang kein Verdacht eines Straftatbestandes vorliegt, gilt der Schütze laut derzeitigem Stand der Ermittlungen nur als Zeuge und nicht als Beschuldigter. Gegen den verstorbenen 35-Jährigen wurde laut Staatsanwaltschaft dagegen „ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil des Polizeibeamten, der den Schuss abgegeben hat, eingeleitet.“ So weit die Sicht der Behörden.
Vater und Mutter können diese Einschätzung nicht nachvollziehen. Sie schildern, wie sie das Leben ihres Sohnes R. sahen – mit all seinen Tiefpunkten und Hoffnungsschimmern. Das Ergebnis ist ein subjektives, aber ehrliches Psychogramm eines Mannes, der im Jahr 1989 im rumänischen Arad geboren wurde. Sie erzählen, dass ihr Sohn in jungen Jahren gerne Feiern gegangen sei: „Dabei ist es einige Male passiert, dass er in Streit geraten ist, mit anderen Leuten, die genauso wie er, in Feierlaune waren. Leider hat er beim Eintreffen der Polizei wiederholt Widerstand geleistet und hauptsächlich dafür wurde er zweimal vor mehr als zehn Jahren verurteilt.“
„Jugendliche Fehler“ und eine Zeit der Hoffnung
Die Eltern wollen diese „jugendlichen“ Fehler nicht schönreden (“Es war nicht richtig, was er gemacht hat“), aber sie sprechen von Bagatelldelikten: „Er hat niemanden bestohlen, betrogen, erpresst oder sonstige schweren Vergehen begangen.“ Diese negativen Erlebnisse seien ihm eine Lehre gewesen, es folgte eine Zeit der Hoffnung: „Er hat sich danach so sehr angestrengt von diesem falschen Weg abzukommen und das ist ihm in den folgenden Jahren gelungen. Er ist nicht mehr polizeilich aufgefallen und hat sich von all seinen ‚alten Freunden‘ getrennt, sonst wäre so ein Wandel gar nicht möglich gewesen.“
2020 schloss R. einen Bachelor-Studiengang in Betriebswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München befriedigend ab. Anfang 2024 folgte ein Bachelor-Abschluss in Psychologie an der Paris Lodron Universität Salzburg mit der Endnote „bestanden“. Beide Zeugnisse liegen dem OVB vor. Die Note sehr gut hatte der später Getötete in fünf Fächern, darunter in den Fachgebieten Persönlichkeitspsychologe und Entwicklungspsychologie. R. beschäftigte sich viel mit sich selbst. Der Abschied von den Freunden, so erklären seine Eltern, habe dazu geführt, dass er vor allem in den letzten Jahren „immer depressiver geworden sei.“ Er fühlte sich von der Polizei in Grassau verfolgt.
Arbeitsstelle gekündigt
Nach Abschluss des Psychologiestudiums trat G. im Frühling 2024 trotzdem seine erste Arbeitsstelle an: „Diese wurde ihm Ende November 2024 aus betriebsbedingten Gründen, unter Hinweis auf die wirtschaftliche Lage, leider zum Jahresende gekündigt.“ Er habe einige Bewerbungen verschickt, aber so kurz vor Weihnachten auch einige Absagen bekommen: „Dies hat ihn immer stärker belastet und heruntergezogen. Am Abend des 9. Dezember 2024 war sein Stresspegel dermaßen erhöht und er war so verzweifelt, dass er ganz spontan beschlossen hat, sein Leben beenden zu wollen bzw. getötet zu werden. Er sagte zu seiner Mutter: ‚Heute ist mein letzter Tag.‘“
Nach einem Notruf bei der Polizei, bei der er angab, seine Mutter als Geisel genommen zu haben, starb G. mit einem Messer in der Hand wenig später durch die Kugel eines Polizisten aus der Region. Für die Eltern bleibt die quälende Frage, ob sie oder die Polizei das hätten verhindern können.