Der mit dem Reh tanzt
Fläschchen statt Flinte – ein Siegsdorfer Jäger hat genug vom Töten
Auf einem Hof in Siegsdorf, zwischen Wiesen und Wäldern, herrscht eine Vielfalt wie in einem Zoo – aber mit einem entscheidenden Unterschied.
Siegsdorf – „Jetzt zeig’ ich Ihnen was“, sagt Wolfgang Stephl vor Vorfreude lächelnd, mit einem Blick über die Schulter und öffnet ein hölzernes, von Pflanzen umwuchertes Gatter. Das Tor gibt den Weg zu einem weitläufigen Hinterhof mit großzügigen Volieren und einem Teich frei. „Auf geht’s!“, ruft er nach vorne, zu niemand Bestimmten, aber ein Dutzend verschiedener Rufe antworten ihm und die Luft erfüllt ein Rauschen flatternder Flügel.
Weiße Tauben gleiten herab, Truthähne, Pfaue, Enten und Hühner laufen, watscheln und trippeln herbei – zu Wolfgang Stephl und dem Futter, das er aus einem Eimer auf dem Boden verteilt. In den Volieren warten Dohlen, Raben und andere geflügelte Schützlinge. „Ich hab Uhus gehabt, Turmfalken und Bussarde“, sagt Stephl, „eigentlich schon alle Tiere, die es bei uns so gibt.“
Stephl pflegt sie gesund
Viele der Tiere, wie einige Enten und die Pfaue, sind seine eigenen – andere bekommt er, um sie wieder aufzupäppeln. Die Leute würden ihn im Internet finden oder über Tierärzte oder das Tierheim, sagt der Rentner, „und die bringen dann die Tiere zu mir.“ Manche wenige würden Futterspenden mit den Tieren bringen, den Großteil der Kosten trage er selbst. „Ich pflege sie und wenn sie wieder absolut gesund und flugfähig sind, dann werden sie wieder entlassen“, führt Stephl aus. In einer Voliere spreizt ein Turmfalke seine Flügel. Er soll als Nächstes wieder in die Natur entlassen werden.
Die Auffangstation des Wildtierretters Wolfgang Stephl aus Siegsdorf




Manche Tiere bleiben Stephl auch, wie ein Kolkrabe. Dieser sei von einem Jäger versehentlich verletzt worden und konnte deshalb nicht mehr fliegen, erzählt der Wildtierretter: „Ein altes Jägersprichwort sagt: ‚Wenn du einen Kolkraben schießt, dann überlebst du das Jahr nicht’“, denn in der Mystik habe das Tier einen sehr hohen Stellenwert. Deshalb kam der flugunfähige Vogel zu Wolfgang Stephl, der ihn seitdem in einer eigenen Voliere beherbergt. Bis vor ein paar Jahren, als der Rabe Besuch bekam.
„Kolkraben sind sich ein Leben lang treu“
„Es kam ein zweiter Kolkrabe und wollte unbedingt zu dem anderen rein“, erinnert sich Stephl, „unbedingt.“ Also schnitt Stephl ein Loch in das Gitter - und am nächsten Tag seien die beiden Raben zusammen gesessen. „14 Tage später hatten sie schon ein Nest gebaut.“ Der Tierretter schätzt, dass es das Weibchen gewesen sein muss, das den verletzten Raben nach Jahren wieder gefunden hatte, „denn Kolkraben sind sich ein Leben lang treu. Seitdem haben sie jedes Jahr Junge.“
Nicht alle Tiere, die kommen, schaffen es. Manche sind zu schwer verletzt. Vögel, die von Katzen angefallen wurden, nimmt Wolfgang Stephl nicht mehr auf. Die Wunden seien durch die Bakterien an den Katzenzähnen zu stark infiziert, sagt er, wodurch die meisten Tiere verenden. Auch zwei Störche starben im vergangenen Jahr. „Einer war angeblich schon 36 Jahre alt, den haben mir Leute aus der Nähe von Wasserburg gebracht. Nach drei Monaten Pflege ist er verstorben“, sagt der Rentner. Ein weiterer sei zu dehydriert gewesen, um noch Nahrung aufnehmen zu können. Drei Störche konnte er dieses Jahr wieder gesund pflegen und in Freiheit entlassen.
Vögel und Vierbeiner
Der 70-Jährige weiß, was die Tiere benötigen. Er hat neben Vögeln auch Vierbeiner bei sich. Stundenlang kann er davon erzählen, welche Nahrung seine Schützlinge brauchen, was ihre Besonderheiten und Bedürfnisse sind. Für ein verwaistes Rehkitz lieh er sich einen Haushasen aus, da es Kontakt brauchte. „Das sind die besten Freunde geworden.“ Ein vor kurzem gerettetes Gänsesäger-Küken setzte er zu zwei älteren Wildentenküken, da es von ihnen lernen konnte. „Ohne die Vorbilder hätte es der Gänsesäger schwer gehabt.“
Stephl habe schon von frühester Kindheit die Leidenschaft gehabt, die Tiere zu pflegen, sagt er: „Richtig viel ist es geworden, seitdem ich in Rente bin. Jetzt kann ich meine ganze Zeit den Tieren widmen.“ Andere würden Skifahren gehen, er habe gerne die Tiere am Haus und auf seinen Wiesen. „Gottseidank habe ich eine Frau, die da mitmacht, die sehr tolerant ist und zu dieser Sache steht.“ Stephl hält einen Moment inne, während der Pfau neben ihm einen lauten Ruf ausstößt. „Man braucht auch sehr tolerante Nachbarn“, sagt er schmunzelnd.
Möchte nicht mehr töten
Der Wildtierretter ist auch Jäger – schießen möchte er allerdings nicht mehr. Sein Lieblingsplatz ist eine Bank auf einer erhöhten Holzveranda hinter dem Hof. Von hier aus blickt er auf ein Feld und den dahinter liegenden Wald. Auf der Wiese grasen die Rehe, die er aufgezogen hat. „Es ist einfach eine Leidenschaft, die einen nicht loslässt“, sagt der Mann mit grau-weißem Kinnbart, Capi und Lachfalten um die Augen hinter seiner Brille, „und hoffentlich werde ich hundert Jahre alt, dass ich das weiter machen kann – man hat’s aber nicht in der Hand.“



