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Vorsitzende des Verbands für Kita-Fachkräfte im Interview

„Situation verschärft sich“: Steht das Kita-System in der Region vor dem Kollaps?

Veronika Lindner vom Verband für Kita-Fachkräfte Bayern blickt mit Sorge auf die momentane Situation.
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Veronika Lindner vom Verband für Kita-Fachkräfte Bayern blickt mit Sorge auf die momentane Situation.

Die Prognose ist ernüchternd: In Rosenheim fehlen für das kommende Kita-Jahr mehr als 450 Kita-Plätze - und zahlreiche Fachkräfte. Wie das Problem behoben werden könnte und warum dringend etwas getan werden muss, verrät Veronika Lindner vom Verband für Kita-Fachkräfte Bayern.

Rosenheim - Seit 2021 kämpft Veronika Lindner, Vorsitzende des Verbands für Kita-Fachkräfte Bayern - mit Sitz in Rosenheim - dafür, dass sich die Kita-Situation grundlegend verbessert. Im OVB-Interview spricht sie über die aktuelle Situation, warum es überhaupt einen Fachkräftemangel gibt, und wie dieser ihrer Meinung nach behoben werden könnte.

Vor zehn Jahren haben Sie Ihre Ausbildung zur Erzieherin begonnen. Wie hat sich die Situation über die Jahre verändert?

Veronika Lindner: Im Überblick über die letzten Jahre ist zu erkennen, dass sich die Situation immer weiter verschärft. Auch früher gab es Probleme, Stellen nachzubesetzen. In den letzten Jahren wurde es jedoch noch schwieriger. Das belegen auch zahlreiche Studien. Fachkräfte, die schon länger tätig sind, berichten davon, dass sich der Fachkräftemangel mit der Einführung des Rechtsanspruches auf einen Krippenplatz grundlegend geändert hat. Neben dem Fachkräftemangel gibt es weitere Herausforderungen, die das Fachpersonal beschäftigen. Wichtige und sinnvolle Themen wie Migration, Inklusion und Kinderschutz sind in den letzten Jahren immer wichtiger geworden und binden Ressourcen. Die Zeit dafür, sich grundlegend mit diesen Themen zu beschäftigen, fehlt häufig in den Teams.

Auch die Bürokratie reißt nicht ab.

Lindner: Im Gegenteil. Die Bürokratie wird immer aufwendiger, zum Beispiel durch das Ausfüllen von Beobachtungsbögen und seitenlange Anträge für Förderprogramme. Dazu kommt die Tendenz der Deprofessionalisierung. Es werden immer mehr ungelernte oder nur gering weitergebildete Kräfte in den Kitas beschäftigt. Das lässt die Wertschätzung für unseren wichtigen Beruf sinken.

Hand aufs Herz: Wie dramatisch ist die Situation mit Blick auf den Fachkräftemangel wirklich?

Lindner: Die Situation ist in der Tat in den meisten Einrichtungen dramatisch. Laut dem Fachkräftebarometer 2021 der Bertelsmann Stiftung werden in Bayern bis 2030 45.600 Fachkräfte fehlen. Der aktuelle Ländermonitor frühkindlicher Bildungssysteme, ebenfalls von der Bertelsmann Stiftung, belegt, dass 61 Prozent der Kinder in Gruppen betreut werden, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen. Diese Zahlen sollten die Gesellschaft und die Politik wachrütteln. Doch das geschieht leider zu wenig. Es wird immer weiter ausgebaut und damit der Fachkräftemangel weiter gesteigert.

Was bedeutet das für Sie in der Praxis?

Lindner: In der Praxis fühlen wir uns dem großen Mangel ausgesetzt. Einerseits, wenn Stellen nicht besetzt werden können, aber auch wenn alle Stellen besetzt sind, da trotzdem zu wenig Personal in den Einrichtungen zur Verfügung steht. Die Vorgaben des Landes sind zu niedrig. Wir bräuchten viel mehr Personal als die Mindestvorgaben vorschreiben. Jedoch fehlen den Trägern und Kommunen hier häufig die Mittel, das zu finanzieren. Dazu kommt die komplexe Berechnung des Anstellungsschlüssels, in die Personal eingerechnet wird, obwohl es aufgrund von Urlaub, Krankheit oder Fortbildungen nicht im Haus ist. Auch Leitungsfreistellungen und Vorbereitungszeiten werden meist nicht berücksichtigt. Die Zahlen sehen also noch einmal komplett anders aus als die Relation in der Praxis.

Die Leidtragenden sind häufig die Kinder.

Lindner: In der Praxis erleben wir, dass teilweise Bedürfnisse der Kinder nicht erfüllt werden können, individuelle Förderung meist unmöglich ist, dass Personal zeitweise alleine in den Gruppen ist und dadurch die Aufsichtspflicht und das Kindeswohl in Gefahr sind. Die Alternative dazu ist, die Gruppen zeitweise zu schließen. Das geschieht nun immer mehr dank der Notfallpläne für personelle Ausfälle, die zunehmend mehr etabliert werden, um die Kinder und das Fachpersonal zu schützen.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, um den Fachkräftemangel in Bayern zu beseitigen?

Lindner: Es muss an vielen Faktoren gearbeitet werden. Da die Situation so dramatisch ist, reicht es nicht mehr aus, nur kleine Punkte zu verändern. Deshalb haben wir 14 Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen, die den Fachkräftemangel zu einem großen Teil beheben würden. Darunter die Verbesserung der Rahmen- und Arbeitsbedingungen, die Überarbeitung der Ausbildungskonzepte, das Einsetzen von Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräften, Stundenbegrenzung bei Kita-Rechtsanspruch, höhere staatliche Förderungen für Familien sowie Anreize zur Berufswahl.

Was sind die größten Strapazen für die Erzieher während des Kita-Alltags?

Lindner: Am herausforderndsten sind Situationen, in denen ein hoher Personalmangel besteht und man gegen seine eigene Haltung und Überzeugung arbeiten muss, da die Zustände es zum Beispiel oft nicht zulassen, individuell und bedürfnisorientiert zu arbeiten. Wenn dann noch Stressfaktoren wie Eingewöhnungen neuer Kinder, Einarbeitung von neuem Personal, Elterngespräche ohne Zeit für ausreichend Vorbereitung, Konflikte in den Teams oder mit Eltern und Aufgaben wie Küchendienst und Verwaltungsarbeiten hinzukommen, kann dies sehr belastend sein. Auch fehlende Zeit für Vorbereitungen, Fortbildung und Teamarbeit ist ein Stressfaktor und lässt die Qualität sinken.

Woran glauben Sie liegt es, dass es überhaupt einen Fachkräftemangel gibt?

Lindner: Das hat verschiedene Gründe. Der größte Grund ist meines Erachtens die gesellschaftliche Entwicklung, dass immer mehr Kinder Kitas besuchen und das meist auch für eine immer längere Zeit, vor allem in den Städten. Der Krippenanspruch und der damit einhergehende Neubau und Ausbau von Einrichtungen hat den hohen Fachkräftemangel ausgelöst. Dazu kommt, dass im Berufsfeld viele Frauen arbeiten, die eigene Kinder bekommen und dann häufig für längere Zeit ausfallen oder nur in Teilzeit zurückkommen. Aufgrund der hohen Belastung und der fehlenden Wertschätzung gibt es auch immer mehr gut qualifiziertes Personal, das Stunden reduziert oder das Berufsfeld ganz verlässt und sich neu orientiert. Das reißt eine weitere Lücke.

Viele Vorschläge des Verbands, den Fachkräftemangel zu beseitigen, können zum Teil nur von der Landespolitik umgesetzt werden. Gibt es kurzfristige Wünsche und Vorschläge an die kommunale Politik?

Lindner: Der Wunsch an die Kommunen ist, dass alles in deren Macht stehende getan wird, um die Kitas in deren Kommune zu unterstützen, und Vorgaben zu machen, die Qualitätsverbesserungen ermöglichen. Das beginnt bereits beim Bau von neuen Einrichtungen. Zum Beispiel. wenn die Räume größer geplant werden, als die Mindestvorgaben es vorgeben. Dazu kommt die Möglichkeit, Defizitausgleiche mit den Trägern zu vereinbaren. Wenn die Kommunen die Defizite übernehmen, welche nicht vom Träger und den landesweiten Fördergeldern gedeckt werden, erleichtert dies die Arbeit und Investitionen. Kommunen können darüber hinaus auch Vorgaben machen wie einen Mindestpersonalschlüssel - und Vorgaben, wie die Umsetzung von Notfallplänen für Personalmangelsituationen oder den Einsatz von Springern. Auch finanzielle Anreize wie eine Arbeitsmarktzulage können finanziert werden.

Was noch?

Lindner: Der Druck auf die Kitas kann verringert werden, wenn die Kommunen außerordentliche Genehmigungen für zusätzliche Kinder in den Kitas ablehnen und anerkennen, dass Kinder mit höherem Förderbedarf mehr Plätze belegen. Die Kommune kann zudem ihren Einflussbereich nutzen, um die Landespolitik darauf hinzuweisen, dass das Kita-System grundlegend verbessert werden muss. Wenn die Kommune selbst Träger von Einrichtungen ist, hat sie darüber hinaus weitere Möglichkeiten, wie auch andere Träger in Sachen Verbesserung der Arbeits- und Rahmenbedingungen.

In Rosenheim gibt es jetzt eine Wohnraum-Offensive für Erzieherin. Ein guter erster Schritt?

Lindner: Die Unterstützung bei der Suche nach Wohnraum ist sicherlich hilfreich für Personen, die zuziehen oder vom Elternhaus ausziehen möchten. Ob dies dazu führt, dass sich sehr viel neues Personal bewirbt, sehe ich zwiespältig. Mehr entlasten würde es das gesamte Personal sicher, wenn sie allgemein einen Wohnzuschuss oder eine Arbeitsmarktzulage erhalten würden. Zudem sollte auch bedacht werden, dass viele Bewerber wert auf gute Bedingungen und Qualität in den Einrichtungen legen. Auch hier kann die Kommune unterstützen.

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