Dr. Wolfgang Hierl im OVB-Exklusivinterview
Corona unter „Konkurrenzdruck“: Warum die Pandemie nicht mehr die Sorge Nummer eins ist
Dr. Wolfgang Hierl, Chef des Gesundheitsamts in Rosenheim, verrät im OVB-Exklusivinterview, ob das Corona-Virus auf dem Rückzug ist, was er von den Lockerungen der Corona-Regeln und von Gesundheitsminister Karl Lauterbach hält. Dabei spricht er auch die hohe Impfskepsis in der Region Rosenheim an.
Rosenheim - Nach der Pandemie ist vor der Epidemie: Gesundheitsamtschef Dr. Wolfgang Hierl vom Staatlichen Gesundheitsamt Rosenheim spricht im OVB-Exklusivinterview über Corona und RSV. Dabei verrät er auch, ob es ihn immer noch ärgert, dass viele Menschen in der Region Rosenheim so impfskeptisch sind.
Was machen Sie jetzt? Corona scheint doch vorüber zu sein.
Dr. Wolfgang Hierl: Wir können uns nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Momentan haben wir viel zu tun mit Gemeinschaftsunterkünften, Asylbewerbern, unbegleiteten Flüchtlingen, die in Stadt und Landkreis weitgehend in Hallen untergebracht sind. Jetzt, während der Erkältungswelle, gibt es einiges an Erkrankungen dort. Wir hatten in einer Halle einen Windpocken-Ausbruch, mit dem wir noch immer beschäftigt sind. Organisiert werden müssen auch die Gesundheitsuntersuchungen, sprich die ganzen Röntgenaufnahmen, oder bei den 15- bis 18-Jährigen Blutabnahmen und sogenannte Igra-Tests für die Tuberkulose-Diagnostik. Bei den unbegleiteten Jugendlichen machen wir auch die körperliche Untersuchung, weil die Kinderarztpraxen bereits zurückgemeldet haben, dass sie bis zum Anschlag voll sind.
Sind Sie mit den weitestgehenden Lockerungen der Corona-Regeln eigentlich einverstanden?
Hierl: Ich habe hier mal die Diagramme mit den Inzidenzzahlen vorbereitet. Hier sehen Sie die erste Welle, die uns so heftig gefordert hat. Hier sehen Sie die Welle Anfang 2022, wo wir noch ganz andere Zahlen hatten. Und hier nochmals eine im Herbst. Aber ich denke, nach dieser „Herbstfestwelle“ sind wir in einem Tal. Es geht nicht mehr weiter runter, aber auch nicht mehr nach oben. Die Winterwelle, die ich selbst befürchtet hatte, ist ausgeblieben. Momentan steht das Corona-Virus unter starkem „Konkurrenzdruck“ mit den anderen zirkulierenden Erregern von Atemwegserkrankungen. Das Virus hat die Ansteckungsfähigkeit immer weiter vergrößert, aber die Krankheitsschwere hat deutlich abgenommen. Und die Bevölkerungsimmunität ist natürlich auch gewachsen. Summa summarum hat die Staatsregierung Recht, denke ich. Es gibt Menschen, die schwere Verläufe erleiden können. Aber die sind aufgerufen, sich selber zu schützen. Dass sich die gesamte Bevölkerung zurücknimmt, um die vulnerable Gruppe zu schützen, steht nicht mehr dafür. Das kann sich natürlich ändern, wenn eine bedrohliche Variante auftaucht.
Deutet darauf etwas hin?
Hierl: Ich schaue mir regelmäßig die Berichte des RKI an. Da sehe ich keinen Kandidaten, der sich „anpirscht“. Ich denke, das Virus steht in Konkurrenz um die Wirte mit anderen Viren wie Influenza und RSV.
Die Zahlen der Geimpften sagen nicht mehr viel aus
Dabei waren Sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren der Rufer in der Wüste. Wie ist das, wenn man dauernd warnt, aber die Menschen nur bedingt darauf hören?
Hierl: Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, dass die Menschen im Alpenvorland und speziell der Region Rosenheim sehr zurückhaltend sind, was das Impfen anbelangt. Nicht nur bei Corona. Damit muss man als Arzt leben lernen. Dennoch muss man immer wieder den Finger in die Wunde legen. Mittlerweile sagen die Zahlen der Geimpften alleine auch nicht mehr viel aus, sie müssen zusammen mit den vielen Infektionen gesehen werden. Impfen plus Infektion ergibt eine solide Immunität. Über die Impfquoten muss man sich nicht mehr ärgern.
Würden Sie eigentlich gern mit Gesundheitsminister Lauterbach tauschen? Endlich ein Arzt, der dem Patienten wirklich eine Kur vorschreiben kann.
Hierl: Ich halte sehr viel von Karl Lauterbach, und das schon seit Jahren. Ich würde aber nie tauschen wollen. Ich war sieben Jahre lang im bayerischen Gesundheitsministerium, auch als Referatsleiter im Bereich öffentlicher Gesundheitsdienst, Infektionsschutz und Hygiene. Ich kenne das Arbeiten in einem Ministerium, mir hat die Arbeit Spaß gemacht, ich bin aber trotzdem gerne von München wieder an die Peripherie ins Rosenheimer Gesundheitsamt gegangen, und auch nach Berlin würde mich gar nichts ziehen.
„Ich habe immer versucht, auf Fragen von Bürgern zu antworten“
Karl Lauterbach wurde und wird immer wieder zur Zielscheibe von Beschimpfungen. Wie war das bei Ihnen?
Hierl: Ich habe immer versucht, auf Anfragen von Bürgern zu antworten, solange die Schreiben oder E-Mails einigermaßen konstruktiv und nicht zu beleidigend waren. Wenn mich jemand unflätig beschimpft, dann landet das Schreiben gleich im Papierkorb.
Hat Ihnen das zu schaffen gemacht?
Hierl: Nein. Man muss ja auch sehen, dass die Menschen in so einer Pandemie-Zeit viel Kommunikationsbedarf haben. Die haben Fragen, etwa nach der Quarantänebescheinigung oder dem Kontakt-Management. Im Winter 20/21 hatten wir 1000, manchmal 2000 Fälle pro Tag - da konnten wir das nicht immer so leisten, wie sich das die Menschen vorstellen. Das tut mir leid, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass manchmal was liegen blieb.
„Es waren schreckliche Zustände in der Region Rosenheim“
Lauterbach neigt zu Schnellschüssen, musste ab und zu zurückrudern. Gab es Maßnahmen, die Sie später lieber zurückgenommen hätten?
Hierl: Man hat keine Glaskugel zur Hand. Rückblickend sieht man natürlich manche Dinge anders. Aber in der Situation selbst stellt sich das alles anders dar. Wie viel Schelte hat die Bayerische Staatsregierung für ihr Ausgangsverbot während der ersten Welle abbekommen. Aber es waren in der Region Rosenheim so schreckliche Zustände, wir hatten so viele Todesfälle, teilweise mehr als die Landeshauptstadt. Mir ist himmelangst geworden. Wir haben viele Altenpflegeeinrichtungen und Behinderteneinrichtungen. Senioren und Hochbetagte sind eben besonders gefährdet. Und es hat an allen Ecken und Enden an Hygienematerial gefehlt. Desinfektionsmittel, da gab es Rezepte zum Selbermischen. Oder die Masken, die man über Nacht lagerte und trocknete, um sie am nächsten und übernächsten Tag erneut verwenden zu können. Was uns damals geholfen hat, war in erster Linie die Ausgangssperre der Staatsregierung.
Ich fand‘s furchtbar.
Hierl: Man hätte es vielleicht mit milderen Maßnahmen schaffen können. Auf jeden Fall aber sind die Zahlen dramatisch nach unten gegangen. Die extrem schwierige Situation in den Einrichtungen hat sich dann wieder beruhigt. Selbstverständlich war das für alle eine große Einschränkung. Man weiß nun auch, die rigide Schließung von Kitas und Schulen war äußerst schwierig für die Kinder. Zu der Zeit war man der Meinung, die Infektionslast muss in der gesamten Bevölkerung gesenkt werden. Heute weiß man, dass in Schulen und Kitas keine Super-Spreader-Ereignisse stattgefunden haben.
„Wir haben alle dazugelernt“
Eltern und Schulpsychologen machen auf die Schäden durch fehlende Kontakte und Fernunterricht aufmerksam. Viele Kinder sind depressiv oder fettleibig geworden. Wird uns da die Zeche noch präsentiert?
Hierl: Meine Meinung: Ja, diese Sekundärfolgen werden uns noch länger begleiten.
Auch die heuer verfrühte Grippewelle führen Fachleute auf die Pandemie zurück.
Hierl: Da ist mit Sicherheit was dran. Die Immunitätslage auch bei Kindern ist schlechter, weil sie isoliert waren oder im Unterricht Maske getragen haben. Es war die erste Pandemie der neueren Geschichte, in der wir alle dazugelernt haben.
Wie gut wären wir denn auf eine weitere Pandemie vorbereitet?
Hierl: Ich kann nur fürs Gesundheitsamt sprechen. Da haben wir ein deutliches Mehr an Personal erhalten. Von den Mitarbeitern wird ein großer Teil vor allem im Contact-Tracing-Bereich im Sommer gehen müssen, aber wir haben auch zusätzliches Fachpersonal erhalten. Und wir haben einiges in Richtung Digitalisierung unternommen. Da ist viel geschehen. Der Bund hat ein Projekt gestartet, in dem viele Fördergelder freigegeben werden. Ich hoffe trotzdem, dass wir viele Jahre von einer nächsten Pandemie verschont bleiben. Wir alle, die mit der Bekämpfung der Pandemie zu tun hatten, sind von den drei Jahren sehr, sehr stark mitgenommen. Es wäre fatal, wenn die Welle im neuen Jahr wieder hochschießt.
Was hat denn das Respiratorische Synzytal-Virus (RSV) für ein Gefährdungspotenzial?
Hierl: Für RSV gibt es keine Meldepflicht, ich kann das also anders als bei der Grippe nicht mit Zahlen unterlegen. Wir stehen nur in regelmäßigem Kontakt mit der Kinderklinik bei Romed. Und ich höre schon, dass Säuglings-, Kinder- und Intensivstation stark unter Druck stehen. Wie weit das geht? Das traue ich mich nicht zu prognostizieren. Ich hoffe, dass die Welle nach Weihnachten abklingt.
„Fataler Domino-Effekt beim Personal“
Die vielen gleichzeitigen Krisen, von Corona bis hin zur Inflation - gefährden diese Probleme unser Gesundheitssystem?
Hierl: Mit Sicherheit. Wir sind in Deutschland eigentlich gut aufgestellt, wurden auch mitunter dafür kritisiert, dass das sehr teuer sei. Die Krisen haben uns aber gezeigt, es ist gut, dass wir so gut aufgestellt sind und noch Reserven hatten. Insofern habe ich Hoffnung, dass wir unbeschadet durch den Winter kommen. Wie es aber weitergeht? Das weiß ich nicht. Aber die Lage an den Kliniken ist schwierig. Beim Personal haben wir auch einen Domino-Effekt. Durch Corona und andere Infektionskrankheiten fällt Personal aus, die Arbeit verteilt sich auf weniger Schultern, die Last steigt, und daraufhin streicht der eine oder andere mehr die Segel. Auf je weniger Schultern sich die Arbeit verteilt, desto schwieriger wird es.
Minister Karl Lauterbach hat eine Reform angekündigt. Weniger Verweildauer in Krankenhäusern und so fort, vielleicht sogar weniger Krankenhäuser.
Hierl: Ob wir zu viele Krankenhäuser haben, vermag ich nicht zu sagen. Kosten zu reduzieren, war ja das Ziel der DRGs und der Fallpauschalen. Und die Entwicklung war fatal. Wo kann ein Krankenhaus sparen? Einsparen kann man in erster Linie beim Personal. Ergebnis ist jedenfalls eine Fehlentwicklung aufgrund zu starker Ökonomisierung. Und der versucht der Gesundheitsminister gegenzusteuern.
Herr Dr. Hierl, wir danken für das Gespräch.
