Mehr Unglücke in der Region
Motorrad-Unfälle: Helm abnehmen, oder nicht? Tipps vom Rosenheimer Unfallchirurgen
Helm ab, oder nicht? Wer als Ersthelfer zu einem Motorrad-Unfall kommt, muss sich diese Frage stellen. Im exklusiven OVB-Interview erklärt Dr. Christian Zeckey, Chefarzt der Unfallchirurgie im Klinikum in Rosenheim, wie man richtig handelt und welche Rolle die Schutzkleidung bei Unfällen spielt.
Rosenheim – Samerberg, Kesselberg, Sudelfeld: Beliebte Motorrad-Strecken in der Region machen immer wieder Schlagzeilen. Allerdings negative. Denn wo viele Fahrer unterwegs sind, kommt es auch häufig zu Unfällen. Wie schwer die Verletzungen dabei ausfallen, hängt von vielen Faktoren ab, wie Dr. Christian Zeckey, Chefarzt der Unfallchirurgie und Orthopädie im Romed-Klinikum Rosenheim, erklärt. Im exklusiven OVB-Interview spricht er darüber, welche Rolle die Schutzkleidung spielt und was Ersthelfer unbedingt beachten sollten.
Die Zahl der Motorradfahrer ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Wie sieht es mit der Zahl der Unfälle aus?
Zeckey: Hier in der Klinik liegen wir nach unseren Traumaregisterdaten etwas höher als der Bundesdurchschnitt. Die Daten für unseren Standort in Rosenheim zeigen, dass wir im bundesweiten Durchschnitt 0,7 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt liegen. Wir haben in Deutschland circa fünf Millionen motorisierte Zweiräder und davon gibt es jährlich circa 9.000 schwerverletzte Fahrer. Tödlich enden jährlich rund 500 Unfälle in Deutschland. Zum Vergleich: Wir haben knapp 50 Millionen zugelassene PKW – dagegen gibt es „nur“ 1000 tödliche Unfälle. Das Risiko, bei einem Unfall mit dem Motorrad tödlich zu verunfallen, ist – je nach Statistik – vier bis sechsmal so hoch wie beim PKW.
Mehr Motorradunfälle in der Region?
Gibt es also hier in der Region auch mehr tödliche Motorradunfälle?
Zeckey: Im Bereich des Polizeipräsidiums Oberbayern Süd hatten wir im Jahr 2022 insgesamt 30 tödliche Motorradunfälle. In Relation zu den 500 tödlich verunglückten in ganz Deutschland sind das sechs Prozent alleine hier in unserem Raum. Das empfinde ich als relativ viel.
In welchem Alter sind die Verunfallten meist?
Zeckey: Die höchste Unfallrate liegt bei den jüngeren Fahrerinnen und Fahrern bis zum Alter von 25 Jahren circa. Zudem verunfallen Männer häufiger als Frauen, was aber sicherlich auch daran liegt, dass deutlich mehr Männer Motorrad fahren.
Welche Rolle spielt die Schutzkleidung?
Zeckey: Es gibt ja gewisse gesetzliche Vorgaben. In Deutschland ist nur der Helm Pflicht. Dieser reduziert den aktuellen Daten zufolge um knapp 40 Prozent tödliche Verletzungen. Das ist enorm. Und das sind nur die tödlichen Verletzungen. Das bedeutet, der Prozentsatz an nicht tödlichen Schädelhirnverletzungen wird natürlich um ein Vielfaches mehr gesenkt.
Motorradunfälle: So viel macht die Schutzkleidung aus
Und wie ist es mit der übrigen Schutzkleidung? Also Jacke, Hose, Schuhe, Handschuhe: Werden die auch getragen?
Zeckey: Nicht alle Personen fahren voll ausgerüstet. 90 Prozent tragen Handschuhe. 85 bis 90 Prozent tragen eine Schutzjacke. 70 Prozent tragen Motorradstiefel und nur 60 Prozent eine Motorradhose, beziehungsweise die Kombinationen. Besonders die Jacke und die Stiefel schützen enorm. Schwere Verletzungen können durch die Jacke um über 50 Prozent, insbesondere in der Kombination mit Handschuhen reduziert werden. Motorradhosen reduzieren ebenfalls das Risiko – besonders für Weichteilverletzungen. Stiefel können sogar Frakturen reduzieren, nach publizierten Daten um bis zu 60 Prozent. Das ist eigentlich auch logisch, da man ja auf dem Motorrad keine Knautschzone hat. Durch die Schutzkleidung baut man sich diese quasi selbst auf. Daher ist Schutzausrüstung mit internen Verstärkungen noch wirksamer.
Welche Rolle spielt der Rückenprotektor?
Zeckey: Der Rückenprotektor hilft besonders bei Anprallverletzungen, jedoch nicht in Stauchungssituationen. Heißt: Beim Sturz auf den Po oder Sturz vorne über den Lenker, mit dem Kopf voraus, kann der Rückenprotektor nicht helfen. Wenn man aber beispielsweise auf den Bordstein aufprallt, kann die Kraft über den Protektor abgeleitet werden.
Was sind die typischen Verletzungsbilder bei Motorradunfällen?
Zeckey: Das kommt etwas auf die kinetische Energie und den Unfallmechanismus an. Die Verletzungen im Stadtverkehr beziehen sich meistens auf die Extremitäten. Ein Beispiel hierfür wäre ein Sturz im Stand an der Ampel. Die höheren energetischen Traumen hat man immer dann, wenn es zum abrupten Stopp durch ein Hindernis wie ein Auto oder einen Baum kommt. Bei all diesen Stopp-Unfällen sehen wir sehr häufig Verletzungen vom Becken. Das ist die sogenannte Open-Book-Verletzung. Denn die Motorradfahrer sitzen auf dem Motorrad und vor ihnen ist der Tank. Da sehen wir relativ regelmäßig schwere Beckenverletzungen mit massiven Blutungen oder Langschaftfrakturen wie Ober- oder Unterschenkel. Auch die Wirbelsäule ist häufig verletzt. Zusätzlich kommt es – je nach Unfallhergang – auch oft zu Handgelenksverletzungen, wenn der Fahrer es noch schafft, sich abzustützen.
Helm abnehmen, oder nicht? Das rät der Chirurg
Was raten Sie Ersthelfern an einer Motorrad-Unfallstelle: Helm abnehmen, oder nicht?
Zeckey: In Deutschland braucht jeder, der einen Führerschein macht, einen Erste-Hilfe-Kurs und dort lernt man auch die Helmabnahme. Deswegen rate ich: Nehmen Sie bei vital gefährdeten Patienten den Helm ab, so wie Sie es auch in dem Kurs gelernt haben. Es hilft am Ende überhaupt nichts, wenn der Mensch darunter Schwierigkeiten mit der Atmung hat, oder gar bewusstlos ist, und der Helm ist drauf. Erste Priorität ist es, die Atmung zu sichern.
Bei vielen ist der Erste-Hilfe-Kurs allerdings schon lange her. Viele haben sicherlich auch Angst, gerade im Bereich der Halswirbelsäule einen Schaden anzurichten.
Zeckey: Das Leben geht vor allen anderen Dingen. Wenn jemand bewusstlos ist, dann kann man keine stabile Seitenlage machen, wenn der Helm noch getragen wird, es besteht die Gefahr des Erstickens. Wenn man den Helm vorsichtig abnimmt und den Kopf gut stabilisiert, ist die Gefahr eines Schadens durch die Helmabnahme geringer als das potenzielle Risiko des Erstickens. Aber diese Angst vor einer Verletzung der Halswirbelsäule kann man den Menschen kaum nehmen. Es geht in diesem Moment um das Überleben.
Wie ist es, wenn der Verunfallte ansprechbar ist?
Zeckey: Wenn er sprechen kann und es ihm gut geht, kann man den Helm dran lassen, wenn man sich beim Abnehmen unwohl fühlt. Aber bei bewusstlosen Patienten ist es ganz klar: Der Helm muss ab. Was man auch nicht vergessen darf: Hilfe kann nur kommen, wenn man auch den Notruf absetzt. Wenn man alleine ist, sollte das die erste Handlung sein.
Ihr Tipp für Ersthelfer?
Zeckey: Trauen Sie sich. Wir brauchen keine Gaffer. Wir brauchen keine Zuschauer. Wir brauchen Leute, die Beistand leisten und helfen.
