Neue Groko in Berlin
Großer Wurf oder Reinfall? Was Politiker aus der Region zum Koalitionsvertrag sagen
Sechs Wochen wurde in Berlin verhandelt, das Ergebnis ist ein Koalitionsvertrag, der Deutschland den Weg durch historisch fordernde Probleme bahnen soll. Reinfall oder großer Wurf? Wir fragten Politiker aus der Region um Rosenheim.
Rosenheim – Gut sechs Wochen nach der vorgezogenen Bundestagswahl (23. Februar 2025) steht er, der Koalitionsvertrag. Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) sowie Lars Klingbeil und Saskia Esken (SPD) stellten das Dokument in Berlin vor.
Die Rosenheimer CSU-Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig zeigte sich zufrieden: „Der Koalitionsvertrag, der nun als Basis für unsere Regierungsarbeit auf dem Tisch liegt, trägt nicht nur die deutliche Handschrift der Union, sondern insbesondere auch die der CSU.“
Daniela Ludwig: Wende in der Migrationspolitik
Zum Schutz der Grenzen und für die Wiederherstellung der inneren Sicherheit werde es einen klaren Wechsel in der Migrations- und Asylpolitik geben. Auch bei wirtschafts- und steuerpolitischen Themen habe die Union die Vereinbarung geprägt. „Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger, Rentner und die Unternehmen. Das Bürgergeld wird abgeschafft, um mit einer neuen Grundsicherung die richtigen Anreize zu setzen“, sagte Ludwig, „wir zeigen damit: Leistung lohnt sich wieder“.
Auch mit Steuersenkungen und Mütterrente habe die CSU Versprechen durchgesetzt. Die Rahmenbedingungen für Unternehmer würden verbessert, unter anderem mit einem Sofortprogramm zum Bürokratieabbau. Insgesamt hätten sich die harten Verhandlungen ausgezahlt, sagt die Rosenheimerin, die als eine der Chef-Verhandlerinnen am Zustandekommen beteiligt war. Der Vertrag werde halten, „was wir versprochen haben“. Wird Daniela Ludwig in erster Reihe an der Umsetzung mitarbeiten? Ihr Name fällt immer wieder, wenn es um die Besetzung der Ministerposten geht. Personalentscheidungen sollen aber erst nach der Mitgliederbefragung der SPD bekanntgegeben werden.
Auch Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (CSU) gilt als Kandidatin fürs Bundeskabinett. Derzeit kursierende Nachrichten bezeichnet sie als reine Spekulation. „Das ist überhaupt noch nicht entschieden“, sagt die Reichenhallerin. „Der Parteivorsitzende wird zu gegebener Zeit ein stimmiges Personaltableau präsentieren.“
Traunsteins Ex-Landrat Siegfried Walch, nun für die CSU im Bundestag, äußerte sich zufrieden. Der Vertrag sei „ein Kompromiss, aber unsere zentralen Anliegen sind klar enthalten“. Auch CSU-Generalsekretär Martin Huber aus Töging äußert sich gut gelaunt. Der Koalitionsvertrag sei ein „Pakt für ein modernes, sicheres und stabiles Deutschland“, schrieb Huber auf X. „Wir setzen auf Freiheit und Verantwortung, belohnen Leistung und schaffen Fairness beim Sozialstaat.“ Die illegale Migration werde begrenzt, die Bundeswehr gestärkt und die Wirtschaft in Schwung gebracht
Gürpinar: Vertrag ist Makulatur
Ates Gürpinar aus Rosenheim sitzt für die Linke im Bundestag. Er hat den Koalitionsvertrag unter anderem auf den Brenner-Nordzulauf hin abgeklopft und wurde auf Seite 27 indirekt fündig: „Am bestehenden Bundesverkehrswegeplan und den Verfahren zu seiner Aufstellung und Überprüfung halten wir fest, ebenso am Grundsatz ,Erhalt vor Neubau‘“, steht da zu lesen. Dieser letzte Halbsatz, findet Gürpinar, rechtfertige eine erneute Brenner-Diskussion, „wir können schauen, ob die Prüfung der Pläne ernstgenommen wird“.
Alle Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Das steht auf Seite 51 des Vertrages. Für Gürpinar sind das entscheidende Worte. Es sei der Satz, der den Vertrag zu „Makulatur“ macht. „Der Satz bedeutet: ,Es kann sein, dass wir diesen Vertrag nicht halten‘“, sagt Gürpinar. „Man kann sich fragen, wann in den nächsten drei Jahren welche Koalitionsvereinbarung gebrochen wird.“ Denn die Mittel seien knapp. Wenn man sich die Fülle der Herausforderungen ansehe, dabei bedenke, dass das Sondervermögen auf zwölf Jahre verteilt werde, stelle man fest, dass zu wenig Geld da sei, auch für die Bereiche, in denen sich die Menschen abgehängt fühlten.
Junge Union als kritischer Begleiter der Millliarden-Schulden
500 Milliarden Euro sollen als Sondervermögen aufgenommen werden, Schulden also, die auch die kommenden Generationen mittragen werden. Der Beschluss wurde noch vom alten Bundestag gefasst, in den Koalitionsverhandlungen ging es auch um die Verteilung.
Matthias Eggerl, Kreisvorsitzender der Jungen Union Rosenheim-Land, sieht die Koalitionsvereinbarungen insgesamt als „solide“ an. Viel sei erreicht worden, er nannte als Beispiel sieben Prozent für die Gastronomie, Senkung der Unternehmenssteuer, zumindest dem Versprechen der Entbürokratisierung, ein vereinfachter Zugang zum Kapitalmarkt für Start-ups und die Migrationswende.
Natürlich seien Schulden immer kritisch zu begleiten. „Wir als Junge Union setzen uns immer für solide Finanzen ein“, sagte Eggerl dem OVB. „Wenn das tatsächlich mit Reformen verbunden ist, ist es in Ordnung.“ Die Aufregung darüber sei ein wenig hochgekocht, es handele sich ja um 500 Milliarden für immerhin zwölf Jahre.
Bilge: Enttäuschte Hoffnungen
Leyla Bilge, die für die AfD angetreten war, den Einzug in den Bundestag aber verpasst hatte, sieht Merz unter Druck. „Die Wähler sind betrogen worden. Sie hatten Hoffnungen in die CDU/CSU, die nun linksradikalen Kräften gegenüber eingeknickt sind.“ Die AfD sei nach aktuellen Umfragen stärkste Kraft, das sage alles.
Noichl: Kombination, die Deutschland voranbringt
Maria Noichl (SPD) saß am Verhandlungstisch. Am Tag nach der Verkündung des Koalitionsvertrages meldete sie sich wieder von Brüssel aus. Die Europaparlamentarierin fühlt sich durch die Vereinbarung an ein „Schwarz-Weiß-Gebäck in der Weihnachtszeit“ erinnert – als Kombination verschiedener Vorstellungen: „Ich hoffe, dass das Miteinander verschiedener Ideen Deutschland vorwärtsbringt.“ Ein Beispiel sei die Rückvergütung von Agrardiesel, die Bauern auch in der Region zugutekomme, und der höhere Mindestlohn, der nicht zuletzt Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen entgegenkomme.
Keinen Aufbruch, kein Signal für die Zukunft sieht die Grünen-Abgeordnete Victoria Broßart. Der Koalitionsvertrag enttäusche, er sei schon jetzt dazu „verurteilt, an der Realität zu scheitern“. Alles stehe unter dem Vorbehalt, überhaupt Geld im Haushalt dafür auftreiben zu können. „Das ist bei vielen Punkten trotz Sondervermögen jetzt schon unrealistisch.“ Zwar würden Impulse für die Wirtschaft gesetzt, „doch hauptsächlich gibt es Geschenke für Lobbygruppen und Reiche. Die normalen Bürgerinnen und Bürger profitieren kaum.“ Zudem sollen viele gesellschaftliche Errungenschaften zurückgedreht werden. Die einseitige Abhängigkeit vom Auto werde zudem weiter gefördert, „Fuß- und Radverkehr kommen praktisch nicht vor“.
Andere Prioritäten setzt Michaela Kaniber. Gerade „für uns in Südostbayern“ sei die Einigung in Berlin wichtig, angefangen bei der Sicherung von Arbeitsplätzen in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft. „Wenn wir aus der Krise kommen, hilft das nicht nur den Beschäftigten, sondern bringt auch Wertschöpfung in die Region.“
Die neue Bundesregierung stärke Tourismus und Gastronomie - „für uns im Alpenraum enorm wichtig“. Und als Grenzregion sei Südostoberbayern natürlich immer von illegaler Migration und organisierter Kriminalität betroffen. Ministerpräsident Söder habe zu Recht betont, dass Bayern das sicherste Land sei. Deshalb sei es zu begrüßen, wenn der Bundesinnenminister von der CSU gestellt werde. „Innere Sicherheit ist bayerische Kernkompetenz.“








