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Erreger der Kinderlähmung im deutschen Abwasser gefunden: So groß ist die Gefahr in der Region
In München, Köln, Bonn und Hamburg wurden bei Untersuchungen von Abwasserproben Polio-Erreger nachgewiesen. Das gab das Robert-Koch-Institut (RKI) vor wenigen Tagen bekannt. Zu der Lage in der Region äußert sich jetzt Dr. Wolfgang Hierl, Leiter des Rosenheimer Gesundheitsamtes.
Rosenheim – Dr. Wolfgang Hierl lässt sich nur selten aus der Ruhe bringen. Als Leiter des Gesundheitsamtes muss man diese Eigenschaft wahrscheinlich mitbringen. Denn beunruhigende Nachrichten über Erreger und neu entdeckte Krankheiten bekommt er immer wieder zu hören. So erst vor einigen Tagen, als das Robert-Koch-Institut bekannt gab, dass in den Abwasserproben von Kläranlagen sieben deutscher Städte Polioviren nachgewiesen wurden.
Hochansteckender Erreger
Der Polio-Erreger ist hochansteckend. Er wird mit dem Stuhl ausgeschieden und vorwiegend durch Schmierinfektionen übertragen. Schlechte hygienische Verhältnisse begünstigen die Ausbreitung von Poliovirus-Infektionen. Die Zeit zwischen Ansteckung und Erkrankung beträgt in der Regel drei bis sechs Tage.
Erste Symptome einer Erkrankung sind Fieber, Magen-Darm-Beschwerden sowie Hals- und Kopfschmerzen. „Bei jedem 100. bis 1.000. Infizierten kommt es zu bleibenden, schlaffen Lähmungen der Arm- oder Beinmuskulatur, schlimmstenfalls auch der Sprech-, Schluck- oder Atemmuskulatur“, erklärt Hierl. Zu den Komplikationen zählen bleibende Lähmungen, Muskelschwund, vermindertes Knochenwachstum sowie eine Gelenkzerstörung. Weder die Erkrankung selbst noch das Post-Polio-Symdrom können behandelt werden. „Man kann die Symptome nur lindern“, sagt Hierl.
Kein Grund zur Sorge
Grund zur Sorge gibt es laut dem Experten aber trotzdem nicht. „Es gibt keinen Grund für übertriebene Angst“, sagt er auf OVB-Anfrage. So habe man in Deutschland nicht nur ein hervorragendes Gesundheitssystem, sondern auch einen hohen Hygienestatus. „Das Risiko von Ausbrüchen mit Kinderlähmung ist daher als gering einzuschätzen“, sagt er.
Laut Hierl stammen die im Abwasser nachgewiesenen Polioviren von einer Linie ab, die sich ursprünglich aus dem Polio-Schluckimpfstoff (OPV) entwickelt hat. Diese Impfviren zirkulieren ihm zufolge in Regionen mit insgesamt geringem Impfschutz. Beispielsweise in verschiedenen Teilen Afrikas oder in Indonesien. „Sie hatten so die Möglichkeit, sich genetisch zu verändern und es entstanden dadurch wieder krankheitsauslösende Viren“, erklärt der Experte.
Polio-frei seit 2002
Der in Europa seit vielen Jahren empfohlene Impfstoff gegen Polio ist dagegen ein sogenannter Totimpfstoff (IPV), der keine lebenden Viren enthält. „Er schützt mit einer hohen Wirksamkeit auch vor einer Erkrankung durch diese Schluckimpfstoff-abgeleiteten Polioviren“, sagt Hierl. In diesem Zusammenhang weist er noch einmal daraufhin, dass Europa seit 2002 als Polio-frei gilt. Damit das auch so bleibt, sei es jedoch notwendig, dass möglichst viele Personen rechtzeitig und vollständig gegen Polio geimpft sind.
Denn: Ungeimpfte oder nicht vollständig gegen Kinderlähmung geimpfte Personen können sich bei infizierten Menschen anstecken und an Poliomyelitis erkranken. Aus diesem Grund rät die Ständige Impfkommission (STIKO) Hierl zufolge dazu, den Impfstatus von Kindern zu überprüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen. Dass hier in der Region durchaus Nachholbedarf gibt, zeigt ein Blick auf die Zahlen.
Einer der niedrigsten Impfquoten
„In der Region Rosenheim werden unsere Kinder zu spät und oft nicht vollständig gegen Kinderlähmung geimpft“, sagt der Leiter des Gesundheitsamts. Der Landkreis gehört zu laut Hierl zu den zehn Regionen in Bayern mit den niedrigsten Impfquoten bei Kindern gegen Kinderlähmung. So seien lediglich 66,5 Prozent der Kinder im Alter von 24 Monaten vollständig gegen Polio geimpft. Das hatte eine Auswertung des RKI von Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns ergeben.
Zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchung waren in Stadt und Landkreis Rosenheim im Schuljahr 2022/23 nur 89,3 Prozent vollständig geimpft (Bayern: 93,8 Prozent). „Auch dieser Wert liegt unter der Durchimpfungsquote von 95 Prozent, die für einen Schutz vor Ausbreitung einer Infektion in der Bevölkerung notwendig ist“, sagt Hierl. Er appelliert deshalb an die Eltern, die Kinder zeitgerecht und vollständig impfen zu lassen.
Mindestens drei Impfungen
Der vollständige Impfschutz gegen Kinderlähmung besteht laut dem Leiter des Gesundheitsamtes aus einer Grundimmunisierung mit mindestens drei Impfungen. Die Impfung gegen Kinderlähmung ist in den sechsfach Kombinationsimpfstoffen enthalten. Sie werden bei Säuglingen im Alter von zwei, vier und elf Monaten empfohlen.
Auffrischimpfung wird empfholen
Wurden diese Impfzeitpunkte versäumt, sollten die Impfungen zeitnah nachgeholt werden, wobei ein Mindestabstand von sechs Monaten zwischen vorletzter und letzter Impfung der Grundimmunisierung für einen längerfristigen Impfschutz eingehalten werden soll. Im Alter von neun bis 16 Jahren sollte dann eine Auffrischimpfung mit dem altersentsprechenden Kombinationsimpfstoff für einen langanhaltenden Impfschutz erfolgen. Die STIKO empfiehlt auch allen Erwachsenen mit fehlender oder unvollständiger Grundimmunisierung oder fehlender Auffrischimpfung, diese nachzuholen.