Gerichtssachverständiger Dr. Johannes Streif im Interview
„Kein Dummer-Jungen-Streich“: Wie ein Kinderpsychologe die Brandstifter von Beyharting einschätzt
War es ein „Lausbubenstreich“, der in Beyharting außer Kontrolle geriet und zum Feuerwehr-Großeinsatz am 10. Oktober führte? Oder haben die Kinder wirklich vorsätzlich Feuer gelegt, um den alten Gasthof abzufackeln? Eine Suche nach Antworten.
Tuntenhausen – Der Brand in Beyharting (10. Oktober) wurde von Kindern verursacht. Die Polizei schließt aus, dass es fahrlässig passierte. Doch Einwohner und Retter wollen nicht glauben, dass Kinder den Brand wirklich mit dem Vorsatz gelegt haben sollen, den alten Gasthof abzufackeln. Kinder- und Jugendpsychologe Dr. Johannes Streif arbeitet als Gerichtssachverständiger. Im OVB-Interview bricht er eine Lanze für Kinder, sagt aber auch, dass es nicht vom Alter abhängt, ob und wann ein Mensch straffällig wird.
Die Polizei geht von einer vorsätzlichen Brandstiftung aus. Begehen Kinder im Alter von zwölf Jahren Straftaten tatsächlich schon mit Vorsatz?
Dr. Johannes Streif: Das ist ein sehr sensibles Thema. Wirklich beurteilen kann man das nur, wenn man die Kinder, ihre jeweilige persönliche Reife, ihre Biografie und ihr Umfeld kennt. Grundsätzlich ist es aber denkbar. Kinder können bereits in frühen Lebensjahren Erfahrungen machen, die sie dazu veranlassen, sich problematisch zu verhalten. Zudem gibt es physiologische Faktoren der Verhaltenssteuerung wie Impulsivität und Aggression, die in wesentlichen Teilen angeboren sind. Sie machen es wahrscheinlicher, dass manche Kinder Dinge tun, von denen sie, denken sie in einer ruhigen Minute darüber nach, durchaus wissen, dass sie dumm und gefährlich sind. Wenn ein Kind straffällig wird, heißt das also nicht, dass es schlecht erzogen wurde.
Die Kinder haben sich couragiert und sofort der Polizei gestellt. Spricht das nicht für sie?
Dr. Johannes Streif: Ja, das tut es, denn es braucht Mut, zu eigenen Fehlern zu stehen, vor allem dann, wenn sie für alle sichtbar schlimme Folgen haben. Es kann durchaus sein, dass sie das Feuer zwar willentlich entfacht haben, es dann aber nicht mehr selbst löschen konnten, aufgrund der Dimension des Brandes Angst bekommen und ihre Tat bereut haben.
Lädt so ein leer stehender Gasthof mit seinen alten Möbeln und Spinnenweben nicht zum Spielen ein?
Dr. Johannes Streif: Natürlich. Es ist ein verbotener, abenteuerlicher Ort, der zum Spielen einlädt. Dort sind die Kinder ganz für sich, können sich dem Blick und der Kontrolle der Erwachsenen entziehen. Vielleicht haben sie gespielt oder experimentiert und plötzlich ist alles außer Kontrolle geraten. Das ist durchaus möglich, aber das muss die Polizei klären. Und das ist vor allem auch keine Entschuldigung für die Brandstiftung, denn ein Supermarkt lockt auch mit seinen Süßigkeiten, doch das rechtfertigt keinen Diebstahl.
Hätte man früher die Brandstiftung nicht als „Dummer-Jungen-Streich“ bezeichnet?
Dr. Johannes Streif: Ja, früher vielleicht schon. Aber auch damals kam es auf das Ausmaß des Schadens an, der angerichtet wurde. Klar ist aber auch, dass mit „dumm“ in diesem Fall nicht gemeint ist, dass Kinder im Alter von zwölf Jahren nicht wissen können, welche Gefahr vom Zündeln in einem Haus ausgeht. Schon kleine Kinder wissen bei hinreichender Erziehung, dass sie fremdes Eigentum respektieren müssen.
Ab welchem Alter ist sich ein Kind seiner Handlungen bewusst?
Dr. Johannes Streif: In der Entwicklungspsychologie geht man davon aus, dass ein Kind im Alter von einem Jahr ein physisches Selbst ausbildet, zum Beispiel Hunger als ein eigenes Gefühl erlebt, das befriedigt werden muss. Ab dem zweiten Lebensjahr erreicht ein normal entwickeltes Kind die Stufe des subjektiven Selbst. Es hat einen eigenen Willen, den es in der sogenannten Trotzphase auch deutlich zum Ausdruck bringt. Erst mit etwa vier bis fünf Jahren erkennt ein Kind, dass andere Menschen anders denken und fühlen als es selbst sowie eine andere Perspektive auf Personen und Dinge in der Welt einnehmen. Jetzt erreichen sie die erste Stufe der sogenannten „Theory of Mind“. Kinder können nun ihre Sichtweise von der eines anderen unterscheiden.
Jetzt können sie auch im eigentlichen Sinne lügen, indem sie andere bewusst täuschen, da sie eine Vorstellung davon haben, was andere wissen können und was nicht. Zwar kann schon ein zweijähriges Kind von seinen Eltern lernen, was diese richtig oder falsch finden, doch erst das Erreichen der ersten Stufe der Theory of Mind führt dazu, dass so etwas wie eine eigenständige Moral entsteht. Das Kind nimmt nun auch in einem unbeobachteten Moment aus eigenem Antrieb ernst, dass es nicht zündeln soll und durch das Feuer ein großer Schaden entstehen kann. Oder es nutzt bewusst die Gelegenheit, etwas Verbotenes zu tun. Im Fall der drei Zwölfjährigen in Beyharting wussten sie, dass es sich um ein unbewohntes Haus handelte. Sie nutzten die Gelegenheit, etwas zu tun, von dem sie wussten, dass sie es nicht durften.
Haben die Eltern Ihrer Meinung nach ihre Aufsichtspflicht verletzt?
Dr. Johannes Streif: Das würde ich verneinen. Die Frage ist: Was erlaube ich einem zwölfjährigem Kind im Normalfall? In diesem Alter haben die Eltern ihren Kindern die wichtigsten Werte schon beigebracht. Sie gehen oder fahren allein zur Schule oder zum Verein. Sie sind am Nachmittag stundenweise allein zu Hause oder treffen sich mit Freunden im Ort. Eine ständige Kontrolle durch die Eltern kann man in dem Alter nicht mehr erwarten.
Müssen die Familien damit rechnen, dass die Kinder das Erlebte nicht allein verarbeiten können?
Dr. Johannes Streif: Das hängt ganz davon ab, ob die Kinder der Situation ohnmächtig gegenüberstanden. Sie sind ja offenbar noch rechtzeitig aus dem Haus gerannt und haben sich der Polizei gestellt, das heißt: Sie waren in dieser Situation noch handlungsfähig. Daher ist anzunehmen, dass sie die Ereignisse als etwas verarbeiten werden, das sie zumindest teilweise kontrollieren konnten, auch wenn das Feuer selbst für sie außer Kontrolle geriet. Sie haben sich zudem aus eigenem Antrieb der Polizei offenbart und akzeptierten damit ihre Schuld und die für sie absehbaren Konsequenzen.
In einem solchen Fall ist nicht davon auszugehen, dass sie erhebliche posttraumatische Belastungen erleben. Wichtig ist nun, wie es jetzt weitergeht. So ein Vorfall ist für die Kinder eine Lehre fürs Leben. Sie hatten Glück im Unglück. Es ist niemand zu Schaden gekommen. Früher wurde in so einem Fall mit den Kindern ordentlich geschimpft, im Ort noch ein paar Wochen darüber geredet, und dann war es wieder gut. Heute wird das Jugendamt eingeschaltet, wird in den Medien und sozialen Netzwerken darüber berichtet. Das kann für die Kinder langfristig durchaus belastend sein, wenn sie noch nach Jahren mit ihren früheren Fehlern konfrontiert werden.
Gehört es nicht zur Kindheit dazu, auch mal Unsinn zu machen?
Dr. Johannes Streif: Natürlich. Denken Sie an die Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma. Wahrscheinlich hat jeder von uns eine oder viele zu erzählen. Es ist doch ganz normal, dass Kinder impulsiver, lauter, wilder und manchmal auch aggressiver als wir Erwachsenen sind. Wir schauen heute mit übertriebener Aufmerksamkeit auf alles und reagieren völlig überzogen, wenn ein Kind mal etwas Irrationales tut. Wir machen Statistiken über die Entwicklung der Kinder- und Jugendkriminalität, die im Übrigen viel geringer geworden ist. Trotzdem ist unser Sicherheitsanspruch gestiegen und unser Kontrollbedürfnis noch größer geworden. Dabei vergessen wir, dass wir selbst einmal Kinder waren. Und wir machen uns viel zu selten Gedanken darüber, dass auch von uns Erwachsenen große Risiken ausgehen.
Welche Risiken meinen Sie?
Dr. Johannes Streif: Das individuelle Verhalten im Straßenverkehr beispielsweise: Wenn ich zu schnell in einen Ort hineinfahre, obwohl ich nicht sehen kann, ob an der Straße Kinder spielen. Oder die fortschreitende Umweltzerstörung, die für nachkommende Generationen ein existenzielles Risiko bedeutet. Betrachten wir den Brand in Beyharting doch mal aus einer anderen Perspektive und fragen: Was hätte man anders machen können, um ihn zu verhindern? In vielen Orten stehen alte Gebäude über Jahre leer und werden wegen der hohen Kosten weder abgerissen noch saniert. Auch sie stellen ein Risiko für die Allgemeinheit dar. Nicht zuletzt gibt es kaum mehr Lebensräume, in denen Kinder nicht permanent reglementiert und kontrolliert werden. Das macht den Reiz eines leer stehenden Hauses aus: Der Beobachtung der Erwachsenen entzogen zu tun, was man will.
Zur Person: Dr. Johannes Streif
Dr. Johannes Streif studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie in München. Er arbeitete als klinischer Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in einem Jugendheim der Stadt München sowie als Autor eines Wahrnehmungs- und Entwicklungstests für Kinder.
Seit mehreren Jahren ist er hauptberuflich als Gerichtssachverständiger für forensische Psychologie vornehmlich im Bereich der Familienpsychologie tätig.
Darüber hinaus ist er einer der Gründer der „Jägerburg“, eines deutschlandweit bekannten Projektes für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern, das Kurzkuren unter anderem für Kinder und Jugendliche mit Lernstörungen und ADHS anbietet. In diesem Zusammenhang war er in den vergangenen Jahren auf zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen sowie Kongressen zu hören.
Geboren wurde er 1968 und wuchs im badischen Oberkirch auf: „Als Familienmonster, Plage der Nachbarn und Schrecken der Lehrer“, zitiert er selbst die „weitgehend mündlich tradierte Familienchronik, deren Autoren den Begriff ADHS damals noch nicht kannten.

