Taktilographie
„Ganz ohne Apparate“: Wie eine blinde Frau in Bad Endorf dabei hilft, Brustkrebs zu erkennen
Elvira Häußler, von Geburt an blind, arbeitet als Medizinisch-Taktile Untersucherin in Bad Endorf. In der Gemeinschaftspraxis Frauenheilkunde Chiemgau bietet sie eine spezielle Methode zur Früherkennung von Brustkrebs an – ihr besonderes Diagnose-Werkzeug ist ihr ausgeprägter Tastsinn.
Bad Endorf – „Ich mache den Beruf nicht obwohl, sondern weil ich eine blinde Frau bin.“ Elvira Häusler ist von Geburt an blind und geht in ihrem Beruf als Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU) voll auf. Seit gut einem Monat bietet sie die besondere Untersuchung zur Früherkennung in der Gemeinschaftspraxis Frauenheilkunde Chiemgau in Bad Endorf an.
In Begleitung von Ashanti
Elvira Häußler kommt strahlend auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Ihr Blindenhund Ashanti, der sie zur Arbeit und auch in ihrem Alltag fortwährend begleitet, bleibt derweil ruhig auf der Decke liegen. „Vor dem Gesetz ist die Hündin meine Gehhilfe“, erläutert Elvira Häußler. „Von ihr hängt meine Sicherheit ab.“ Der Curly Coated Retriever ist allergikerfreundlich und wirkt -– selbst für mich als nicht unbedingt große Hundefreudin – tiefenentspannt. Was auch mir gut tut, denn ich bin zugegebenermaßen aufgeregt. Im Einführungsgespräch erzählt sie ein bisschen über sich: 25 Jahre lebte und arbeitete sie in England (unter anderem als Beraterin für Studierende mit Behinderung), dann zog sie nach Leipzig, wo sie sich zur MTU ausbilden und qualifizieren ließ. Neuerdings hat sie in München ihren Lebensmittelpunkt und bereist von hier aus täglich Praxen in München und dem Umland. Nun also auch Bad Endorf, wo sie jeden Donnerstag Frauen jedweden Alters abtastet.
Zeit erforderlich
Sie nehme sich für jede Patientin Zeit, betont Elvira Häußler. Eine qualifizierte MTU könne etwa 30 Prozent mehr und bis zu 50 kleinere Gewebeveränderungen (ab etwa 6 Millimeter finden als Ärzte (ab 1 bis 2 Zentimeter). Das Sozialunternehmen discovering hands hat den MTU-Beruf entwickelt und durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigen lassen. Es ist keine ärztliche Untersuchung und ersetzt auch nicht den Ultraschall oder die Mammographie, sondern ist eine zusätzliche Methode zur Früherkennung. Für Elvira Häußler, die bei discovering hands angestellt ist, ist die berufliche Neuorientierung ein Glücksfall. „Am meisten gefällt mir der Kontakt mit den Patientinnen. Ich mag das systematische Vorgehen bei meiner Arbeit. Es bereitet mir große Freude, dass meine Arbeit zu meinen Fähigkeiten passt. Ich mache den Beruf nicht, obwohl ich eine blinde Frau bin, sondern weil ich eine blinde Frau bin.“
Im Vorgespräch befragt sie mich ausführlich zu meiner medizinischen Vorgeschichte. Auf einer Liege sitzend, tastet Elvira Häußler zunächst Bereiche von Hals, Schultern und Achseln ab.
Dann geht es in Seit- und Rücklage weiter. Mithilfe von selbst klebenden Orientierungsstreifen untersucht sie Brustgewebe sowie Lymphbahnen und -knoten am Brustbein millimetergenau. Die Orientierungsstreifen sind regelmäßig erhaben und dienen ihr als Koordinatensystem. Durch unterschiedlichen, schmerzlosen Druck kann die MTU die verschiedenen Gewebezonen erfassen und auch die tieferen Gewebeschichten erspüren. „Das ist wie beim Walzertanzen, eins, zwei, drei.“ Plaudernd vergeht die Zeit des Tastens wie im Flug. Klar, man muss das Abtasten zulassen, aber die angenehme und kompetente Art von Elvira Häußler weckt großes Vertrauen. Als sie „alles gut“ sagt, bin ich erleichtert. Aber was wäre, wenn?
Exakte medizinsche Diagnose
Dann würde eine Frauenärztin im Anschluss an ihre Untersuchung aufgrund des MTU-Befundes die exakte medizinische Diagnose stellen und, falls erforderlich, weitere Untersuchungen wie Ultraschall vornehmen. Dr. Kathrin Faltl, eine der drei Gynäkologinnen in der Frauenheilkunde Chiemgau Praxis, betont: „Mit der Taktilographie können wir unseren Patientinnen noch mehr Sicherheit in der Brustkrebsfrüherkennung bieten. Frau Häußler hat viel mehr Zeit für die Brustuntersuchung als wir im Praxisalltag. Aufgrund ihres exzellenten Tastsinns ergänzt und verbessert sie die vorhandenen Diagnoseverfahren - ganz ohne ‚Apparate‘ - und ist eine kundige sehr zugewandt Ansprechpartnerin für die Patientinnen rund um die Brustgesundheit.“