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Historikerin Maria Anna Willer im Exklusiv-Interview

Aschau in der Nazi-Zeit: Überraschungs-Funde auf dem Dachboden des alten Rathauses

„Traditionsgau München-Oberbayern“, das Burghotel Aschau unterm Hakenkreuz, Historikerin Maria Anna Willer.
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„Traditionsgau München Oberbayern“, das Burghotel Aschau unterm Hakenkreuz: Maria Anna Willer forschte über Aschau in der NS-Zeit und nimmt sich nun den „Traditionsgau“ vor.

Aschau in der NS-Zeit: Darüber hat Maria Anna Willer jahrelang geforscht. Am Freitag, 9. Februar, stellt sie ihr Buch in Aschau vor. Wie es den Opfern erging, warum sich Hitler in Oberbayern wohl fühlte und was sie im Geheimarchiv auf einem Dachboden fand: Darüber sprach sie mit dem OVB.

Aschau im Chiemgau – Fast 500 Mitglieder zählt der Heimat- und Geschichtsverein Aschau. Ziemlich beachtlich. Und doch ist die Vorstandschaft um Dr. Natascha Mehler überrascht vom Echo auf das Buch, das die Historikerin Maria Anna Willer am Freitag, 9. Februar, in Aschau vorstellt. Es hat den Titel „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ und berichtet über Aschau in der NS-Zeit. Und nun ruft es so viele Interessenten auf den Plan, dass der Verein für die Buchpräsentation vom evangelischen in den größeren katholischen Gemeindesaal umzieht. Über Mechanismen der Verdrängung, Verfolgte und lebenslang Gezeichnete sprach Anna Maria Willer exklusiv mit dem OVB. Und sie erzählte, welche Überraschungsfunde man auf dem Dachboden des alten Rathauses machte.

„Nationalsozialismus auf dem Dorf“, so heißt Ihr Buch. Was unterscheidet den Nationalsozialismus auf dem Land von dem in der Stadt?

Maria Anna Willer: Der Forschungsstand ist ein gänzlich anderer. Die Städte hatten den Anspruch, teilweise schon seit den 50er Jahren, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Bei den Dörfern kann man eher von einer Nichtwahrnehmung sprechen. Da tauchen in den Dorfchroniken über diese zwölf Jahre oft nur ganz wenige Seiten auf.

Warum beschäftigen Sie sich gerade mit Aschau im Chiemgau?

Willer: Wegen der unglaublich guten Quellenlage. Ich habe über 25 Jahre lang in Aschau und Umgebung gelebt. Dort habe ich meine Magister-Arbeit zur Geschichte der Landwirtschaft geschrieben, dort habe ich auch viele Zeitzeugen befragt und auf Tonband aufgenommen. Hier hatte ich außerdem die Quellenbände mit den Hof- und Hausgeschichten. Und: Ich wusste, dass es da einen geheimen Archivbestand gibt.

Klingt abenteuerlich.

Willer: Ich stieß auf diesen Bestand, als ich zur Landwirtschaftsgeschichte forschte und mich für die Geschichte der Zwangsarbeiter interessierte. Eine Frau, die im Archiv half, wurde im Dachboden des alten Rathauses fündig. Dort lag nicht nur der Bestand mit den Unterlagen, die über den Umgang mit den so genannten „Fremdarbeitern“ berichten. Der damalige Archivar hatte für die Erhaltung des Bestands gesorgt, so dass zum Beispiel das Papier nicht durch rostige Heftklammern zerfallen konnte. Doch ausgewertet worden war dieser Bestand nicht. Erst mit meiner Promotionsanmeldung wurde dieser Bestand zugänglich. Und der Bürgermeister hat mir erlaubt, ihn auszuwerten.

Aschau – ein besonders braunes Dorf?

Willer: Kann man so nicht sagen. Bestimmt nicht mehr als andere Dörfer in diesem Gebiet, das sich „Traditionsgau München-Oberbayern“ nennt. Dessen Erforschung habe ich übrigens als Folgeprojekt vorgeschlagen, beim Heimat- und Geschichtsverein. Die neue Vorstandschaft ist offenbar sehr interessiert daran, NS-Geschichte aufzuarbeiten. Und der „Traditionsgau“ ist bislang erstaunlicherweise ein weißer Fleck in der bayerischen Geschichtsschreibung.

Wie wirkte sich der Nationalsozialismus in den Ortschaften aus, die heute die Gemeinde Aschau ausmachen?

Willer: Das Erstaunliche ist, dass die Reichsgesetzgebung mit vielen, alle Erlasse und Verordnungen sogar im letzten kleinen Bergdorf zur Durchführung gekommen sind. Es gab den perfekten Aufbau der bürokratischen Struktur, sowohl was den Parteiapparat betrifft als auch die kommunale Verwaltung. Und auch auf dem Land wurde das Blockwartsystem (diente der Überwachung und Denunziation, Anm. der Red.) eingeführt. Dies in Verbindung mit den guten Kenntnissen der Einheimischen untereinander, dass die wussten, wer zum Beispiel „rot“ war, führte zur totalen Kontrolle und Überwachung auf dem Dorf. Die Verbindung von Berlin bis nach Sachrang, bis in den letzten Einödhof, das kann man sagen, hat funktioniert.

Was brutale Verfolgung und Ausgrenzung mit sich bringt. Wie sah es damit in Aschau aus?

Willer: Ich habe ungefähr 50 Fälle der Ausgrenzung und Verfolgung recherchieren können. Das Erstaunliche ist, dass ich wirklich zu fast allen heute anerkannten NS-Opfergruppen einen oder eine Betroffene gefunden habe. Es waren erstaunlich viele Menschen, die als „Juden“ verfolgt wurden. Das Dorf bot nur kurzzeitig so etwas wie eine Rückzugsmöglichkeit. Die Menschen mochten sich frühzeitig zum Beispiel von München aufgemacht haben, um sich auf dem Land einen Zweitwohnsitz zu schaffen, aber die Gesetzgebung hat sie auch auf dem Dorf eingeholt. Eine Ausnahme gibt es: drei Schwestern, denen es gelungen ist, ihre jüdische Herkunft zu verbergen.

Welche Schicksale haben Sie besonders berührt?

Willer: Es gab da mehrere Fälle. Einer zum Beispiel hat zwölf Jahre Haft im Konzentrationslager überlebt. Dann kommt er raus und wird wiederum als Verbrecher behandelt. Er hat keine Rehabilitation erhalten. Er gehörte zu einer Gruppe, die erst 2020 vom Bundestag als Opfergruppe anerkannt wurde. Man liest aus dem Schriftverkehr seine Bestürzung, seine Enttäuschung, sein Nichtverstehen darüber, dass seine Anträge immer wieder abgelehnt werden. Man merkt, wie die Menschen und die Behörden unter der Militärregierung zunächst hilfsbereit waren. Nach 1948 ändert sich das.

Was hatte man ihm vorgeworfen?

Willer: Er gehörte zu den so genannten „Berufsverbrechern“, die mehrfach in den Strafvollzug geraten waren und schließlich ins KZ eingewiesen wurden, zu lebenslanger Haft, beziehungsweise zur „Vernichtung durch Arbeit“. Er hatte als Buchhalter mehrmals Zahlen gefälscht und dergleichen, doch keine Gewaltdelikte verübt, in Haft half er den politischen Gefangenen, die ihm wiederum zum Überleben verhalfen und ihn zu einem „Politischen“ machten. Das alles half ihm nach 1945 nichts. Ähnlich erging es einem Sinto. Der kam nicht auf den Deportationszug von München nach Auschwitz, weil die Rassenhygieniker der Nationalsozialisten ihn als sogenannten „Vollzigeuner“ einstuften und diesen „Reinrassigen“ eine Art Reservatsstatus geben war. Als solcher konnte er als Zwangsarbeiter bei einem Baugeschäft in Aschau bleiben. Aber nach 1945 bekam er ebenfalls keine Anerkennung als NS-Verfolgter. Er hatte körperlich überlebt. Aber sonst? Seine Frau war vom Sondergericht hingerichtet worden, seine Tochter und viele seiner andere Familienangehörigen kamen nach Auschwitz und kamen dort in den Gaskammern um. Nach 1945 ging die Ausgrenzung von Sinti und Roma in Behörden und in der Gesellschaft weiter. Man spricht heute von der „zweiten Verfolgung“. Er kam nicht mehr wirklich auf die Beine.

Gestalten der NS-Führungsriege zogen gerne nach Oberbayern. War das nur der Berge wegen?

Willer: Wir sind hier in einem Gebiet, in dem die NS-Ideologie ihre Wurzeln hatte. Nicht umsonst baute Hitler am Obersalzberg sogar so etwas wie seinen „zweiten Regierungssitz“. Es ist eine schöne Gegend, aber es gab auch früh eine große ideologische Zustimmung. Die Region passte auch gut zur Propaganda. Nicht umsonst wurde hier eine Reichsautobahn gebaut, von der aus die „Volksgenossen“ an der schönen Welt teilhaben konnten, die die Nazis angeblich geschaffen hatten. Der „Traditionsgau“ war 1930 geschaffen worden, für die NS-Strukturen gab es hier schon vor der „Machtergreifung“ die Grundlagen.

In Rosenheim entstand schon 1920 die erste Ortsgruppe der NSDAP außerhalb Münchens.

Willer: Genau. Jedenfalls konnte man die Blut- und Boden-Ideologie hervorragend mit den Bergen, der Natur und ihren Gewalten, aber auch mit so etwas Traditionellem wie den Trachten verbinden.

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Forschung?

Willer: Also, kurz nach Anmeldung zur Promotion habe ich anonym Post bekommen. Die war nicht ohne. Das waren bewusst gesetzte Briefe, vier Monate lang alle zwei Wochen. Das war ein Versuch, Druck auszuüben, und es hatte Wirkung. Ich bekam Schreibblockaden. Und ich habe meinen Wohnort gewechselt, um Distanz zu bekommen.

Es gab auch über Aschau immer wieder mal Diskussionen, etwa über das Grab von Hermann Kriebel, ein früherer Gefährte Adolf Hitlers, der 1923 maßgeblich am Bürgerbräu-Putsch beteiligt war. Wie geht Aschau mit seiner Geschichte um?

Willer: In meiner Doktorarbeit steht auch viel über Erinnerungskultur. Es kommt klar raus, dass es einen Verdrängungsmechanismus gibt, eine Beschönigung der Vergangenheit, sogar im starken Maße Täter-Opfer-Umkehr. Da ist Aschau keine Ausnahme.

Das Buch „Nationalsozialismus auf dem Dorf“ wird am 9. Februar 2024 im Katholischen Pfarrsaal an der Frasdorfer Straße in Aschau präsentiert. Heimat- und Geschichtsverein Aschau und das Bündnis gegen Rechts Rosenheim sind Gastgeber der Veranstaltung, die um 19 Uhr beginnt.

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