Erotikmodel und Linienführer kämpfen gegen Vorurteile
Als „kriminell und asozial“ abgestempelt? Welche Probleme Tattoos zwei Ex-Rosenheimern machen
Für Tony Pichler und Tanja Gaida ist ihr Körper wie eine Leinwand. Und es soll noch mehr werden. Dabei hat jedes einzelne Tattoo eine Bedeutung. Warum die beiden ihre Körper in ein Kunstwerk verwandeln lassen und welche Probleme ihre Leidenschaft mit sich bringt.
Rosenheim – Tony Pichlers Leben war nicht immer einfach. Zusammen mit seiner Freundin Sophia sitzt er am Esstisch in ihrem Haus. Über seiner linken Augenbraue ist der Schriftzug „Able to Live“ (auf deutsch: „Zum Leben fähig“) tätowiert. Auf dem linken Unterarm lacht einem ein Clown entgegen. Auf seinem Rücken schießt sich ein Gesichtsloser in den Kopf. Pichlers Tätowierungen sind düster. Doch sie haben alle eine Bedeutung. „Es ist nicht alles gut gelaufen in meinem Leben“, sagt Pichler. „Mit den Tätowierungen kann ich das Geschehene verarbeiten.“
Die ersten vier Jahre wuchs Pichler bei seiner Oma auf. Danach lebte er in einer Pflegefamilie. „Ich war früher kein unschuldiges Kind und habe viel Mist gebaut“, sagt der 34-Jährige. Mit acht Jahren sei er Fan von der Metal- und Rockband Linkin Park geworden. „In meinem Zimmer hingen viele Poster von Chester“, sagt Pichler. Der Frontsänger hatte selbst viele Tätowierungen. Etwas, was dem damals achtjährigen Tony Pichler gefallen hat: „Mir war klar, so will ich auch mal aussehen.“
Inspiriert vom eigenen Leben
Daraufhin habe er mit abwaschbaren Tätowierungen angefangen. „Zu der Zeit war alles chaotisch in meinem Leben“, erinnert sich Pichler. Mit 14 Jahren ließ er sich dann sein erstes Tattoo stechen. Damals sei es „abgefahren“ gewesen, sich tätowieren zu lassen. „In der Klasse warst du dann schon der Coolste“, sagt Pichler und lacht. Weiter erklärt er: „Man hat sich damit von anderen abgehoben, auch wenn das nicht mein Ziel war.“
Auf seinem Hinterkopf symbolisieren zwei Gesichter „das Gute und das Böse“. Beide flüstern in seine Ohren. Auf der rechten Seite rede ihm der Joker Böses zu. Auf der linken Seite werde bald das Gesicht seiner Tochter Joleen tätowiert. „Sie steht für das Gute in meinem Leben“, erklärt Pichler. Als seine Tochter vor neun Jahren auf die Welt kam, habe sich sein Leben schlagartig verändert. „Man muss dann Verantwortung übernehmen“, sagt er.
Mittlerweile habe Pichler aufgehört, seine Tattoos zu zählen. Von Kopf bis Fuß ist der 34-Jährige tätowiert. „Nur der Intimbereich und mein rechtes Bein bleiben frei“, sagt er. Seine Freundin Sophia wirft ein: „Außer dir geht der Platz aus.“ Neben seinem Schriftzug über der linken Augenbraue hat er noch den Namen seiner Tochter am Kinn tätowiert. Weitere Tattoos seien im Gesicht aber erstmal nicht geplant.
Kämpft mit vielen Vorurteilen
Blicke und Sprüche von Mitmenschen seien bei seinen Tätowierungen vorprogrammiert. Vor acht Jahren zog der 34-Jährige von Rosenheim nach Bergen. In Rosenheim sei er selten „angestarrt“ worden. „Auch in München falle ich nicht auf“, sagt Pichler.
Anders sei es auf dem Dorf. „In Bergen hatte ich schon mit Vorurteilen zu kämpfen“, sagt er. Der Linienführer von Anlagen und Maschinen habe sich auf seiner Arbeit erst einmal beweisen müssen. „Die Menschen lassen einen spüren, dass man sich mehr anstrengen muss, wenn man tätowiert ist“, sagt Pichler. Mit seiner Leistung habe er sich Respekt und Vertrauen verschaffen können. „Sonst wäre ich niemals Linienführer geworden.“
Auch in der Nachbarschaft habe der Tätowierte mit Vorurteilen zu kämpfen. „Wenn wir Ausflüge mit seiner Tochter machen, kommen schon ein paar Sprüche“, sagt seine Freundin. Dabei habe die Aussage eines Nachbarn ihn besonders getroffen. „Es hieß: Gott sei dank hat er keinen Sohn, den würde er noch mehr schlagen“, erinnert sich Sophia. Sie vermutet, dass es nicht nur daran liegt, dass er volltätowiert ist. „Auf seiner Haut sind hauptsächlich gruselige Motive“, sagt sie.
Auch das Wechseln der Straßenseite sei keine Seltenheit. „Ich glaube, viele denken immer noch, dass Tätowierte automatisch kriminell und asozial sind“, sagt Sophia. Pichler nickt zustimmend: „Beschweren kann ich mich eigentlich nicht, denn sonst hätte ich mich nicht tätowieren lassen.“ Er freue sich, wenn Leute Interesse an seinen Tattoos bekunden oder sich für ihre anfänglichen Vorurteile entschuldigen. Wichtig sei Pichler nur eines: „Ich bin von Haus aus ein sehr loyaler und respektvoller Mensch.“ Dasselbe wünsche er sich auch von seinen Mitmenschen.
Tanja Gaida ist Miss Tattoo Rosenheim 2019
Mit Vorurteilen habe Tanja Gaida selten zu kämpfen. Auch auf ihrem Körper zieren Tattoos. „Es müssten jetzt 15 oder 16 Stück sein“, sagt sie. Und das nächste Tattoo ist auch schon geplant. „Am Wochenende geht es am Bein weiter“, sagt Gaida. Welches Motiv, das wisse sie noch nicht. „Meistens sitze ich beim Tätowierer, zeige die Stelle und frage, was wir da machen können“, erklärt sie. Doch eines wisse die 28-Jährige: „Alle Tattoos sollen irgendwann zu einem Ganzen werden.“
Dennoch seien für sie Rücken, Gesicht und Hals tabu. Auch jedes Werk auf ihrer Haut habe eine Bedeutung – wenn nicht gleich beim Stechen. „Im Nachhinein treffen sie immer auf mein Leben zu“, sagt Gaida. So auch ihr erstes Tattoo. Das habe sie sich mit 17 Jahren stechen lassen. Entlang ihrer linken Bauchseite ranken Rosen und Dornen. „Und dabei mag ich Blumen nicht einmal“, sagt Gaida und lacht. Dennoch sei es für sie ein besonderes Tattoo. „In meiner Schwangerschaft sind die Blumen mit meiner Tochter gewachsen, das fand ich süß“, sagt sie.
Einige Tätowierungen seien aus Partynächten entstanden. Doch bislang habe sie keines davon bereut. Denn Tattoos sind für Gaida etwas Besonderes. „Tattoos machen das Leben einfach bunter“, erklärt sie. Wie schön sie ihre Tätowierungen findet, zeigte sie bei der Wahl zur „Miss Tattoo Rosenheim 2019“. Die 28-Jährige konnte sich gegenzwei Konkurrentinnen durchsetzen und gewann den Titel. Auch in diesem Jahr möchte sie sich die Krone erneut holen.
„Noch blödere Sprüche“ auf „blöde Kommentare“
Auch wenn Gaida mit keinen Vorurteilen zu kämpfen habe, bekomme auch sie oft negative Kommentare zu hören. „Ich habe sieben Jahre in der ambulanten Pflege gearbeitet“, sagt sie. „Ich hatte also die härtesten Gegner die es gibt, die älteren Leute.“ In dieser Zeit hat sie gelernt, „blöde Kommentare, mit noch blöderen Sprüchen zu kontern.“
Eine Lebenseinstellung, die sich auch in der Tätowierung auf ihrem linken Schlüsselbein zeigt: „My life my rules“ (auf deutsch: Mein Leben meine Regeln“). Sie erklärt: „Ich lebe mein Leben und mache, was ich möchte.“ Dasselbe wünsche sie auch ihren Mitmenschen. Eine Einstellung, die ihr auch in ihrem jetzigen Beruf viel hilft. Seit anderthalb Jahren arbeitet sie als Erotikmodel auf einer Internetplattform von ihrem Zuhause in Amerang.
Geschichte nach außen tragen
Zwei Menschen, deren Tattoos eine andere Geschichte erzählen. In einem sind sie sich aber einig, an den Schmerz gewöhnt man sich nicht. Dennoch seien die Kunstwerke für sie nicht mehr wegzudenken. „Mir geben sie einfach einen Mehrwert“, erklärt Gaida. Dem könne Pichler nur zustimmen. Beide finden es schön, ihre Geschichte nach außen zu tragen.




