Drei Jahre nach dem Flut-Unglück
Grünstein-Anwohner mit Panikattacken und schlaflosen Nächten: „Medaillen vor Menschenleben?“
Groß waren die Bekenntnisse aus der Politik nach dem Flut-Unglück in Schönau am Königssee im Sommer 2021, beim Wiederaufbau und Schutz zu unterstützen. Während Ersteres scheinbar reibungslos funktioniert hat, warten die Anwohner am Fuße des Grünsteins noch immer auf die versprochenen Hochwasserschutz-Maßnahmen. Bei jedem Unwetter oder Starkregen kommt die Angst wieder hoch, es könnte etwas passieren. Währenddessen wird die Bobbahn schon längst wieder aufgebaut und abgesichert. Die Anwohner fragen sich: Was ist mit uns? Sind Medaillen wirklich wichtiger? Warum geht nach drei Jahren noch immer nichts vorwärts?
Schönau am Königssee - Es ist drei Jahre her, und trotzdem bekommt es Franz Walch jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn es stark regnet oder Unwetter vorhergesagt werden. „Ich kriege Panikattacken, kann nachts nicht schlafen und schaue ständig aus dem Fenster“, erzählt der Anwohner, der in der Fischmichlstraße in Schönau am Königssee wohnt. Er hat stets Sandsäcke, eine Schaufel und einen Lichtstrahler bereitstehen, um im Notfall zumindest ein bisschen gerüstet zu sein.
Denn er weiß noch genau, wie vor drei Jahren eine Mure sein Haus traf. Und als die Feuerwehr ihn und seine Frau am frühen Morgen aus dem Schlaf klingelte, weil das Haus evakuiert werden musste. Ein großer Fels drohte abzubrechen und ins Tal zu stürzen. „Ich habe schon als Kind erlebt, wie ein deutlich kleinerer Fels in eine Hauswand krachte. Das wünscht man wirklich niemandem“. Er bekam sogar von der Gemeinde ein Schreiben, in dem ihm empfohlen wurde, dass ihr Schlafzimmer nicht in Richtung Grünstein liegen sollte. Seit drei Jahren wandert nicht nur sein Blick immer wieder nach oben in Richtung Berg, und er fragt sich jedes Mal aufs Neue: Kommt es wieder zum Unglück?
Als „Bernd“ für Dauerregen sorgte
Die Erinnerungen an den 17. Juli 2021 sind noch immer bei vielen Anwohnern präsent. Und sie werden vielleicht nie verschwinden. Es war jener verhängnisvoller Tag, an dem das Tiefdruckgebiet „Bernd“ für ein Jahrhundert-Hochwasser im Berchtesgadener Talkessel sorgte. Der Regen verursachte Überschwemmungen, Hangrutsche und Muren. Vor allem in der Hochwald-, Fischmichl- und Vorbergsiedlung rund um den Grünstein kam es zu großen Schäden.
Michael Lochner zum Beispiel hat wie so viele Betroffene diesen Tag noch immer ganz genau vor Augen. „Ich hatte großes Glück“, betont er. In einem Fotobuch zeigt er die Aufnahmen von den Schäden rund um sein Haus, das wie die Nachbargebäude in der Fischmichlstraße von einer Mure getroffen wurde. Lochner weiß noch, wie sich der Schlamm beinahe in sein Haus hinein drückte. Es fehlten nur wenige Zentimeter. An seinem Haus selbst entstanden zwar keine Schäden. Doch der komplette Garten wurde zerstört. Die Gartenmöbel waren kaum wiederzuerkennen, wie ein Foto zeigt. Ganz so, als wären sie in eine Schrottpresse geraten.
Bauplätze von der Gemeinde zugewiesen
„Bei mir und meinen Nachbarn landete der ganze Schlamm. Und das Wasser floss darüber in Richtung Straße zu den anderen Häusern“, erklärt der ehemalige Gemeinderat, als er durch seinen Garten führt. Direkt dahinter geht es hinauf zu einem Damm, der schon vor dem Unglück bestand. Wie Lochner erzählt, wurde dieser damals vom Wasserwirtschaftsamt Traunstein, als die Siedlung vor mehr als drei Jahrzehnten entstand, angelegt. Er war jung, gründete eine Familie und bekam den Bauplatz von der Gemeinde zugewiesen. Dort baute er ein großes Mehrfamilienhaus, in dem er noch heute lebt.
Er kann sich nicht daran erinnern, dass jemals Wasser- oder Schlammmassen über den Damm kamen. Doch der 17. Juli 2021 stellte alles in den Schatten. Ihm zufolge wurde danach die Grube hinter dem Damm nochmal tiefer ausgegraben und es entstand ein provisorisches Auffangbecken. Doch passiert ist seitdem nichts mehr, von den angekündigten massiven Schutzmaßnahmen ist nichts zu sehen. Das sorgt nicht nur bei Lochner für Frust.
Stimmen die Prioritäten am Grünstein?
Ein Anwohner, der anonym bleiben möchte, fragt sich: „Die Bobbahn wird schon längst wieder aufgebaut. Gehen Medaillen vor Menschenleben?“ Sie alle hätten jedes Mal Sorgen, wenn die Wettervorhersage Starkregen ankündige. Das bestätigt auch Andreas Pfnür, der in der Siedlung wohnt und im Gemeinderat von Schönau sitzt. Dort brachte er das Thema schon zur Sprache und fragte nach, wieso nach drei Jahren noch immer nichts passiert ist. Im Gespräch sagt er mit Blick auf den Grünstein: „Da ist Gefahr in Vollzug und da muss etwas passieren.“
Für ihn ist klar: „Der Berg muss rundherum abgesichert und ein Weg gefunden werden, wie das Wasser in Richtung Königsseer Ache gelenkt werden kann“. Pfnür verweist auch darauf, dass zu erwarten sei, dass die Starkregenereignisse aufgrund des Klimawandels auch im Berchtesgadener Land häufiger vorkommen könnten. Das bestätigte vor zwei Jahren auch schon ein Hydrologe des Nationalparks. Deutliche Kritik gab es schon vom Bund Naturschutz, der vor wenigen Wochen beklagte, dass die Einwände zum „Pulverfass“ Grünstein „einfach weggewischt“ wurden. Kurze Zeit später wurde bekannt, dass an einem Steilhang hinter der Kunsteisbahn am Königssee ein tiefer Riss von den Behörden überwacht wird.
Aufräumarbeiten in Schönau am Königssee




Schutzwald verliert seine Funktion
Pfnür verweist darauf, dass auch die Hochwald-Siedlung vor drei Jahren schwer getroffen wurde. „Dort gibt es quasi gar keinen Hochwasserschutz, nicht mal etwas Provisorisches. Da sind auch viele Keller mit Wasser vollgelaufen.“ Er sieht ein Problem auch darin, dass der Schutzwald am Fuße des Grünsteins zum Teil in privaten Händen liegt und nicht komplett im staatlichen Besitz. Es seien einige lichte und kaputte Stellen zu sehen, in denen der Borkenkäfer gewütet habe. „Private Besitzer sind oft gar nicht in der Lage, ihren Wald zu pflegen. Doch als Schutzwald erfüllt das Gebiet eine wichtige Funktion bei solchen Ereignissen“, betont er. Es müsse auch darüber nachgedacht werden, dass die Besitzer ausbezahlt und die Flächen der Forstbehörde übergeben werden.
Die Borkenkäfer-Bäume fallen beim nächsten Unwetter vielleicht alle um.
Auch Franz Walch hält es für problematisch, dass der Schutzwald nicht richtig gepflegt werde. „Die Borkenkäfer-Bäume fallen beim nächsten Unwetter vielleicht alle um“, glaubt er. Dann drohe nicht nur bei Regen, sondern auch bei starkem Schneefall durch Lawinen Gefahr. Und sein Nachbar Lochner verweist darauf, dass es am Grünstein früher sogenannte Krainerwände gab. Diese Schutzbauwerke hätten immerhin die Abfließgeschwindigkeit des Wassers auf seinem Weg nach unten reduziert. „Die wurden damals bei der Entstehung der Siedlung angelegt. Sie wurden zerstört und unterspült, aber seitdem nicht mehr wiederaufgebaut. Damit könnte man auch für mehr Sicherheit sorgen“, findet er.
Wie Versprechen von Scholz, Söder und Co.
Er will nicht nur das Traunsteiner Wasserwirtschaftsamt, das für den Hochwasserschutz verantwortlich ist, kritisieren. Das ist ihm zu einfach. Der Ex-Gemeinderat sieht zum Beispiel auch die Gemeinde, das Landratsamt oder das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (AELF) Traunstein in der Pflicht. „Die Gemeinde hat damals das Bebauungsgebiet ausgewiesen, nicht das Wasserwirtschaftsamt.“ Nicht nur ihm stoßen die Verzögerungen, sondern das gesamte Verhalten der Behörden und Politiker sauer auf.
- In einem zweiten Artikel nehmen der Schönauer Bürgermeister Hannes Rasp und das Wasserwirtschaftsamt Traunstein Stellung. Die Behörde erklärt auch, wieso die Maßnahmen noch auf sich warten lassen und wie es am Grünstein weitergehen soll.
Als kurz nach dem Unglück hochrangige Politiker wie der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz oder Bayerns Ministerpräsident Markus Söder zu Besuch kamen, seien große Versprechungen gemacht worden. „Dass man sich dafür einsetzen werde, dass alles gesichert werde und dass der Siedlungsschutz Vorrang habe vor dem Wiederaufbau der Bobbahn“, erinnert sich Lochner.
Sofort-Hilfen haben funktioniert
Er will nicht undankbar klingen, denn die Hilfen direkt nach dem Hochwasser sei reibungslos verlaufen. Sein Schaden in Höhe von 25.000 Euro sei ihm zum Großteil durch die Versicherung erstattet worden. Den Rest erhielt er durch den Freistaat und einen Spendentopf aus dem Landkreis. „Auch die Unterstützung beim Wiederaufbau hat funktioniert“, sagt er mit Blick auf das Fotoalbum, in dem Bilder von Aufräumarbeiten in der Straße zu sehen sind.
Ihm geht es vor allem darum, dass die Anwohner der Siedlungen weiterhin auf den versprochenen Schutzmaßnahmen warten. Auch der Wiederaufbau der Bobbahn sorgt für Unverständnis. „Ich bin kein Gegner der Bahn und möchte das nicht grundsätzlich verdonnern. Auch dort waren Anwohner betroffen und der Sport ist wichtig für die Region“, führt Lochner aus. „Doch es ist furchtbar zu sehen, dass dort Innenminister Joachim Hermann beim Startschuss der Bauarbeiten vor Ort auftaucht und man Schlagzeilen lesen muss, dass man in zwei Jahren wieder Medaillen feiern will.“
„Weniger reden, mehr machen“
Auch die anderen Anwohner äußern sich ähnlich: Während dort der politische Wille offenbar vorhanden ist, die Baumaßnahmen schnellstmöglich durchzuführen, fühlen sich die Menschen aus den Wohnsiedlungen alleingelassen. Auch Walch fordert: „Weniger reden, mehr machen.“ Es seien nun drei Jahre vergangen, ohne dass es vorwärtsgegangen sei. „Es hilft uns auch nichts, wenn die Verantwortlichen und Behörden jeweils auf den anderen verweisen. Es müssen Prioritäten gesetzt werden.“ Ihm sei zugetragen wurden, dass die Maßnahmen angeblich frühestens 2027 starten. „Wenn wir wüssten, dass es 2025 losgeht, würden wir alle nichts sagen. Aber so besteht die Möglichkeit, dass es nicht bei 2027 bleibt, sondern noch später wird. Das stößt uns allen sauer auf.“
Bei seinem Nachbar Lochner ist der Ärger mittlerweile so groß, dass er vor wenigen Wochen einen dreiseitigen Frustbrief an die Gemeinderäte aus seiner damaligen Fraktion schrieb, für die er bis 2020 noch im Gremium saß. Er will Druck ausüben - auch, weil er befürchtet, dass es langfristig beim provisorischen Auffangbecken bleibt. Immerhin sei wohl aufgrund des Briefes wieder Bewegung in das Thema gekommen, so Lochner. Es solle sogar angeblich noch in diesem Jahr eine Vor-Ort-Besichtigung geben, um das weitere Prozedere zu besprechen.
Auch das passt zur Situation am Grünstein: Genaue Informationen über das weitere Vorgehen und den Zeitplan scheint es für die Anwohner nicht zu geben. Man könnte es auch so beschreiben: Sie werden im Regen stehen gelassen. Bei jedem Starkregen oder Unwetter blicken sie in Richtung Grünstein. Das geht so weit, dass sie dann auf gepackten Koffern sitzen und nachts unruhig schlafen. Lochner geht dann mit Stirn- oder Taschenlampe raus in seinen Garten und hinauf auf den Damm, um nach dem Rechten zu sehen. „Wenn ich die anderen Lichtkegel der Nachbarn sehe, weiß ich, dass ich nicht der Einzige bin. Wir alle haben Angst, dass wieder etwas passiert.“ (ms)





