Was machen „Bavaria“ und Co.?
Verliert der Nationalpark Berchtesgaden bald seine Bartgeier? „Vinzenz“ und „Wiggerl“ werden flügge
Sie haben es eiliger als ihre Vorgänger: „Vinzenz“ und „Wiggerl“ verlassen immer häufiger ihre Heimat in der Halsgrube und erkunden die Gegend. Das sorgt durchaus für brenzlige Situationen. Vor allem eine Fuchs-Begegnung ließ Ulrich Brendel und das Projektteam von Nationalpark Berchtesgaden und LBV die Luft anhalten. Der Leiter des Bartgeiermonitorings im Nationalpark erklärt, warum diese Erfahrungen so wichtig sind, wann sich das Duo endgültig verabschieden könnte und wie es 2025 weitergeht.
Berchtesgaden - Damit haben Brendel und sein Team nicht gerechnet. Schon deutlich früher als die Bartgeier der Vorjahre fangen „Vinzenz“ und „Wiggerl“ an, ihre Heimat zu verlassen und zum Beispiel die Reiteralm zu erkunden. „Wir sind überrascht, wie schnell sie in der Lage waren, die Thermik-Verhältnisse in der Halsgrube zu nutzen. Das ist ein großer Unterschied zu den Vorjahren, als diese Entwicklung erst drei bis vier Wochen später einsetzte“, schildert der Leiter des Bartgeiermonitorings im Nationalpark.
Dieser Erkundungsdrang sorgt natürlich auch für einen früheren Kontakt mit anderen Tieren, zum Beispiel Steinadlern, Krähen und Turmfalken. Auch mit einer Gams gab es vor einigen Wochen bereits einen „Schreckmoment“. „Da ist man sich nicht immer sympathisch. Jagen und gejagt werden, das gehört zur Schule des Lebens. Das müssen sie lernen und wir können nur hoffen, dass diese Begegnungen glimpflich ausgehen“, meint Brendel. Die Bartgeier selbst seien territoriale Vögel, die ein bis zu 300 Quadratkilometer großes Revier streng verteidigen, wenn sie sich dort niedergelassen haben.
Durchatmen nach Fuchs-Begegnung
Trotzdem müssen sie auch lernen, von wem sie sich fernhalten sollten. Passend dazu gab es einen Vorfall mit einem Fuchs, der sich einem tagsüber schlafenden Bartgeier bis auf wenige Zentimeter näherte und an ihm schnupperte. Brendel: „Wir haben richtig mitgefiebert und die Luft angehalten. Der Fuchs wusste wohl selbst nicht genau, womit er es zu tun hatte, denn der Bartgeier ist doch deutlich größer als die sprichwörtliche Gans.“
Das Team filmte diesen Vorfall und war erleichtert, als der Fuchs wieder weiterzog. Erst dann wachte der Bartgeier auf, streckte sich und breitete seine Schwingen aus. „Diese Reaktion hätten wir uns natürlich früher gewünscht, aber die Vögel müssen verstehen, dass sie nicht einfach irgendwo herumsitzen können. Sie müssen aufmerksam und vorsichtig sein, insofern war das ein wichtiger Lernprozess.“
Auch vor Gewittern und anderen Gefahren in Acht nehmen
Tatsächlich gab es laut Brendel schon Vorfälle, bei den ausgewilderte Bartgeier von Füchsen „attackiert“ wurden. Doch er glaubt, dass es sich eher um missglückte Annäherungsversuche handelte, die in Unfällen endeten. Trotzdem sind solche Momente nicht ungefährlich.
Das gilt auch für heraufziehende Gewitter oder wenn die Tiere erstmals auf ihrer Felsnische fliegen und draußen sitzen. „Normalerweise bringen ihnen dann die Eltern bei, dass sie bei Unwettern Schutz suchen müssen. Deshalb wildern wir bei uns im Nationalpark auch immer zwei Bartgeier gleichzeitig aus, damit sie voneinander lernen“, erklärt Brendel. Er vermutet, dass ein Gewitter verbunden mit einem Steinschlag auch beim Tod der Bartgeierdame Wally eine Rolle gespielt haben könnte.
„Mitbringsel“ von der Reiter Alm
Mittlerweile suchen „Vinzenz“ und „Wiggerl“ die drei Futterplätze in der Halsgrube selbständig auf. Ein wichtiger Erfolg, denn später sollen sie genau in diesen Steinschlag- und Felsrinnen nach Nahrung suchen. Brendel und sein Team, das in der Monitoring-Hütte das Duo von morgens bis abends beobachtet, achten auch auf Mitbringsel. „Wenn sie von ihren Erkundungsflügen, zum Beispiel von der Reiter Alm, Knochen mitbringen, sind das positive Zeichen für uns. Dann ist die nächste Stufe der Selbstständigkeit erreicht“, sagt Brendel.
Dann ist die nächste Stufe der Selbstständigkeit erreicht.
Ihm zufolge wird es nicht mehr lange dauern, bis sie auswärts übernachten. Je mehr sie größere Flugstrecken zurücklegen und größere Gebiete absuchen, je besser sie sich außerhalb des Nationparks zurechtfinden und vor allem Nahrung finden, desto eher kann dies eine Initialzündung darstellen. Brendel meint damit, dass „Vinzenz“ und „Wiggerl“ von heute auf morgen weg sein könnten. „Der Drang wird durch diese Erfahrungen verstärkt. Das ist eine normale Entwicklung.“ Das heißt jedoch nicht, dass die beiden nie wieder im Nationalpark auftauchen.
Besuche von alten Bekannten
Im Vorjahr war „Nepomuk“ wochenlang nicht mehr da und kam dann im Herbst für zwei Wochen, eher er dann endgültig aufbrach. Auch „Recka“ schaute ein paar Mal nach dem Rechten in ihrer alten Heimat. „Jeder Vogel ist anders und wir können das nie so ganz genau vorhersagen“, meint Brendel. Viele dieser Vorgänge erinnern ein wenig an Kinder: Sie werden größer und selbstständiger, übernachten irgendwann das erste Mal bei Freunden und ziehen dann eines Tages aus. Häufig ein emotionaler Moment für die Eltern - so war es auch die ersten Male im Bartgeiermonitoring.
„Diejenigen, die jedes Jahr dabei sind, sehen das mittlerweile professioneller und weniger emotional. Wir wissen: Wenn die Vögel eines Tages nicht mehr auftauchen, geschieht das nicht aus Undankbarkeit“, berichtet der Leiter des Auswilderungsprojektes. Vielmehr steige die Freude bei den erfahrenen Kollegen, wenn sich eines der Tiere in der Nähe des Nationalparks ansiedelt.
Entsteht in der Nachbarschaft ein Bartgeier-Revier?
Das gilt für „Bavaria“, die sich im vierten Jahr nach ihrer Auswilderung der Geschlechtsreife nähert und aktuell im Blühnbachtal zwischen dem Hagengebirge und dem Hochkönig, also in direkter Nachbarschaft zum Nationalpark, aufhält. Dort wird sie auch immer wieder von Wanderern gesichtet und mittlerweile hat sich auch ihr Gefieder stark verändert. „Da steigt die Spannung, ob sie einen Partner finden und dann ein Revier gründen wird. Das sind die Emotionen, die uns packen“, erzählt Brendel. Doch für die Kollegen, die jedes Jahr neu dazukommen und sich permanent von früh bis spät beim Infostand und der Monitoring-Hütte aufhalten, für die fällt der Abschied von „ihren“ Vögeln doch mitunter emotional aus. „Die sind mit sehr viel Herzblut dabei“, weiß Brendel.
Die sind mit sehr viel Herzblut dabei.
Da alle Bartgeier mit GPS-Sendern ausgestattet sind und Telemetrie-Daten liefern, sind auch die Standorte und Zustände der anderen Vorgänger von „Vinzenz“ und „Wiggerl“ bekannt. Obwohl sich „Sisi“ und „Nepomuk“ im Sommer 2023 unzertrennlich zeigten, gingen die beiden sofort mit den ersten Ausflügen aus der Halsgrube getrennte Wege. „Dagmar“ treibt sich wohl gerne in im Bereich Schweizer/französische Alpen herum, während sich „Recka“ beim Großglockner und bei Matrei in Osttirol aufhält.
Im Nationalpark nur Platz für ein Paar
Unter den Mitarbeitern des Nationalparks herrscht natürlich die Hoffnung, dass sich die Tiere in der Nähe ihres „Geburtsortes“ ansiedeln. Laut Brendel ist damit der Ort ihrer Auswilderung, also die Halsgrube, gemeint. Optimal wäre es, wenn sich die Bartgeier dann Stück für Stück in Richtung Ostalpen ausbreiten. Da laut Brendel in Bulgarien ein ähnliches Auswilderungsprojekt startet, soll damit die Populationslücke von der anderen Seite geschlossen werden.
Im Nationalpark selbst wäre übrigens nur Platz für ein Pärchen. „Mehr gibt die Fläche nicht her. Und wenn sich hier ein Bartgeier ansiedeln und anfängt, sein Revier zu verteidigen, dann müssen wir uns für die künftige Auswilderung einen neuen Ort suchen“, erläutert Brendel.
Auch nächtes Jahr wieder Zuwachs geplant
Bis 2030 wird das bayerische Bartgeierprojekt zwischen dem Nationalpark Berchtesgaden und seinem Projektpartner, dem Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV), durchgeführt. Auch für das nächste Jahr planen Brendel und seine Mitarbeiter wieder mit zwei Vögeln. „Voraussetzung dafür ist, dass die Zucht auch erfolgreich verläuft. Wir spielen eine zentrale Schlüsselrolle für die Ostalpen und erhalten wirklich nur im Falle eines ganz schlechten Bruterfolgs keine Tiere.“ Bis es dann im Mai oder Anfang Juni hoffentlich wieder so weit ist, muss in der Zwischenzeit wieder ein Team akquiriert werden. Bewerbungsgespräche für über 30 Praktikumsplätze, eine große Anzahl an freiwilligen Helfern vom LBV, dazu die Fortbildungen: Der Aufwand ist immens, wie Brendel betont.
Wir spielen eine zentrale Schlüsselrolle für die Ostalpen und erhalten wirklich nur im Falle eines ganz schlechten Bruterfolgs keine Tiere.
Doch es lohnt sich, wie auch das Interesse der Besucher im Nationalpark zeigt. Allein im Vorjahr kamen über 8500 Besucher zum Infostand, für den immerhin 400 Höhenmeter zurückgelegt werden müssen. Viele kommen nur wegen der Bartgeier und übernachten dann in der Region. „Die Bedeutung ist nicht zu vernachlässigen. Die Bartgeier sorgen als gelungenes Artenschutzprojekt für positive Nachrichten“, so Brendel.
Große Begeisterung und Akzeptanz
Dem Nationalpark ist auch die Verbindung zur einheimischen Bevölkerung sehr wichtig, weshalb einer der Bartgeier auch „Vinzenz“, also nach dem Namenspatron der Gemeinde Ramsau, genannt wird. „Wir wollen damit klarmachen, dass dieses Projekt nicht nur für den Park, sondern auch für die Menschen und das Ökosystem vor Ort wichtig ist. Die Tiere waren damals ausgerottet, doch jetzt kehren sie wieder in die Natur zurück.“
Die Auswilderung sei auch nicht vergleichbar mit der Rückkehr des Wolfs, die immer für Diskussionen sorgt. Wie Brendel schildert, gibt es für die Bartgeier genauso wie für die Steinadler durchgehend nur Begeisterung. Er findet: „Beide sind so positiv behaftet und lassen als wichtige Botschafter die Augen und Ohren der Besucher größer werden. Sie öffnen damit die Herzen der Menschen.“ (ms)

