Als Nachfolgerin von Rainer Hoffmann leitet Dr. Franziska Fritz seit einem Jahr als Kreisgeschäftsführerin die Geschicke der Caritas Berchtesgadener Land. Im Interview verrät die 40-Jährige, welches Fazit sie nach einem Jahr im Amt zieht, welche Themen sie am meisten beschäftigen und weshalb der Personalmangel in der Pflege noch nicht am Höhepunkt angekommen ist.
Bad Reichenhall - Bevor Fritz 2009 dem Caritasverband beitrat, studierte sie Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Religionswissenschaft in München und Erfurt. Im Februar 2023 folgte der Wechsel zur Caritas BGL, ehe einen Monat später die Amtsübergabe von Vorgänger Rainer Hoffmann stattfand. Zeit genug, ein erstes Fazit zu ziehen und auf künftige Aufgaben zu blicken. Klar ist: Die Angebote der Caritas im Landkreis werden stark nachgefragt, es hakt eher an anderen Stellen, wie sie erzählt.
Frau Dr. Fritz, seit einem Jahr arbeiten Sie als Kreisgeschäftsführerin für die Caritas im Berchtesgadener Land. Erzählen Sie mal, wie kam es dazu?
Ich bin schon länger bei der Caritas und habe direkt parallel zum Studium als Praktikantin beim Caritasverband angefangen, damals im Fortbildungsinstitut in München. Mir war es wichtig, ein Tätigkeitsfeld zu finden, das sehr mit Sinn verknüpft ist und wo ich etwas für die Gesellschaft beitragen kann. Und die Caritas entspricht sehr meinen Vorstellungen und Werten. Im Caritasverband habe ich an Zukunftsprojekten, Strategiearbeit und Organisationsentwicklung mitgearbeitet. 2018 bin ich dann in den Geschäftsbereich der Caritas München gewechselt. Die dortigen Aufgaben sind sehr vergleichbar mit den Tätigkeiten hier im Caritaszentrum. Das Führen des Teams und den Betrieb mit all seinen verschiedenen Sparten am Laufen zu halten, das sind meine Hauptaufgaben. Die Chance, ins Berchtesgadener Land zu wechseln, kam mir sehr entgegen, weil ich im Landkreis wohne. Es ist schön, dass die Pendelei wegfällt und ich mich in meinem Heimatlandkreis einbringen kann. Und natürlich habe ich hier vor Ort schon Kontakte und ein entsprechendes Netzwerk.
Wie fällt denn so das Fazit für das erste Jahr aus?
Es war ein schönes und spannendes erstes Jahr, in dem ich ganz tollen Menschen sowie unseren fantastischen Mitarbeitern begegnet bin. Ich habe die Caritas hier im Landkreis in allen möglichen Diensten, Einrichtungen und Berufsgruppen - von der Pflege über die Köche, die Erzieher und die Sozialarbeiter - kennengelernt. Das sind eine ganze Menge und ich habe gesehen, in wie vielen Bereichen wir tätig sind und der Gesellschaft und den Menschen einen guten Dienst erweisen. Insofern war es ein durchweg positives erstes Jahr.
Nach einem Jahr lässt sich die Situation sicherlich gut einschätzen. Was läuft aus ihrer Sicht gut?
Was sehr gut läuft, ist die Basisarbeit hier im Landkreis. Unsere ureigene Aufgabe ist es, für Menschen da zu sein, die Rat und Hilfe brauchen. Das erfüllen wir im großen Stil für den Landkreis mit unterschiedlichen Beratungseinrichtungen. Und da machen wir fachlich und qualitativ einen sehr guten Job.
Wo gibt es Nachholbedarf beziehungsweise vor welchen Aufgaben stehen Sie und Ihr Team?
Wir haben natürlich große gesellschaftliche Herausforderungen. Auch bei uns in diesem schönen, idyllischen Landkreis stehen wir vor einem riesigen Wohnungsnot-Thema, das natürlich gerade unsere Klientinnen und Klienten stark betrifft, weil sie armutsgefährdet sind, Suchterkrankungen haben oder alleinerziehend sind, mit vielen Kindern. Oder Menschen mit einem Migrationshintergrund, die aus der Unterkunft nicht ausziehen können, obwohl sie dürften, aber keine Wohnung finden. Das ist eine große Herausforderung, vor der wir jetzt stehen und die wir als Caritas auch nicht alleine lösen werden. Dafür braucht es ein großes Bündnis. Und natürlich läuft auch die Pflege in dem Rahmen, wie wir sie tun, sehr gut, aber da ist der Personalmangel deutlich spürbar und wir sind noch nicht am Höhepunkt davon angekommen.
Wie kommt diese Einschätzung zustande?
Aus den Fluktuationsdaten oder Renteneintrittsdaten der Belegschaft lässt sich ungefähr schlussfolgern, wann der Peak der Renteneintritte erfolgt. Der ist noch nicht erreicht und wir wissen, wie viele Menschen ungefähr jedes Jahr neu bei uns in der Pflege anfangen. Wenn ich die Zahlen gegenüberstelle, dann ist ganz klar, dass noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist, dass sich dieser Pflegemangel noch weiter verschärfen wird und dass sich die Gesellschaft dringend Lösungen überlegen muss. Das ist auch ein Thema, das die Caritas nicht für sich alleine beheben kann. Da müssen gesellschaftlich und politisch andere Weichen gestellt werden.
Das heißt, es droht in der Zukunft, dass manche Angebote nicht mehr geschultert werden können, weil es schlicht und ergreifend das nötige Personal nicht gibt?
An den Punkt kommen wir garantiert. Zum Teil findet das jetzt schon statt, egal ob es die Altenheime oder Kliniken sind. Teilweise müssen dort die Betten leer bleiben, weil nicht genügend Personal da ist, das die Pflege übernehmen kann. Das ist gar kein fernes Szenario, das alles ist noch nicht der Höhepunkt. Und da sollten wir dringend Anstrengungen unternehmen und gegensteuern, damit unser gutes soziales Netz bestehen bleibt.
Wie kann die Caritas als Arbeitgeber attraktiver werden, worauf kommt es Ihrer Meinung nach an?
Wir haben hier ein sehr gutes Arbeitsklima und tun sehr viel für gute Rahmenbedingungen für die Mitarbeitenden, damit sie sich wohlfühlen und sich einbringen können in Entscheidungen. Das gilt auch für Führungspositionen, wo wir geteilte Führungen ermöglichen. Mit einer Art Jobsharing-Modell sollen auch Familie und Beruf besser vereinbart werden können und um Mitarbeiter vor dem Burnout zu bewahren, der im sozialen Bereich leider recht häufig vorkommt. Dem beugen wir vor, mit neuen Arbeitsmodellen, und sorgen für gute Rahmenbedingungen auf allen Ebenen. Und gerade der Punkt, dass das Leben nicht nur aus Erwerbsarbeit besteht, spielt für die Jüngeren eine immer größere Rolle.
Sie haben gesagt, dass die Caritas diese Herausforderungen nicht alleine schultern kann. Wie kann die Politik Ihnen unter die Arme greifen? Gibt es Forderungen in Richtung Bundes-, aber auch Landes- und Kommunalpolitik?
Es wäre zu einfach zu fordern, dass „die Politik” dies oder das machen soll. Wir haben nicht immer den einen Kostenträger gegenüber, denn unsere Finanzierungsmodelle setzen sich in der Regel unterschiedlich zusammen. Was ich gesellschaftlich wichtig finde ist, dass wir uns weiterhin ein gutes soziales Netz leisten und das als Investition in die soziale Infrastruktur auch betrachten. Und die muss finanziell gut ausgestaltet sein. Damit meine ich nicht einzelne Kostenträger, sondern insgesamt sollten wir uns als Gesellschaft bewusst sein, dass Wirtschaft nicht alleine die produzierende Wirtschaft ist, sondern unmittelbar notwendig der Care-Bereich mit dazugehört. Das Sich-Kümmern - alles, was hier im bezahlten oder nicht bezahlten Bereich auch läuft - ist die Voraussetzung dafür, dass die Wirtschaft produzieren oder Dienste leisten kann. Wenn wir über Wirtschaft sprechen, dann fällt dieser Bereich gerne weg, obwohl er so notwendig ist und gerne immer nur mit den Kosten in Verbindung gebracht wird. Dann heißt es, dass die Kinder- und Jugendhilfe ja so viel kostet. Dass es sich aber um sinnvolle, erwünschte Investitionen handelt, kommt mir oft ein bisschen zu kurz. Und dafür sollte der Gesetzgeber alles tun, um diesen Bereich gut zu gestalten und zu finanzieren, denn er kommt allen zugute.
Dadurch, dass die schon länger bei der Caritas arbeiten, haben sie sicherlich einen guten Gesamtüberblick. Pflege, Kitas, Wohnungen: Alles Themen, bei denen die Probleme schon seit vielen Jahren bekannt sind, doch gefühlt tut sich nichts. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Das ist wie beim Klimawandel. Der ist auch ganz lange bekannt, aber die Lösungen sind eben schwierig und nicht einfach umsetzbar. Und es sind vor allem mittel- und langfristige Anstrengungen, die sind immer ein bisschen unattraktiver als die schnellen Quick-Wins, die ich mit einer Maßnahme abhandeln kann. Wir müssen zusammen langfristige Ziele definieren, an die wir uns als große Mehrheit binden. Und das müssen wir unabhängig von Wahlperioden hinbekommen.
Als Caritas decken Sie viele Sozialthemen ab. Gibt es Bereich, in denen die Nachfrage gestiegen ist? Oder vielleicht sogar gesunken?
Grundsätzlich haben wir kein Nachfrage-Problem. Unsere Angebote gibt es ja nur deshalb, weil viele Menschen sie brauchen. Was natürlich zunimmt, sind die Zahlen in der Armutsarbeit. Was sich gesellschaftlich im Zusammenhang mit der Inflation abspielt, spiegelt sich in den Beratungsstellen wider. Oder was die Corona-Pandemie und die Schulschließungen angerichtet haben in den Familien, das erleben wir jetzt hautnah in der Familienberatung - mit so vielen Anfragen, wie wir sie noch nie hatten.
Welche Themen bewegen Sie nach einem Jahr Amtszeit am meisten?
Wir haben als Caritas den Anspruch, für eine offene, vielfältige, solidarische Gesellschaft einzutreten. Und wir verfolgen gerade Bewegungen in unserer Gesellschaft, die dem sehr entgegenstehen, einen Rechtsruck, der mir große Sorgen bereitet. Wir sehen es als Aufgabe, Demokratie zu fördern und für Solidarität und Vielfalt in der Gesellschaft einzutreten. Das ist ein wichtiges Aufgabenfeld, das wir auch noch ausbauen wollen. Und das Thema Engagement bei 16- bis 26-Jährigen wäre mir ganz wichtig. Wir haben eine sehr gute und vielfältige Ehrenamtsbasis und viele, die mit anpacken, gerade auch in dem Bereich Migration und Flucht. Ich glaube, wir können noch zulegen, wenn es um das Mitreißen der ganz Jungen geht - gerade bei Themen wie Armutsarbeit, Klimaschutz und Obdachlosigkeit. Wir müssen sie mehr heranführen, dass es einem selbst Sinn gibt, wenn man mit anpackt und andere unterstützt. Ich glaube, das sind wichtige Erfahrungen für junge Menschen.
Schwenken wir zu einem aktuellen Thema aus der Politik, das auch die Caritas betreffen wird: die Legalisierung von Cannabis. Welche Auswirkungen wird das auf Ihre Angebote haben?
Also auf jeden Fall wird es etwas verändern in der Suchtberatung. Es wird Verschiebungen geben: hin zu mehr Prävention, weil es weniger Aufgriffe geben wird durch die Polizei. Die Herausforderungen in diesem Feld werden durch die Legalisierung sicher nicht kleiner.
Gibt es Ihrer Wahrnehmung nach ein Thema, das momentan ein wenig unter dem Radar fliegt? Was vielen Menschen gar nicht so bewusst ist, dass es immer mehr zu einem Problem oder einer Herausforderung wird.
Das ist kein ausschließliches soziales Thema, aber ich glaube, dass der Klimawandel momentan weit weggeschoben wird von einigen Teilen der Gesellschaft. Wir stehen jetzt in der Verantwortung, unsere Wirtschaft und unser Leben umzubauen und klimaneutral zu werden. Es wird wenig darüber gesprochen, dass das unser Ziel sein muss, dass es gar nicht anders geht und wie wir das tatsächlich erreichen wollen. Am ehesten noch bei Themen wie dem Heizungsgesetz und der Frage, welche Heizung ich als Privatperson einbaue. Aber dieser Privatbereich ist nur ein sehr kleiner Aspekt. Wir sollten gerade in der Wirtschaft und in der Sozialwirtschaft darüber sprechen: Wie werden wir klimaneutraler? Wir leisten als Sozialwirtschaft sehr viel für die Gesellschaft, aber auch wir sind gefordert, uns nachhaltiger aufzustellen, Emissionen zu vermeiden. Dafür bräuchten wir eigentlich strukturierte Förderprogramme. Das fehlt und es gibt noch keinen strukturierten Prozess dahin.
Mit Blick auf die kommenden Jahre: Was sind im Berchtesgadener Land die größten Aufgaben, die anstehen?
Wir müssen im Landkreis an der Armutsbekämpfung dranbleiben und verhindern, dass mehr Menschen in Armut abrutschen und ihre Wohnung verlieren. Denn das sorgt umgekehrt wieder dafür, dass wir sehr viel Ungerechtigkeit, Spannung und Spaltung in der Gesellschaft haben. Das wollen wir nicht, sondern wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält und solidarisch untereinander ist. Wir sollten uns unserer Verantwortung für Nächstenliebe und Gerechtigkeit sehr bewusst werden, es willkommen heißen und schätzen, dass wir alle verschieden sind. Es hilft in allen Krisen, sehr früh anzusetzen und die Weichen zu stellen, bevor sich die Krisen vertiefen. Das ist unser Ansatz: Präventiv handeln, Schwierigkeiten, vorausschauend und frühzeitig angehen.