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Münchner-Merkur-Interview

Teure Nachrichten für Kassenpatienten: Beiträge werden wohl auch „nächstes Jahr steigen“

Milliardendefizit, schrumpfende Rücklagen, erhöhte Kosten: Um die Krankenversicherung steht es schlecht – und das bleibt wohl so. „Es gibt derzeit kein wirkliches Konzept“, beklagt der vdek im Interview.

Zum Jahresanfang gab es für viele Versicherte eine unangenehme Überraschung auf dem Konto: Viele Krankenkassen erhöhten ihren Beitrag. Schuld ist ein Milliardenloch im Gesundheitssystem – das sich offenbar so schnell nicht schließen lässt.

Der Verband der Ersatzkassen (vdek) vertritt die größten Krankenkassen Deutschlands: die Barmer Ersatzkasse, DAK-Gesundheit, Handels-, Hanseatische, Kaufmännische und Techniker Krankenkasse. Im Interview gehen Sprecherin Michaela Gottfried sowie Versorgungsexperte Boris von Maydell auf den Zustand der Krankenkassen ein. Sie stellen ein neues Ärztekonzept vor, fordern Anpassungen beim Bürgergeld – und warnen vor weiteren Beitragserhöhungen.

Ein Problem am Knie oder ein anstehender Check am Herzen: Für viele Fachärzte bekommt man monatelang keinen Termin. Wie will der vdek das lösen?
Wir haben ein großes Problem bei der Vergabe von Arztterminen, verbunden mit langen Wartezeiten. Außerdem fehlt den Patienten die Orientierung, an welchen Arzt sie sich mit ihrem konkreten Problem wenden können. Auswertungen der Ersatzkassen zeigen, dass 20 Prozent der Patienten sechs und mehr unterschiedliche Arztpraxen im Jahr aufsuchen. Insbesondere bei Hausärzten, Gynäkologen und Orthopäden zeigt sich, dass Versicherte mehr als eine Arztpraxis im Jahr konsultieren. Das wird sich in den nächsten zehn Jahren durch die alternde Bevölkerung und Renteneintritte von Ärzten noch verschärfen. Wir brauchen also definitiv eine bessere Patientensteuerung. 
Auch die Bundesregierung plant, ein sogenanntes Primärarztsystem einzuführen. 
Wir als Ersatzkassen unterstützen den Ansatz einer Patientensteuerung ausdrücklich. Die Frage ist, wie man diesen ausgestaltet. Aus unserer Sicht sollte der Zugang zur Versorgung nicht zwingend allein über den Hausarzt erfolgen, sondern auf mehrere Schultern verteilt werden. Damit verhindern wir sowohl einen Flaschenhals, der die Hausärzte noch stärker belasten würde, und schaffen zugleich einen einfachen Zugang zur Versorgung von chronisch Erkrankten. Deshalb haben wir ein neues Modell entwickelt: das „Persönliche Ärzteteam“. Damit haben Versicherte die Wahl zwischen verschiedenen Zugängen ins Gesundheitssystem.
Welche?
Erstens: Der Hausarzt, er ist für viele Versicherte bereits heute die erste Anlaufstelle und wird weiterhin der zentrale Zugang zur Gesundheitsversorgung bleiben. Zweitens, eine telemedizinische Ersteinschätzung per Telefon, Video oder vollständig digital. Im Bedarfsfall erhalten Versicherte eine Überweisung zur Weiterbehandlung durch entsprechende Fachärzte. Und drittens: Jeder Versicherte kann abhängig seiner individuellen medizinischen Bedürfnisse bis zu drei Fachärzte benennen, die ohne Überweisung aufgesucht werden können – zum Beispiel Kardiologen, Ärzte für Innere Medizin oder Orthopäden. Das erleichtert insbesondere für chronisch Kranke den Zugang zu ihren behandelnden Fachärzten und würde verhindern, dass die Hausarztpraxen durch unnötige Fälle überlastet werden.
Bislang funktioniert das nicht? Man braucht immer eine Überweisung?
Wir haben in Deutschland die freie Arztwahl. Für bestimmte Fachgebiete braucht man allerdings eine Überweisung, etwa für einen Radiologen. Bei einem rein hausarztzentrierten Modell, wie es derzeit in der politischen Diskussion ist und wir es beispielsweise aus den Hausarztverträgen kennen, muss vor jedem Facharztkontakt der Hausarzt eine Überweisung ausstellen. Diesen zusätzlichen Arztkontakt wollen wir vermeiden und mit unserem Modell neben dem Hausarzt auch drei vom Versicherten gewählte Fachärzte einbeziehen. Bisher ist es so: Haben Sie zum Beispiel eine chronische kardiologische Erkrankung, werden Sie sehr häufig zum Kardiologen gehen. Dann ist es Unsinn, wenn Sie vor jedem Termin zum Hausarzt müssen, um die notwendige Überweisung abzuholen.
Das „persönliche Ärzteteam“ des vdek. „Dadurch werden unnötige Wartezeiten vermieden“, heißt es vom Verband.
Und durch die bessere Patientensteuerung müssten Patienten weniger lange warten?
Ja, wenn Patienten direkt in die richtige Versorgungsebene gelotst werden – also zum Beispiel zum richtigen Facharzt oder ins Krankenhaus – werden dadurch unnötige Wartezeiten vermieden und an anderer Stelle Ressourcen für tatsächliche Behandlungsbedarfe frei. 
Wie funktioniert die telemedizinische Ersteinschätzung?
Eine telemedizinische Ersteinschätzung kann über verschiedene Kanäle eingeholt werden. Zum einen telefonisch über die 116 117, zum anderen digital über die Website des Patientenservice im Rahmen eines strukturierten medizinischen Ersteinschätzungsverfahrens. Abhängig vom Behandlungsbedarf wird eine Empfehlung ausgesprochen beziehungsweise ein Termin zu einer Videosprechstunde angeboten. Dies ermöglicht Versicherten, zeitnah eine notwendige Facharztüberweisung zu erhalten. Im Rahmen des Terminservice kann direkt ein Termin bei einem Facharzt vereinbart werden, oder aber Versicherte vereinbaren diesen bei ihrem bevorzugten Facharzt selbst.

Notaufnahme-Gebühr für Patienten? „Hilft an der Stelle nicht“

Wenn es um Patientensteuerung geht, spielt auch die überlastete Notaufnahme eine Rolle. Kassenärzte-Chef Andreas Gassen brachte mal eine Notaufnahme-Gebühr ins Spiel. Man müsse zahlen, wenn man unnötig in die Notaufnahme kommt. Wie finden Sie das?
Eine Gebühr hilft an der Stelle nicht. Patienten wissen oft einfach nicht, wo sie hinmüssen. Und sie können ihren Gesundheitszustand selber oft nicht einschätzen. Wir müssen zunächst das System transparenter gestalten, bevor über Notfallgebühren nachgedacht wird. Ein Notfall bleibt ein Notfall. Aber auch über Videosprechstunden kann in vielen Fällen direkt geholfen werden.
Herr Gassen ging es ja nicht darum, dass die Leute das nicht wissen. Sondern darum, dass Menschen teils mit vermeintlichen Lappalien in die Notaufnahme kommen und den sogenannten echten Notfällen die Kapazitäten rauben.
Ja, aber das kann man ja durch einen vorgeschalteten Filter lösen. Dann könnte man sagen: Okay, Patient X ist kein Notfall und gehört hier nicht hin. Im Extremfall wird er von der Notaufnahme weggeschickt, bekommt über das System aber einen zeitnahen Termin bei einem zuständigen Arzt. 
Zu Besuch in der vdek-Zentrale in Berlin: Unsere Redaktion im Gespräch mit Verbandssprecherin Michaela Gottfried und Boris von Maydell, Leiter der Abteilung Ambulante Versorgung beim vdek.

Krankenkassenverband warnt: „Wir befürchten, dass die Beiträge im nächsten Jahr erneut steigen“

Lassen Sie uns über den allgemeinen Zustand der gesetzlichen Krankenversicherung sprechen. Ist es wirklich so schlimm, wie es immer heißt?
Ja. Wir hatten Ende des Jahres 2024 ein Defizit von 6,2 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. 82 Krankenkassen mussten Anfang 2025 ihre Zusatzbeitragssätze anheben, auf durchschnittlich 2,9 Prozent. Weitere Erhöhungen des Zusatzbeitrags folgten bereits unterjährig. Die Rücklagen der Krankenkassen sind deutlich unter die gesetzliche Mindestrücklage von 20 Prozent, also unter 5,45 Milliarden Euro geschrumpft und es gibt derzeit kein wirkliches Konzept zur Stabilisierung der Finanzen. Deshalb befürchten wir, dass die Beiträge auch im nächsten Jahr erneut steigen werden.

Was ist der Zusatzbeitrag bei der Krankenkasse?

Bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gibt es einen allgemeinen Beitragssatz, der aktuell bei 14,6 Prozent liegt. Er wird jeweils zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlt. Hinzukommt ein Zusatzbeitrag der Krankenkassen, mit dem diese ihre Kosten decken. Er wird als Prozentsatz vom beitragspflichtigen Einkommen berechnet und liegt laut Gesundheitsministerium bei durchschnittlich 2,5 Prozent. Laut GKV-Spitzenvebrand und vdek liegt er aufgrund weiterer Erhöhungen mittlerweile aber schon bei 2,9 Prozent.

Wie kann es denn besser werden?
Wir brauchen wieder eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik. Das bedeutet, dass die Ausgaben wie etwa für Krankenhäuser, Arzneimittel oder ambulante Versorgung nur entsprechend der Entwicklung der Einnahmen steigen dürfen. 

Streit um Bürgergeld-Finanzierung: „Es fehlen rund zehn Milliarden Euro jährlich“

Derzeit gibt es viele Forderungen nach einem Ende der sogenannten versicherungsfremden Leistungen. Was sind das eigentlich für Leistungen?
Da reden wir momentan hauptsächlich über kostendeckende Beiträge für Bürgergeldempfänger. Die Gesundheitsversorgung der Bürgergeldempfänger ist eigentlich eine Aufgabe des Staates, die die GKV auftragsweise übernimmt. Die Krankenkassen erhalten aber von der Bundesagentur für Arbeit eine viel zu geringe Pauschale, um die Kosten vollständig zu decken. Würde der Staat diese Kosten vollständig erstatten, würde die GKV um jährlich rund zehn Milliarden Euro entlastet. Es gibt noch weitere versicherungsfremde Leistungen, wie die Zahlung von Haushaltshilfen oder Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes, für die die GKV Entlastungen erhält, aber auch die sind nicht ausreichend.
Aber der Staat übernimmt doch die Kosten für Bürgergeldempfänger, oder nicht?
Ja, aber nicht in ausreichendem Maße. Für die Gesundheitsversorgung von Bürgergeldempfängern überweist das Jobcenter der gesetzlichen Krankenversicherung eine Pauschale. Aber diese reicht bei Weitem nicht aus. Die Beträge für Bürgergeldempfänger müssten viel höher sein, um die Kosten zu decken. Es fehlen rund zehn Milliarden Euro jährlich.
Warum sind das Aufgaben des Staates?
Es handelt sich um Aufgaben, die nicht die originären Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen sind, sondern für die eigentlich der Staat oder andere Sozialversicherungsträger zuständig wäre. Auch in der Pandemie wurden der GKV hier zahlreiche Aufgaben (Schutzschirme, Impfkosten) vom Staat übertragen. Da die Aufgaben gesamtgesellschaftliche Relevanz haben, übernimmt die GKV diese gerne, aber braucht dafür eine hinreichende Erstattung. Sonst werden nur die Beitragszahler der GKV finanziell belastet anstatt die Gesamtgesellschaft.

„Ansonsten sind Beitragserhöhungen unvermeidlich“: Krankenkasse bald noch teurer?

Um das System kosteneffektiver zu gestalten, brachte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm Leistungskürzungen ins Spiel. Ist das denkbar?
Wir haben in Deutschland sehr unwirtschaftliche Strukturen, die durch Überversorgung und Ineffizienz geprägt sind. Wir brauchen daher dringend strukturelle Reformen, um zum Beispiel die extrem hohen Arzneimittelkosten in den Griff zu bekommen. Leistungskürzungen sind deshalb nicht der entscheidende Punkt. Schon die Frage, welche Leistungen gekürzt werden sollten, ist problematisch. Meist landen wir dabei bei Leistungen, deren Kosten kaum ins Gewicht fallen.
Sie haben ein paar Vorschläge gemacht, wie die Kosten im GKV-System eingedämmt werden können. Aber seien Sie mal realistisch: Wird es 2026 Beitragserhöhungen geben? 
Wir brauchen erstens ein Sofortprogramm, um kurzfristig die Beitragssätze zu stabilisieren. Ansonsten sind Beitragserhöhungen unvermeidlich. Dann brauchen wir rasch strukturelle Reformen. Die Notfallreform soll ja kommen, die Klinikreform und ein Primärarztsystem. Dringend notwendig ist auch eine Reform der Arzneimittelbepreisung.
Von welcher Summe reden wir da?
Wir hatten Anfang des Jahres fast bei jeder Krankenkasse Beitragserhöhungen und manche Krankenkassen mussten seitdem erneut ihren Zusatzbeitragssatz erhöhen. Wie sich die Finanzsituation Ende des Jahres darstellt, können wir deshalb zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau sagen, es hängt von der konkreten Situation jeder Kasse sowie der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung ab. Und von der Frage, ob die Beitragssätze durch gesetzliche Maßnahmen kurzfristig stabilisiert werden.

Interview: Andreas Schmid

Rubriklistenbild: © Jon Lasse Schmitt/IPPEN.MEDIA//Imago/SvenSimon (Montage)

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