Gastbeitrag Prof. Sebastian Dullien
Realitätsverweigerung bei den Haushaltsverhandlungen in Berlin
Die hohe Inflation trifft auch den Staat. Weil die Preise auf breiter Front steigen, können sich Bund, Länder und Gemeinden weniger leisten. Selbst für Investitionen in die Infrastruktur oder in Bildung wird das Geld knapp. Dabei gäbe es einen naheliegenden Ausweg, schreibt der Chef des gewerkschaftsnahen Wirtschaftsforschungsinstituts IMK, Prof. Sebastian Dullien, im Gastbeitrag.
Düsseldorf - Seit Monaten knirscht es in der Bundesregierung. Hauptstreitpunkt ist der Bundeshaushalt. Dringend notwendige Investitionsförderung im Wachstumschancengesetz? Auf eine Mini-Summe zusammengeschrumpft. Ein echter Brückenstrompreis? Kein Geld vorhanden. Anpassung des Bürgergeldes an die hohe Inflation? Dann muss woanders gekürzt werden.
Auch wenn es derzeit öffentlich oft anders dargestellt wird: Grund für die Haushaltsprobleme der Ampel-Koalition ist nicht eine überbordende Ausgabefreude. Vielmehr sind es immer noch die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine im Frühjahr 2022, die zu den Problemen im Budget führen.
Zwar sind nominal, also in Euro gerechnet, die Steuereinnahmen nach der russischen Ukraine-Invasion nicht eingebrochen. Sie liegen derzeit sogar etwas höher als es die letzte Steuerschätzung vor dem Krieg aus dem November 2021 für das Jahr 2023 vorhergesehen hatte – trotz der seit damals verabschiedeten, spürbaren Steuerentlastungen.
Stimme der Ökonomen
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In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Hohe Inflation trifft auch den Staat
Allerdings trügt der Schein: Da alles spürbar teurer geworden ist, nimmt der Staat real, also kaufkraftbereinigt, deutlich weniger ein als damals eingeplant. Die Logik ist die gleiche wie bei den privaten Haushalten: Renten und Löhne mögen im vergangenen Jahr etwas gestiegen sein, konnten aber mit der Teuerung nicht mithalten. Das spüren die Privathaushalte, und das spürt auch der Staat.
Eine Schultafel, ein Kilometer Autobahn, ein Panzer oder einfach eine Arbeitsstunde einer Verwaltungsangestellten kostet heute deutlich mehr als 2021. Baupreise für Straßen etwa sind seit Anfang 2021 um 31 Prozent gestiegen. Mit den aktuellen Einnahmen kann der Staat deshalb viel weniger kaufen.
Auch die nun anstehende Anpassung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2024 ist eine direkte Folge der Teuerung: Weil gerade Lebensmittel viel teuerer geworden sind, muss man der Regelsatz angepasst werden – außer man möchte, dass die Ärmsten in der Gesellschaft weniger kaufen können.
Folge des Ukraine-Kriegs
All das ist klar Folge des Ukraine-Krieges. Mit der Invasion und dem folgenden Lieferstopp von russischem Erdgas sind die Energiepreise in die Höhe geschossen; weil Getreide aus Russland und der Ukraine fehlten, wurden auch Agrarprodukte viel teurer. Und weil in vielen Produkten Energie steckt, sind seitdem die Verbraucherpreise insgesamt spürbar gestiegen.
Es ist also genau wegen der kriegsbedingten Preiserhöhungen, dass jetzt Geld für wichtige Projekte und für dringend notwendige Investitionen im Bundeshaushalt fehlt und etwa bei Bildung oder Jugendhilfe gespart wird.
Artikel 115 Grundgesetz weist die Lösung
Dabei wäre die Lösung einfach: Man müsste nur noch einmal eine Notsituation im Sinne von Artikel 115 des Grundgesetzes erklären und könnte die Mehrkosten für den Bundestagshaushalts durch die Kriegsfolgen durch eine höhere Kreditaufnahme des Bundes finanzieren.
Dort steht: „Im Falle von […] außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden.“ Genau das haben wir: Eine Notsituation durch einen Krieg, der nicht von der Regierung beeinflusst werden kann, bei der die Bewältigung der Folgen bei uns Milliarden kostet und zudem die kaufkaftbereinigten Steuereinnahmen hat massiv fallen lassen.
Daran ändert auch nichts, dass die Regierung bereits den Haushalt für 2023 ohne Verweis auf die Notsituation aufgestellt hatte und sich für das laufende Jahr stattdessen mit verschiedenen Sondervermögen Spielräume verschafft hat. Vielmehr war es schon bei der Haushaltsaufstellung im vergangenen Jahr falsch, so zu tun, als wären wir wieder in einer wirtschaftlichen Normalsituation. Kriegsfolgen sind nicht einfach am Ende eines Kalenderjahres vorbei, wenn noch Kämpfe toben, Energiepreise hoch sind und sich Millionen Menschen auf der Flucht befinden.
Tatsächlich ist es wirtschaftlich absurd, jetzt, mitten in einem neuen Abschwung und einer Energiekrise, mit mehr als einer Million zu versorgenden Kriegsgeflüchteten im Land, mit Biegen und Brechen zu versuchen, den Anschein von Normalität bei der Haushaltsaufstellung aufrechtzuerhalten. Im Ergebnis wird das nur die deutsche Wirtschaft schwächen und die sozialen Spannungen im Land verschärfen.
Zum Autor: Prof. Dr. Sebastian Dullien ist wissenschaftlicher Direktor des Düsseldorfer Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.