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IPPEN.MEDIA-Interview

Grünen-Chefs aus NRW: „Keine Lust mehr, über das Gendern zu debattieren“ 

Die Ampel steht auf der Kippe – die NRW-Grünen werben derweil für Schwarz-Grün. Im Interview macht die Landesspitze klar: „Wir wollen keine Bullshit-Debatten“.

Köln – Streit und Uneinigkeit in Berlin: Die Ampel kriselt – und scheint akut auf der Kippe zu stehen. Selbst wenn die Koalition bis zur Wahl 2025 durchhält, wird jetzt die Frage laut: Was kommt danach? Eine Option neben klassischer Groko: Schwarz-Grün. In NRW gibt es seit 2022 eine solche Konstellation. Reibereien gibt es kaum, zumindest dringen sie nicht nach außen: Alle Beteiligten betonen immer wieder an prominenter Stelle, wie gut die Koalition funktioniert. 

Auch die beiden Landesvorsitzenden der Grünen, Tim Achtermeyer und Yazgülü Zeybek, sagen im Interview: Schwarz-Grün sei eine Option für den Bund. Außerdem sprechen sie über das angeknackste Image ihrer Partei, Migrationspolitik und Härten im Politikbetrieb,  

Felix Banaszak hat neulich gesagt, die Ampel sei wie eine Ehe im Trennungsjahr. Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie eine Muster-Ehe mit der CDU führen?
Yazgülü Zeybek: Ich weiß nicht, ob ich das als Ehe bezeichnen würde. Wir sind gut befreundet und arbeiten konstruktiv miteinander.
Was machen Sie anders als Ihre Kollegen in Berlin? 
Zeybek: Schwarz-Grün in NRW schafft es, sich zusammenzusetzen und im Sinne der Menschen, die hier leben, Probleme anzupacken und Lösungen anzugehen. In der Ampel klappt das oft nicht und das finde ich schade, weil ich anfangs sehr überzeugt von dem Konstrukt war und ja auch unzählige gute Gesetze entstanden sind.
Die NRW-Landesvorsitzenden der Grünen Yazgülü Zeybek und Tim Achtermeyer in der Kölner Redaktion von IPPEN.MEDIA.
Manche reden schon recht offen über ein Ampel-Aus noch in diesem Jahr. Fluch oder Segen?
Tim Achtermeyer: Wenn Christian Lindner und Olaf Scholz sich als Reaktion auf die schlimme Situation bei VW darüber streiten, wer den schöneren Gipfel hat, dann zeugt das von einer absurden Unernsthaftigkeit. Wir Grüne beteiligen uns nicht an dieser Nabelschau. Und wenn die Ampel tatsächlich scheitern sollte, werden wir Grünen mit Zuversicht in den Wahlkampf gehen und für unsere Ideen kämpfen.
Sind die NRW-Grünen kompromissbereiter als die Grünen im Bund? 
Zeybek: Die Grünen sind grundsätzlich bereit, für ihre Ziele Kompromisse einzugehen. Auch im Bund. Bei SPD und FDP habe ich da meine begründeten Zweifel. Deshalb ist Schwarz-Grün in NRW derzeit die einzige Konstellation, der ich zutraue, die drängendsten Aufgaben dieser Zeit anzugehen: Klimaschutz, Wohlstandserhalt und Sicherheit.
Die Grünen sehen sich seit einigen Jahren allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, an den eigentlichen Sorgen der Menschen vorbei Politik zu machen. Die Wahlergebnisse in Ostdeutschland sind ein Indikator dafür.  
Achtermeyer: Die Grünen gibt es, weil wir uns mit den konkreten Problemen der Menschen beschäftigen. Das sieht man auch in NRW. Wir investieren 5,5 Milliarden Euro in Kitas, damit nicht ständig Gruppen ausfallen. Wir investieren 220 Millionen Euro in die Straßensanierung, damit die Staus mal ein Ende haben und mehr als zehn Milliarden Euro in die Wohnraumförderung. Überall, wo wir regieren, arbeiten wir an den konkreten Herausforderungen des täglichen Lebens.
Das deckt sich nicht mit dem derzeitigen Image der Partei. Woran liegt das? 
Achtermeyer: Es haben sich zwei Auffassungen verbreitet: Die Grünen sind die blockierenden Ideologen oder die Grünen sind Umfaller. Wenn beide Perspektiven gleichzeitig genannt werden, kann mindestens eine nicht stimmen. Ich würde sagen, dass beide nicht stimmen. Warum ist denn die Bahn fast immer zu spät? Warum sind unsere Brücken kaputt? Weil viel zu lange Leute, die Verantwortung hatten, sich die Decke über den Kopf gezogen haben. Wir wollen jetzt diese Probleme lösen, das bedeutet Veränderung. Klar, das führt manchmal zu Konflikten, das verstehe ich. Aber es wird nicht besser, wenn man wieder in einen Dämmerzustand zurückkehrt. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln.
Justizminister Benjamin Limbach hat gesagt, das neue NRW-Sicherheitspaket sei auch ein Zeichen dafür, dass sich die Haltung der Grünen zur Migrationspolitik geändert hat. Heißt das, die Grünen waren vorher zu naiv? 
Zeybek: Unsere Grundsätze in der Migrationspolitik sind unverrückbar: Menschenwürde und Humanität, Steuerung und Ordnung. Wir haben mit diesem NRW-Maßnahmenpaket auf den Anschlag in Solingen und auf eine konkrete Bedrohungslage reagiert. Die Tat hat uns alle bis ins Mark erschüttert und gezeigt, dass Teile des Asylsystems nicht gut funktionieren und wir ein Problem mit Islamismus haben. Die Gefahr einer neuen Terrorwelle ist hoch. Also müssen wir als Staat in die Verantwortung gehen.
War das nicht schon viel früher absehbar? Hat es Solingen dafür wirklich gebraucht?
Achtermeyer: Solingen war eine Zäsur. Deswegen braucht es auch konkretes Handeln. Aber das darf nicht zu Aktionismus führen, wenn wir über Migration sprechen. Der Wohlstand in der Welt ist wahnsinnig ungleich verteilt. Es gibt Kriege und es gibt Vertreibung. Das heißt, es wird immer Migration und Flucht geben. Anstatt irgendwelche Entscheidungen zu treffen, von denen niemand weiß, ob sie funktionieren, müssen wir die konkreten Probleme lösen, die damit einhergehen.
Was meinen Sie damit? 
Achtermeyer: Zum Beispiel die Drittstaatenlösung. Angeblich der Game-Changer. Mir konnte bis heute keiner erklären, wie das rechtssicher und humanitär funktionieren soll. Und im Wochentakt werden neue angebliche Game-Changer-Lösungen verkündet. Niemand würde sagen, ich mache jetzt einfach ein Gesetz, dann ist die Bildungsproblematik in diesem Land beseitigt. Solche Reflexe gibt es aber beim Thema Migration. Wer verspricht, eine einfache Lösung für alles gefunden zu haben, dem wird gesagt: Prima, so muss es sein. Aber einfache Versprechen führen am Ende nur selten zur Lösung eines komplexen Problems. Das sorgt für Enttäuschung und am Ende für noch mehr Frust.
Die NRW-Landesvorsitzenden der Grünen Yazgülü Zeybek und Tim Achtermeyer im Gespräch mit den Redakteuren Thomas Kemmerer und Peter Sieben.
Also wünschen Sie sich mehr Differenzierung?
Zeybek: Das ist der springende Punkt. Wer sagt, wir brauchen keine Zuwanderung, soll mir erklären, wer dann in 20 Jahren in unseren Pflegeheimen und Schulen oder in der IT arbeiten soll. Wir haben einen eklatanten Arbeits- und Fachkräftemangel und brauchen geordnete Zuwanderung. Deshalb ist es gut, Migrationsabkommen zu schaffen. Die sorgen im Idealfall auch dafür, dass Menschen, die kein Bleiberecht haben, in ihre Heimatländer zurückkehren können. Gleichzeitig müssen wir weiterhin dafür sorgen, dass Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, einen Ort haben, an dem sie unterkommen können und integriert werden.
Nach Solingen gab es viel Kritik an NRW-Integrationsministerin Josefine Paul. Ist das gerechtfertigt? 
Zeybek: Josefine Paul hat sehr klar und deutlich gezeigt, dass sie sofort nach der Tat in die Aufklärung gegangen ist. Und schon wenige Tage nach dem Anschlag haben wir als Landesregierung Maßnahmen beschlossen, um zum Beispiel unsere Sicherheitsbehörden im Kampf gegen islamistischen Terror zu stärken. Wir müssen herausfinden, wie genau es zu der Tat kommen konnte und was man daraus lernen kann. Dafür richten die demokratischen Fraktionen im Landtag einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein.
Viele haben allerdings die Art ihrer Kommunikation kritisiert, es gab sogar Rücktrittsforderungen. Wie bewerten Sie das?
Zeybek: Fakt ist, dass die Person, die diese brutale Terrortat verübt hat, gefasst werden konnte. Und Fakt ist, dass wir als Landesregierung Antworten darauf geben wollen, wie wir eine solche Terrortat künftig verhindern können. Das hat mehrere Dimensionen: Es geht um Sicherheitspolitik, Prävention und ein funktionierendes Asylsystem. Ich finde, als schwarz-grüne Regierung haben wir genau richtig reagiert. 
Manche sagen: Man muss härter gegen diejenigen, die sich illegal hier aufhalten und kriminell werden, vorgehen, um eine höhere Akzeptanz für die Menschen zu schaffen, die echte Fluchtgründe haben oder hier arbeiten wollen. 
Achtermeyer: Für den Umgang mit Kriminellen gibt es das Strafrecht. Und wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass die Menschen, die hier sind, schnell Klarheit bekommen, aber auch an die Arbeit kommen und nicht vor Wartezeit, Perspektivlosigkeit und Langweile auf die schiefe Bahn kommen. Menschen sind zu lange in Flüchtlingsunterkünften untergebracht, wo sie kaum Perspektiven haben, oft nicht arbeiten dürfen. 
Wie kann man das schaffen?
Achtermeyer: In die Unterkünfte gehen und schauen, welche Jobs man den Menschen anbieten kann und wer was kann oder lernen will. In jedem Café sehe ich den Zettel “Aushilfe dringend gesucht”. Aktuell zahlen zwei arbeitende Personen einen Rentner. Wenn ich in Rente bin, ist das Verhältnis wahrscheinlich umgekehrt. Da muss man kein Mathe-Profi sein, um zu sehen, dass wir dringend Arbeitskräfte benötigen. Und es ist nicht mehr so, dass Deutschland für ausländische Fachkräfte uneingeschränkt attraktiv ist. Rosinenpickerei können wir uns gar nicht mehr leisten. Das liegt auch daran, dass die AfD ein Klima der Angst erzeugt, das Fachkräfte aus dem Ausland abschreckt.
Cem Özdemir und Kevin Kühnert haben neulich vor Ressentiments in manchen muslimischen Milieus gegenüber Frauen und Schwulen gewarnt. Einige Kritiker haben ihnen Rassismus vorgeworfen. Wie sehen Sie das? 
Zeybek: Frauen sind vor allem durch diejenigen bedroht, die ihnen am nächsten stehen. Das sind Ehemänner, Ex-Partner, Verwandte. Häusliche Gewalt ist eine krasse Bedrohung. Das ist aber nicht zwingend ein Problem von bestimmten Nationalitäten oder Religionen. 
Also würden Sie sagen, dass es die Probleme, die Özdemir und Kühnert formuliert haben, in der muslimischen Community nicht gibt? 
Zeybek: Es gibt Menschen, die haben Probleme mit emanzipierten, selbstbestimmten Frauen. Das sind einige Menschen muslimischen Glaubens mit frauenfeindlicher und homophober Ideologie oder auch Rechtsextreme. Man muss gegen das Problem ankämpfen, egal, welche Motivation oder Ideologie dahintersteckt. 
Achtermeyer: Mein Opa ist Muslim. Er kam nach Deutschland, hat hier ein Betrieb aufgebaut, hat eine Protestantin geheiratet. Die Tochter ist Protestantin, der Sohn ist Muslim, und der Enkel – das bin ich – der ist schwul. Da gab es nie ein Problem. Auf der anderen Seite gibt es islamistische oder rechtsradikale Influencer, die auf TikTok frauenfeindliche und homophobe Propaganda verbreiten, wie Pierre Vogel. Der hat mit Migration gar nichts zu tun. Ich stelle mich gegen jede Form von Frauenfeindlichkeit und Homophobie, egal woher sie kommt. Zuletzt in Bautzen etwa, wo hunderte Neonazis beim CSD Regenbogenflaggen verbrannt haben. Wäre ich da in die Menschenmenge geraten, hätte ich mir wirklich Sorgen gemacht.
Was kann man denn gegen die radikalen Influencer auf TikTok unternehmen? 
Achtermeyer: Die Europäische Kommission muss die Plattformen drängen, gegen Hassprediger stärker vorzugehen. Plattformen, die terroristische und damit strafbare Inhalte nicht konsequent löschen, müssen sanktioniert werden. Auf der anderen Seite muss die politische Jugendbildung, die vor islamistischem Hass aufklärt, viel stärker bei TikTok aktiv sein. Es hilft wenig, wenn man sich dicke Bücher über die Gefahren von Islamismus für wenig Geld bestellen kann. Junge Menschen radikalisieren sich auf TikTok und Telegram. Da muss man gegenhalten. 
Würden Sie sagen, dass Schwarz-Grün auch eine Option für den Bund sein kann?
Achtermeyer: Ja. In der Sicherheitspolitik sind CDU und Grüne standhafte Parteien, die Putin die Stirn bieten. Die SPD hingegen wackelt. Aber Schwarz-Grün gelingt nur, wenn alle Beteiligten auch wirklich an Inhalten interessiert sind. Teile von CDU und vor allem der CSU möchten lieber einen Kulturkampf haben. Ich kann nicht verstehen, wie jemand angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit und der geopolitischen Risikolagen kindische Spielchen spielen will oder wie der CSU-Chef zum Food-Influencer wird. Das wird mit uns Grünen nicht funktionieren, da fehlt mir die Ernsthaftigkeit.
Die politische Debatte ist schärfer geworden. Vor allem in den sozialen Medien werden Menschen, die sich konservativ äußern, manchmal in eine rechte Ecke geschoben. Umgekehrt werden progressive Meinungen schnell diskreditiert. Gibt es innerhalb Ihrer Partei eine Haltung dazu? 
Achtermeyer: Ich bin dafür, dass wir uns in der politischen Mitte auf einen Grundsatz einigen: Wir wollen keine Bullshit-Debatten mehr. Ich hab keine Lust mehr, über das Gendern zu diskutieren. Wer gendern will, soll das machen, und wer das nicht will, soll es lassen. Und ich hab keine Lust, mich über CSU-Generalsekretär Martin Huber aufzuregen, der fälschlicherweise behauptet, die Grünen würden Haustiere verbieten wollen. Das sind absurde Debatten. Wir leben in einer Zeit, in der es wirklich um was geht. Es kann sein, dass Donald Trump US-Präsident wird, der die NATO destabilisieren will und damit die Friedensordnung in Europa in Gefahr bringt. Ich will mich mit den Fragen beschäftigen, die wichtig sind: Wie schaffen wir es, unsere Sicherheitsstruktur so aufzustellen, dass sie im Zweifel auch ohne die Amerikaner funktioniert? Wie bekämpfen wir die Klimakrise, die wir überall sehen? Wie kommen wir in Deutschland zu wirtschaftlicher Prosperität zurück?
Angesichts der Krise bei VW oder auch bei TKS in NRW: Wie kann man denn für wirtschaftliche Prosperität sorgen? 
Zeybek: Wir haben eine starke Industrie und einen starken Mittelstand, die wunderbare Arbeit leisten, Arbeitsplätze bieten und die Dekarbonisierung auf den Weg bringen. Wir wollen den Unternehmen beste Rahmenbedingungen schaffen: Hindernisse abbauen, Bürokratie abbauen, günstige Energie bieten. Gerade der Ausbau von bezahlbaren, erneuerbaren Energien ist einer der zentralen Wohlstandsgaranten für die Zukunft. Diese Aufgaben gehen wir Grüne gemeinsam mit der Wirtschaft an. 
Nach dem Rückzug von Kevin Kühnert ist eine Debatte über zu viel Härte im Politikbetrieb entbrannt. Dabei geht es auch um eine drastische Zunahme von Beleidigungen in sozialen Medien. Wie nehmen Sie das selber wahr? 
Achermeyer: Politik ist hart. Und der Kampf in den sozialen Netzwerken ist krass. In den sozialen Netzwerken läuft es oft besonders gut, wenn man apokalyptisch schreibt oder andere als die allergrößten Dumpfdödel der Welt beschimpft. Das hilft bei den Klicks, aber nicht, um konkrete Probleme zu lösen. In der Politik sollten alle mal etwas runterfahren und manch einem “bürgerlichen Politiker” täte eine Portion bürgerlicher Werte wohl auch ganz gut. Ich rate eindringlich allen, verbal ein bisschen abzurüsten. Vor allem, wenn wir nicht wollen, dass am Weihnachtsabend der ganze Laden implodiert, weil beim Familienessen irgendeiner ein halbwegs politisches Thema anspricht.

Rubriklistenbild: © Peter Sieben/IPPEN.MEDIA

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