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Interview mit Ex-Düsseldorf-OB
Thomas Geisel kritisiert SPD nach BSW-Beitritt: „Willy Brandt wäre sehr unglücklich“
Düsseldorfs Ex-OB Thomas Geisel will nach 40 Jahren SPD jetzt für die BSW Politik „in einflussreicher Funktion“ machen. Im Interview spricht er über eine Wiederannäherung an Russland.
Düsseldorf – 40 Jahre lang war er SPD-Mitglied, jetzt ist der ehemalige Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel zur Partei BSW von Sahra Wagenknecht gewechselt. Dort will er Europapolitik machen. Im Interview spricht er unter anderem über Migration, seinen Ex-Genossen Olaf Scholz und eine Wiederannäherung an Russland.
Was haben Freunde und politische Weggefährten zu Ihrer Entscheidung gesagt?
Ein paar haben gesagt: Das ist Verrat an der Sache oder sowas. Manche rücken Sahra Wagenknecht in die Nähe von Wladimir Putin und haben ihr Unverständnis ausgedrückt. Das kann ich nicht nachvollziehen. Aber es gibt sehr, sehr viele, die mir Mut gemacht und gesagt haben: Toll, dass du dich nochmal politisch engagierst, und diesmal in der Europapolitik oder Bundespolitik. Und die haben verstanden, dass die heutige SPD nicht mehr zu meinen Überzeugungen passt.
Thomas Geisel vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Sanktionen gegen Russland „schaden dem eigenen Land“
Geht es Ihnen nur um Überzeugungen, oder hoffen Sie auch auf ein neues politisches Karriere-Sprungbrett?
Politikern wird oft Eitelkeit und Geltungssucht unterstellt. Und Streben nach Macht gehört natürlich zu diesem Geschäft. Das zu leugnen, wäre albern. Aber es geht mir um Inhalte. Und die Gelegenheit, in einflussreicher Funktion mitgestalten zu können, möchte ich als politischer Mensch ergreifen.
Zu den Inhalten: Sahra Wagenknecht lehnt Sanktionen gegen Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs ab. Wie stehen Sie denn dazu?
Sahra Wagenknecht hat immer ganz klar gesagt: Das ist ein eklatanter Völkerrechtsbruch. Da gibt es keine Rechtfertigung. Tatsächlich aber schaden unsere Sanktionen dem eigenen Land mehr als Russland. Das ist unvernünftig.
Und wie sieht es mit Waffenlieferungen an die Ukraine aus?
Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ will die deutsche Politik prägen
Man muss das Thema vom Ende her denken. Es ist moralisch richtig, dass wir einem überfallenen Land beistehen. Aber praktisch alle Experten sind sich einig, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann. Waffen zu liefern, hat nur zur Folge, dass sich der Krieg in die Länge zieht, immer mehr Menschen sterben und der Wiederaufbau des Landes immer teurer wird. Wenn dann irgendwann einmal eine dreistellige Milliardenrechnung an Deutschland gerichtet wird, werden sich viele Menschen fragen: Wenn wir so viel Geld haben, warum geben wir es nicht erst mal für unsere eigenen maroden Straßen, Schulen und Krankenhäuser aus?
„Olaf Scholz sieht sich als Dompteur“
Was halten Sie denn von der jetzigen Regierung unter Olaf Scholz?
Ich habe den Eindruck, Olaf Scholz sieht sich als Dompteur streitender Akteure von Grünen und FDP. Er setzt kaum sozialdemokratische Akzente, die SPD hat das geringste Profil in dieser Bundesregierung entwickelt. Ich kann mit der SPD heute, ehrlich gesagt, nicht viel anfangen.
Inwiefern?
Ich erkenne sie nicht wieder. Viele sind mal wegen Personen wie Willy Brandt und Helmut Schmidt in die SPD eingetreten. Willy Brandt stand für Entspannungspolitik und Frieden, Helmut Schmidt für eine Wirtschaftspolitik mit Vernunft und Augenmaß. Die SPD entfernt sich von den Leistungen großer Sozialdemokraten. Das ist ein bemerkenswerter Prozess der Selbstverzwergung.
Wollen Sie sagen, Willy Brandt würde heutzutage bei BSW mitmachen?
Das ist spekulativ. Aber ich glaube, Willy Brandt wäre sehr unglücklich über das, was aus der SPD geworden ist. In den 70er und 80er Jahren hatte die SPD immer stabil um die 40 Prozent bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung. Heute sind wir bei 16 Prozent. Man hat den Anspruch verloren, Volkspartei zu sein.
BSW-Politiker über AfD-Umfrageergebnis: „Es sind ja nicht auf einmal 25 Prozent der deutschen Wähler Nazis geworden“
Laut einer Umfrage finden über 60 Prozent von AfD-Anhängern die Gründung vom BSW gut bis sehr gut. Wie bewerten Sie das?
Es sind ja nicht auf einmal 25 Prozent der deutschen Wähler Nazis geworden. Aber gibt eine große Unzufriedenheit mit dem, was die Politik in den letzten Jahren geleistet hat. Wir hatten mal eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur, einen gut funktionierenden öffentlichen Dienst, ein Bildungswesen, das soziale Durchlässigkeit garantiert hat. Davon sind wir weg. Da sagen die Leute: Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass dieses Land immer weiter absteigt. Und die wünschen sich eine Alternative.
Und BSW kann so eine Alternative sein?
Ja. Und anders als die AfD bedienen wir keine Ressentiments. Wir wollen diejenigen AfD-Wähler abholen, die diese rechte völkische Programmatik der Partei nicht teilen, aber eine Alternative zur Politik der Merkel- und Scholz-Jahre suchen. Wir streben nach vernünftigen Lösungen und stehen für eine ergebnisoffene Debatte. Es gibt bei uns eben keine Cancel Culture.
Was verstehen Sie denn unter Cancel Culture?
Nehmen wir die Corona-Diskussion. Da hieß es: Entweder bist du auf Söder-Kurs oder du bist Corona-Leugner. Dazwischen gab es nichts. Da war man ganz schnell als Aluhut-Träger abgestempelt, wenn man einen Vorschlag gemacht hat. Und auch in der Sprache gibt es ja jetzt solche Vorschriften.
Bislang ging es viel darum, dass BSW gegen etwas ist. Können Sie Punkte nennen, bei denen Sie sagen: Da sind wir dafür?
BSW steht für einen starken Sozialstaat. Einrichtungen der Infrastruktur – Straßen, Schienen, aber auch Energie- und Telekommunikationsnetze – sind natürliche Monopole und gehören in staatliche Hand. Gleichzeitg müssen wir der überbordenden Bürokratie und Regelungswut zu Leibe rücken. Als Robert Habeck anfing, für die erneuerbaren Energien alle möglichen Beschleunigungsgesetze zu machen, hätte ich gesagt: Herr Wirtschaftsminister, jetzt schauen Sie erst einmal, welche Vorschriften bislang alles entschleunigt haben. Die sollten wir abschaffen.
Migrationspolitik beim Bündis Sahra Wagenknecht: „Gegenwärtige Praxis des Asylrechts hat zu unkontrollierter Zuwanderung geführt“
Das BSW bemängelt auch die aktuelle Migrationspolitik. Was läuft denn aus Ihrer Sicht falsch?
Wir müssen denen Schutz bieten, die Schutz brauchen. Das ist gar keine Frage. Aber die gegenwärtige Praxis des Asylrechts hat zu einer unkontrollierten Zuwanderung geführt. Nur wenige haben tatsächlich einen Anspruch auf Asyl als politisch Verfolgte. Aber alle haben das Recht auf ein Asylverfahren. Das dauert Monate. Solange müssen die Menschen hier untergebracht und versorgt werden. Und sie dann abzuschieben, ist sehr schwierig, manchmal gar nicht möglich und nicht selten, unmenschlich.
Wie würde es besser laufen?
Es wäre besser, die Verfahren an den Außengrenzen der Europäischen Union durchzuführen. Gleichzeitig müssen wir sehen, dass Deutschland aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels durchaus auf Zuwanderung angewiesen ist. Das heißt, wir müssen definieren, wie viele und welche Personen wir aufnehmen können und wollen.
Also sollte man nach Nützlichkeit auswählen?
Nein, nicht nach Nützlichkeitsgesichtspunkten, wie andere Einwanderungsländer das machen. Auch aufgrund der geschichtlichen Erfahrung in Deutschland sollte man auch humanitäre Gesichtspunkte zugrunde legen. Das hätte den Vorteil, dass wir so viele Menschen in Not aufnehmen, wie wir vernünftigerweise auch in Deutschland integrieren können. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass viele Kommunen in puncto Integrationsfähigkeit mittlerweile am Limit sind.
Wo würden Sie BSW im politischen Spektrum einordnen?
Gar nicht. Es geht nicht um rechts oder links. Sondern um Vernunft.
Was heißt das?
Das heißt, dass wir eine Situation sorgfältig analysieren und Instrumente wählen, die vom Ende her gedacht sind. Dass wir ergebnisoffen und unideologisch diskutieren, was wir leisten können und erreichen wollen und welche Instrumente dafür geeignet sind.
Sie wollen für die BSW-Liste im Europawahlkampf antreten. Worum wird es gehen?
Wir wollen ein starkes Europa und brauchen faire und soziale Wettbewerbsbedingungen. Einen Steuersenkungswettbewerb darf es nicht geben, ebenso wenig wie Subventionswettläufe. Stattdessen ist eine europaweit vergleichbare Unternehmensbesteuerung anzustreben. Und es kann nicht sein, dass hier irgendwelche Internetgiganten keine Steuern zahlen und die Märkte dominieren. Da muss Europa eingreifen, das können die Nationalstaaten nicht alleine leisten. Außerdem müssen wir vergleichbare soziale Bedingungen in Europa schaffen, die EU-Mindestlohnrichtlinie ist insofern ein Schritt in die richtige Richtung. Diese sozialen Themen sind mir sehr wichtig. Auch sollten wir den Gedanken eines gemeinsamen europäischen Hauses wieder aufgreifen, den Michael Gorbatschow 1990 im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit formuliert hat.
„Europa muss zusammenstehen und Russland ist ein Teil Europas“
Also eine Wiederannäherung an Russland?
Europa muss zusammenstehen und Russland ist ein Teil Europas. Perspektivisch muss es ein System kollektiver Sicherheit geben, auch unter Einbeziehung Russlands. Mit einem wie Putin kann man da wohl nicht reden, aber es wird auch mal eine Zeit nach ihm geben. Dafür braucht es Perspektiven. Europa darf nicht zwischen den USA und China zerrieben werden.
Als es um den Posten des Oberbürgermeisters in Düsseldorf ging, waren Sie für einen ungewöhnlich bunten Wahlkampf bekannt. Damals haben Sie zum Beispiel in Anlehnung an ein Düsseldorfer Maskottchen öfter mal ein Rad geschlagen. Was erwartet uns im Europawahlkampf?
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Ich war immer ein volksnaher Politiker und habe auch jetzt nicht vor, ohne Fantasie und mit inhaltsleerem Polit-Schnack Wahlkampf zu machen. Das Gespräch mit ganz vielen unterschiedlichen Menschen zu suchen, ist mir sehr wichtig. Sonst steckt man in einer Blase fest. Es ist ein Riesenproblem der heutigen Politik, dass wir immer weniger sprechfähig und offen für Impulse von außen sind.
Könnte es auch passieren, dass BSW eines Tages Kompromisse mit der AfD sucht, wenn es zum Beispiel um eine Regierungsbildung geht?
Nein. Unser Ziel ist es, den Wählerinnen und Wählern, die die AfD nur aus Wut und Protest wählen, eine seriöse Adresse anzubieten.