Washington Post
Terroranschlag in Moskau deckt Putins Schwachstelle auf
Russlands Präsident Putin sucht die Schuld für den Terroranschlag nahe Moskau bei der Ukraine. Andere Stimmen machen interne Sicherheitsmängel verantwortlich.
Moskau – Als Wladimir Putin über den schlimmsten Terroranschlag sprach, der Russland in den letzten 20 Jahren getroffen hat, wischte er das eklatante Versagen seines Sicherheitsstaates bei dessen Verhinderung beiseite. Mindestens 137 Menschen kamen bei dem Attentat ums Leben, obwohl die Vereinigten Staaten am 7. März deutlich davor gewarnt hatten, dass ein Anschlag auf eine Konzerthalle unmittelbar bevorstehen könnte.
Putin erwähnte auch nicht den Islamischen Staat, der sich zu dem Anschlag auf die Konzerthalle Crocus City am Freitag bekannt hatte und den Putin während der langen militärischen Intervention Russlands in Syrien wiederholt als Feind propagierte. Im Jahr 2017 hat Russlands Präsident den Sieg über den Islamischen Staat erklärt.
Putin gibt der Ukraine die Schuld für den Terroranschlag
Putin nutzte seine fünfminütige Fernsehansprache am Samstag stattdessen, um zu betonen, dass sich die vier Täter „in Richtung Ukraine bewegten“, als sie festgenommen wurden, und dass „von ukrainischer Seite eine Möglichkeit für sie vorbereitet wurde, die Staatsgrenze zu überqueren“. Er beschuldigte die Ukraine, die selbst jede Beteiligung bestritten hat, nicht direkt. Aber ein Verweis auf „Nazis“ – Putins übliche Bezeichnung für die ukrainische Regierung – machte deutlich, dass er Kiew die Schuld gibt.
Die grausamen Videos der Angreifer, die mit automatischen Waffen unschuldige Konzertbesucher kaltblütig töteten und eines der beliebtesten Vergnügungslokale der russischen Hauptstadt in Brand setzten, durchkreuzen Putins Bemühungen aber, Russland als stark, geeint und widerstandsfähig darzustellen.
Neue Amtszeit: Attentat folgt kurz nach Präsidentschaftswahl in Russland
Der Anschlag ereignete sich nur fünf Tage nach dem triumphalen Anspruch des russischen Präsidenten auf eine neue sechsjährige Amtszeit – in einer Wahl, die massiv vom Kreml kontrolliert und im Ausland weithin als nicht demokratisch genug angeprangert wurde. Putin nutzte die Wahl, um seine Politik mit einer breiten öffentlichen Unterstützung zu sichern.
Am Sonntag wurde in Russland ein Trauertag begangen, an dem die Menschen Blumen an einer Gedenkstätte vor der Konzerthalle niederlegten. Deren Wiederaufbau hat das Unternehmen zugesagt, dem die zerstörte Anlage gehört. Das russische Untersuchungskomitee teilte mit, dass 62 der Opfer identifiziert worden seien und dass bei weiteren Opfern, die am Ort des Brands gefunden wurden, DNA-Tests durchgeführt würden.
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Verdächtige Männer betreten den Gerichtssaal beim Verfahren zum Terroranschlag verletzt
Ein vom Ermittlungsausschuss veröffentlichtes Video zeigt, wie Verdächtige des Anschlags am Sonntagabend mit verbundenen Augen in ein Moskauer Gericht geführt werden. Vier Männer – Dalerjon Mirzoev, Saidakrami Rachabalizoda, Muhammadsobir Fayzov und Shamsidin Fariduni – seien eines terroristischen Aktes angeklagt worden und müssen mit lebenslanger Haft rechnen, berichtete die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti. Auf Fotos aus dem Gerichtssaal war bei einem der Männer ein blaues Auge zu sehen, als die Augenbinde abgenommen wurde; ein anderer saß in einem Rollstuhl und wurde von Ärzten begleitet, wie Ria Novosti berichtete.
Trotz des Versuchs des russischen Präsidenten, die Sache mit der Ukraine in Zusammenhang zu bringen, sprachen Analysten, ehemalige US-Sicherheitsbeamte und Mitglieder der russischen Elite davon, dass der Angriff die Schwächen von Putins Kriegsregime unterstreiche. Diese wurden auch deutlich, als Jewgenij Prigoschin vergangenen Juni seine Wagner-Söldner in einer kurzen Meuterei anführte, um führende Verteidigungsbeamte zu stürzen.
Präsident zeigt Schwäche: „In schwierigen Momenten verschwindet Putin immer“
„Das Regime zeigt in solchen kritischen Situationen seine Schwäche, so wie bei der Meuterei von Prigoschin“, sagt Andrei Kolesnikov, ein Senior Fellow des „Carnegie Russia Eurasia Center“. Obwohl Prigoschin damals den Aufstand aufgegeben hat, war der Schaden offensichtlich. Damals, wie auch bei den Ereignissen an diesem Wochenende, trat Putin stundenlang nicht an die Öffentlichkeit, bevor er sich schließlich zur Lage äußerte. „In schwierigen Momenten verschwindet Putin immer“, sagt Kolesnikov.
Nur drei Tage vor dem Anschlag auf Crocus City wies Putin die Warnung der USA vor einem möglichen bevorstehenden Terroranschlag als „offene Erpressung“ und „Versuch, unsere Gesellschaft zu verängstigen und zu destabilisieren“, zurück. Doch angesichts seiner autoritären Machtausübung und der Tatsache, dass kaum jemand bereit ist, ihn infrage zu stellen, ist es unwahrscheinlich, dass der russische Staatschef mit Kritik oder Konsequenzen rechnen muss, weil er die Warnung nicht ernster genommen hat.
Wladimir Putin: Der Aufstieg von Russlands Machthabern in Bildern




Zelenski: Russen, die auf ukrainischem Boden töten, könnten jeden Terroristen aufhalten
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenski sagte zum Anschlag: „Diese Hunderttausende von Russen, die jetzt auf ukrainischem Boden töten, würden sicherlich ausreichen, um jeden Terroristen aufzuhalten. Und wenn die Russen bereit sind, stillschweigend in den ‚Krokushallen‘ zu sterben und ihren Sicherheits- und Geheimdiensten keine Fragen zu stellen, dann wird Putin versuchen, eine solche Situation wieder zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen.“
Wenn Russland in der Vergangenheit von Terroranschlägen betroffen war, beschuldigte Putin oft den Westen, dahinterzustehen – insbesondere nach der Belagerung der Schule in Beslan im Jahr 2004, bei der über 330 Geiseln starben. Damals behauptete er, der Angriff sei von denjenigen inszeniert worden, die Russland schwächen wollten und auf seinen „Zerfall“ abzielten.
Rückblick auf erste Amtszeiten: Putin nutzte Anschläge zur Herrschaftssicherung
Analysten zufolge werde der russische Staatschef dies mit ziemlicher Sicherheit auch dieses Mal wieder versuchen. Eine führende Kreml-Propagandistin, Margarita Simonyan, die Leiterin des staatlichen Senders RT, behauptete bereits am Samstag, dass die Warnung der Amerikaner vor dem Angriff darauf hindeute, dass sie an der Vorbereitung des Angriffs beteiligt waren. Ehemalige US-Beamte und Analysten sagen, dass die Rhetorik, die Ukraine und den Westen kollektiv zu beschuldigen, wahrscheinlich fortgesetzt würde und weitere Hetzen verursachen werde, da Putin versuche, sein Land für einen langwierigen Krieg zu mobilisieren.
Andere sagen, das Blutvergießen wecke besorgniserregende Erinnerungen an eine Zeit, von der Putin dachte, sie läge lange hinter ihm. Während der ersten beiden Amtszeiten des Präsidenten in den 2000er Jahren wurde Russland von opferreichen Terroranschlägen heimgesucht, die Putin später nutzte, um ein hartes Vorgehen des Militärs und der Sicherheitsdienste zu rechtfertigen und seine Herrschaft zu stärken.
Moskauer Geschäftsmann zum Anschlag: „Es hätte eine Menge Polizei vor Ort sein sollen“
Verwiesen wird auf den offensichtlichen Mangel an angemessenen Sicherheitsvorkehrungen in Crocus City, einem riesigen Unterhaltungs- und Einkaufszentrum am Stadtrand von Moskau, trotz der Warnung der US-Regierung.
„Crocus City ist ein riesiger Ort mit vielen Konzertsälen“, sagt ein Moskauer Geschäftsmann und weist darauf hin, dass sich die Büros der Moskauer Regionalregierung in der Nähe befinden. „Es hätte ernsthafte Sicherheitsvorkehrungen geben müssen und eine Menge Polizei vor Ort sein sollen.“
„Es fehlt an Verantwortung für die Sicherheit bei großen öffentlichen Veranstaltungen“, sagt der Geschäftsmann, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will. „Fast dasselbe passierte vor 20 Jahren bei der Belagerung des Nord-Ost-Theaters, und seitdem hat sich nichts geändert.“ Er bezieht sich damit auf die Geiselnahme von 2002, bei der mehr als 115 Menschen starben, nachdem tschetschenische Terroristen ein Theater im Zentrum Moskaus in ihre Gewalt gebracht hatten.
Überwachung statt Schutz: Versäumnisse der Sicherheitsdienste in Russland
Ein russischer Wissenschaftler mit engen Beziehungen zu hochrangigen Moskauer Diplomaten äußert sich ähnlich über das Versagen Russlands, den Anschlag vom Freitagabend zu verhindern. „Es ist klar, dass wir nach ukrainischen Fingerabdrücken und möglicherweise denen westlicher Sicherheitsdienste suchen werden“, sagt der Akademiker, der anonym bleiben will, weil Putins Regime häufig gegen Kritiker vorgeht. „Aber wahrscheinlich wird jede Untersuchung Versäumnisse unserer Sicherheitsdienste aufdecken.“
Russlands Sicherheitsdienste haben enorme Ressourcen in die Überwachung der Aktivitäten von Gegnern des Putin-Regimes gesteckt und Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt, um diejenigen zu verfolgen und zu befragen, die an den jüngsten Protesten gegen Putins Wahl teilgenommen haben oder Blumen zu Ehren des vergangenen Monat im Gefängnis verstorbenen Oppositionsführers Alexej Nawalny niedergelegt haben.
Russland war schon vorher mit Aktivitäten des Islamischen Staates konfrontiert
Die Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Bürgerinnen und Bürger vor Bedrohungen, die von bekannten terroristischen Gruppen ausgehen, scheint auf der Prioritätenliste aber nach unten gerutscht zu sein, so die Analysten. Und das, obwohl das Land in den vergangenen Jahren immer wieder mit Terroranschlägen konfrontiert war, darunter zwei, die dem Islamischen Staat zugeschrieben oder von ihm beansprucht wurden.
Anfang dieses Monats erklärte der russische Inlandsgeheimdienst (FSB), er habe einen vom Islamischen Staat geplanten Anschlag auf eine Synagoge in Moskau vereitelt und bei einer Razzia in der Region Kaluga, südwestlich der Hauptstadt, eine unbekannte Anzahl von Kämpfern der Gruppe „neutralisiert“. Kasachstan bestätigte später, dass zwei seiner Staatsbürger bei der Razzia getötet worden seien.
Im vergangenen Jahr berichtete die Nachrichtenagentur Tass, der FSB habe zwei weitere Kämpfer des Islamischen Staates getötet, die einen Anschlag auf eine Chemieanlage in Kaluga geplant hätten.
Ehemaliger US-Geheimdienstmitarbeiter: Sicherheitsmängel in Russland sind die Regel
„Überall hat man das Gefühl, dass wir in einem Polizeistaat leben, der jeden Bürger genau überwacht“, sagt Andrei Kolesnikov vom „Carnegie Russia Eurasia Center“. „Die Menschen werden jetzt oft am Eingang der U-Bahn angehalten und kontrolliert. Auf den Flughäfen sind die Sicherheitsvorkehrungen viel strenger geworden. … Es stellt sich wirklich die Frage, wie so etwas überhaupt passieren konnte.“
Andere meinen, Sicherheitsmängel in Russland seien keine Ausnahme, sondern die Regel.
„Wenn es sich nicht gerade um ein hochkarätiges öffentliches Ereignis wie die Olympischen Spiele handelt oder Putin involviert ist, … ist Russlands Wachsamkeit in Sachen Sicherheit immer gering“, sagt ein ehemaliger hochrangiger US-Geheimdienstmitarbeiter, der unter der Bedingung der Anonymität spricht, um sensible Angelegenheiten besprechen zu können. „Man braucht wirklich ein ausgeklügeltes System, das auf diese Art von Bedrohungen zielt, und das hat sich auf andere Bereiche konzentriert.“
Hinweis auf IS-Terroranschlag: Mutmaßlicher Angreifer spricht Tadschikisch
In seiner am Samstag im Fernsehen übertragenen Rede ging Putin nicht auf die Einschätzung von US-Beamten ein, die sagen, es gebe „keinen Grund, die Behauptung anzuzweifeln“, dass ein in Afghanistan ansässiger Zweig des Islamischen Staates für den Anschlag verantwortlich sei. Russische Staatsmedien haben jedoch Aufnahmen von mindestens zwei der mutmaßlichen Angreifer bei Verhören ausgestrahlt. Darunter eine, in der der Verdächtige Tadschikisch spricht. Tadschikistan ist ein zentralasiatisches Land an der Grenze zu Afghanistan.
Die ehemaligen US-Beamten sagen, die potenzielle terroristische Bedrohung, die von Zentralasien ausgeht, sei zu einem blinden Fleck des Putin-Regimes geworden, während es sich auf die Verfolgung politischer Feinde in Russland und auf die Bedrohungen konzentriere, die sich aus Putins Invasion in der Ukraine ergeben, einschließlich der Drohnen- und grenzüberschreitenden Angriffe.
Russland als Terror-Ziel: Viele Menschen aus Zentralasien schlossen sich dem IS an
„Sie haben der Bedrohung durch den IS, dem viele Zentralasiaten angehören, keine Priorität eingeräumt“, sagt Douglas London, ein ehemaliger hochrangiger CIA-Offizier, der sich auf Terrorismusbekämpfung und Zentralasien spezialisiert hat und als außerordentlicher Professor an der „School of Foreign Service“ der Georgetown University tätig ist. „Tausende von Zentralasiaten schlossen sich dem Islamischen Staat an, und viele kehrten nach dem Verlust des Kalifats aus Syrien und dem Irak zurück. Viele von ihnen stiegen in sehr hohe Positionen auf und kamen entweder aus der Armee, der Polizei oder den Geheimdiensten einer Reihe von zentralasiatischen Staaten.“
„Das zentralasiatische Element von ISIS hatte es immer auf Russland abgesehen“, fügt London hinzu. „Ich glaube nicht, dass der russische Geheimdienst schockiert und überrascht ist, dass es ein Problem gab. Es stand einfach nicht hoch genug auf ihrer Agenda.“
Mary Ilyushina in Berlin, Natalia Abbakumova in Riga, Lettland, und Kostiantyn Khudov in Kiew haben zu diesem Bericht beigetragen.
Zu den Autoren
Catherine Belton ist eine internationale investigative Reporterin für die Washington Post und berichtet über Russland. Sie ist die Autorin von „Putin‘s People“, einem New York Times Critics‘ Book of 2020 und einem Buch des Jahres für die Times, den Economist und die Financial Times. Belton hat auch für Reuters und die Financial Times gearbeitet.
Robyn Dixon ist eine Auslandskorrespondentin, die zum dritten Mal in Russland ist, nachdem sie seit Anfang der 1990er Jahre fast ein Jahrzehnt lang dort berichtet hat. Seit November 2019 ist sie Leiterin des Moskauer Büros der Washington Post.
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Dieser Artikel war zuerst am 25. März 2024 in englischer Sprache bei der „Washingtonpost.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.
Rubriklistenbild: © Anna Nosova/Imago


