Präsident abgetaucht
„Für Präsident Yoon wird es schwierig zu überleben“
Südkoreas Präsident hat das Kriegsrecht ausgerufen – und wenig später wieder zurückgenommen. Jetzt sieht sich Yoon Suk-yeol mit massivem Druck konfrontiert. Der Präsident aber schweigt.
So wie Kim Min-jee dürfte es letzte Nacht vielen in Südkorea gegangen sein. „Ich war gerade in der Stadt unterwegs, als es passiert ist“, erzählt die Dolmetscherin aus Seoul. „Als ich es in den Nachrichten sah, war mein erster Gedanke: Das war eine Provokation von Nordkorea. Ich war schockiert und entsetzt.“ Aber nicht Kim Jong-un, der nordkoreanisches Diktator, hatte Südkorea in seine schwerste politische Krise seit Jahrzehnten gestürzt. Sondern Yoon Suk-yeol, Südkoreas demokratisch gewählter Präsident.
Um 22.30 Uhr Ortszeit hatte Yoon in einer Fernsehansprache das Kriegsrecht ausgerufen. Was folgte, waren die wohl turbulentesten Stunden, die Südkorea seit dem Ende der Militärdiktatur 1987 erlebt hat. Hunderte Soldaten riegelten das Parlament in Seoul ab, Hubschrauber landeten auf dem Dach des Gebäudes, vor dem im Laufe der Nacht immer mehr Demonstranten zusammenkamen. Es waren Szenen wie aus einer Autokratie, und doch fanden sie mitten in einer der lebhaftesten Demokratien Asiens statt.
Kriegsrecht in Südkorea: Yoon Suk-yeol droht Amtsenthebung
Teils mit Feuerlöschern bewaffnet, schlugen sich 190 Parlamentsabgeordnete ins Innere der Volksversammlung, auch mit mehreren Stimmen aus Yoons eigener Partei stimmten sie für die Aufhebung des Kriegsrechts. Wenige Stunden später dann beugte sich der Präsident dem Votum. Rund sechs Stunden dauerte der Spuk. Zurück bleiben ein zutiefst verunsichertes Land und ein Präsident, dessen Tage im Amt wohl gezählt sind.
Am Mittwoch reichten 191 Parlamentsabgeordnete einen Antrag auf Amtsenthebung gegen Yoon ein, am Freitag oder Samstag soll über die Zukunft des Präsidenten abgestimmt werden. Fraglich ist, wie sich Yoons eigene Partei verhalten wird. Den Antrag auf Amtsenthebung unterstützten die größte Oppositionspartei und fünf kleinere Parteien, nicht aber Yoons konservative People Power Party. Doch auch in den eigenen Reihen hat Yoon massiv an Rückhalt verloren. So forderte Han Dong-hoon, der Chef der Regierungspartei, dass alle Verantwortlichen für die Ereignisse der letzten Nacht „streng zur Rechenschaft gezogen werden“ müssten.
Yoon begründet Kriegsrecht mit „Gefahr durch nordkoreanische kommunistische Kräfte“
Yoon Suk-yeol selbst war nach seiner Fernsehansprache abgetaucht. Wo er sich derzeit befindet, ist unklar. Seine Entscheidung, das Kriegsrecht auszurufen, hatte Yoon mit einer angeblichen „Gefahr durch nordkoreanische kommunistische Kräfte“ begründet. Was er damit meinte, ist auch am Tag danach noch ein großes Rätsel. Klar ist: Yoon stand in den letzten Wochen innenpolitisch massiv unter Druck. In der Volksversammlung hat er seit April keine Mehrheit mehr, zuletzt konnte er den Haushalt nur mit starken Abstichen durchs Parlament bringen. Der Opposition warf er am Dienstagabend vor, „das juristische und administrative System lähmen und unsere liberale demokratische Ordnung stürzen“ zu wollen.
Dabei war Yoon mit seiner konfrontativen Politik alles anders als unschuldig an der politischen Spaltung im Land. Viel zu lange etwa stellte er sich schützend hinter seine Ehefrau, die seit Monaten in mehrere Skandale verstrickt ist. Unter anderem Korruption wird der First Lady vorgeworfen. Erst Anfang November gelobt Yoon Besserung und entschuldige sich in einer Pressekonferenz für die Vorgänge. Seine Beliebtheitswerte waren da unter 20 Prozent gefallen.
Yoon nach Ausrufung des Kriegsrechts auch international unter Druck
Offenbar wollte Yoon durch die Ausrufung des Kriegsrechts nun wieder handlungsfähig werden. Aus einer Position der Schwäche heraus suchte er eine militärische Lösung für ein politisches Problem. Es war eine Verzweiflungstat, wie sie in einer Demokratie eigentlich nicht vorkommen darf. „Die Verhängung des Kriegsrechts durch Yoon ist ein Verrat an der Nation“, schrieb am Mittwoch die liberale Tageszeitung Hankyoreh. „Yoon ist nicht mehr für das Amt des Präsidenten geeignet.“ Der wichtigste Gewerkschaftsverband des Landes rief zu einem „unbefristeten Generalstreik“ auf, bis Yoon zurückgetreten sei. In Seoul und anderswo in Südkorea gingen Tausende auf die Straßen, um gegen den Präsidenten zu protestieren.
„Ich denke, dass es für Yoon schwierig sein wird, zu überleben“, sagte der Korea-Experte Ramon Pacheco Pardo vom Londoner King‘s College zu IPPEN.MEDIA. „Seine einzige Hoffnung ist, dass sich die konservative People Power Party hinter ihn stellt, vielleicht aus Angst, dass eine Neuwahl von einem liberalen Kandidaten gewonnen werden würde, während gleichzeitig die liberalen Parteien auch in der Nationalversammlung die Mehrheit haben.“
Bislang keine Reaktion aus Nordkorea
Auch international steht Yoon Suk-yeol nun unter Druck. Die USA, der engste Verbündete Südkoreas, erklärten, über Yoons Pläne nicht eingeweiht gewesen zu sein. „Wir erwarten weiterhin, dass politische Meinungsverschiedenheiten friedlich und mit Mitteln des Rechtsstaats gelöst werden“, sagte US-Außenminister Antony Blinken. Die USA haben knapp 30.000 Soldaten in Südkorea stationiert. Während der langen Jahre der südkoreanischen Militärherrschaft hatte Washington zwar nie Probleme damit, auch mit Diktatoren wie Park Chung-hee und Chun Doo-hwan eng zusammenzuarbeiten. Aber diese Zeiten sind längst vorbei, unter Yoon Suk-yeol ist Südkorea spätestens seit Dienstagabend zum Problemfall geworden.
Die Krise kommt zur Unzeit. Die USA stehen kurz vor einem einschneidenden Regierungswechsel, in wenigen Wochen zieht Donald Trump erneut ins Weiße Haus. Der hatte im Wahlkampf bereits erklärt, Südkorea zahle zu wenig für die Stationierung amerikanischer Soldaten. Und im Norden der koreanischen Halbinsel zündelt seit Monaten Diktator Kim Jong-un. Den Süden hat er zum „Hauptfeind“ erklärt, Straßen- und Schienenverbindungen im Grenzgebiet in die Luft sprengen lassen, zudem schickt er Waffen und Soldaten nach Russland. Eine Reaktion auf die Vorgänge in Seoul kam aus Nordkorea indes noch nicht. Kim Jong-un aber dürfte sich ins Fäustchen lachen.
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