Sicherheitspolitik
Grenzstreit zwischen Atommächten Indien und China: „Konflikte mit Folgen für globale Sicherheit“ drohen
Der schwelende Grenzkonflikt im Himalaya zwischen Indien und China verhindert eine Annäherung der beiden Atommächte. Beide Regierungen agieren zunehmend unversöhnlich.
Indien hat acht Monate lang eine Taube festgehalten. Der Verdacht: Der Vogel sei ein chinesischer Spion. Die Polizei in Mumbai hatte chinesische Schriftzeichen auf den Beinringen des Vogels gefunden und ihn eingesperrt. Später wurde er vergessen – bis lokale Tierwohl-Aktivisten an das Schicksal der Taube erinnerten. Tierärzte kamen daraufhin zu dem Schluss, dass der inhaftierte Vogel eine aus Taiwan entflohene Brieftaube war, die es bis nach Indien geschafft hatte. Die Veterinäre übergaben die Taube an eine Tierschutzorganisation, die sie Anfang Februar freiließ.
Was wie eine Posse anmutet, hat einen ernsten Hintergrund. Indiens Misstrauen gegenüber China ist groß, die Beziehungen zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt sind seit Jahrzehnten angespannt. Hauptgrund dafür ist der Konflikt entlang der gemeinsamen Grenze im Hochgebirge des Himalaya (“Actual Line of Control“/LAC). Sie basiert auf einer Grenzziehung der einstigen britischen Kolonialherren und wurde weder von Indien, noch von China jemals in ihrer Gänze akzeptiert. 1962 führten beide einen kurzen blutigen Grenzkrieg, den China gewann. Erst Anfang der 1990-er Jahre einigten sich beide Seiten darauf, den Status quo so lange nicht anzutasten, bis eine endgültige Lösung gefunden werde. Jahrzehntelang war es ruhig.
Indien und China: Grenzscharmützel im Himalaya erodierten das Vertrauen
Doch 2017 kam es zu Zusammenstößen in Doklam am Dreiländereck zwischen Indien, China und Bhutan, der nach 73 Tagen in einem Patt endete. Im Frühjahr 2020 prügelten Soldaten beider Länder mit Knüppeln und Eisenstangen im Galwan-Tal zwischen Ladakh und Tibet aufeinander ein und bewarfen einander mit Felsbrocken. Dabei sollen mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen sein, manche Quellen sprechen sogar von 60 Toten. Dieser Zwischenfall habe die Beziehungen zwischen den zwei Atommächten grundlegend verändert, urteilt die Denkfabrik Crisis Group in einem aktuellen Bericht. Die aus der geopolitischen Rivalität der beiden Länder resultierenden Nervositäten seien seither auf den Grenzkonflikt übergeschwappt. Das habe „die militärische Aufrüstung angeheizt und steigert das Risiko neuer Kämpfe.“
2022 gab es erneut kleinere Zwischenfälle mit Verletzten, unter anderem in der Region Tawang an der Nordgrenze des indischen Bundesstaats of Arunachal Pradesh. Indische Grenztrupps hätten unter anderem im November jenen Jahres die Eroberung eines Grenzpostens durch chinesische Soldaten verhindert, bereichtete Reuters im Januar unter Berufung auf eine militärische Ehrungszeremonie in Indien. Im Oktober 2023 vereinbarten Neu-Delhi und Peking einmal mehr, den Frieden an der Grenze zu bewahren. Eine inhaltliche Lösung der Grenzfrage aber ist nicht in Sicht.
Indiens Außenminister: Keine Normalisierung ohne Lösung des Grenzkonflikts
China fordert seit Jahren, die bilateralen Beziehungen nicht von der Grenzfrage bestimmen zu lassen. Doch das lehnt Indien ab. „Ich habe meinem chinesischen Amtskollegen erklärt, dass man nicht erwarten kann, dass die übrigen Beziehungen normal weitergehen, wenn man keine Lösung für die Grenze findet, wenn sich die Streitkräfte weiterhin gegenüberstehen und es Spannungen gibt“, stellte Außenminister Subrahmanyam Jaishankar im Januar nach einem Treffen mit Chinas Chefdiplomaten Wang Yi klar.
Heikel sind vor allem zwei größere Regionen. Indien beansprucht das Gebiet Aksai Chin, das China im Grenzkrieg 1962 erobert hatte. Umgekehrt beansprucht Peking den gesamten indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh östlich von Bhutan. Eine neue offizielle Landkarte Chinas zeichnet Arunachal Pradesh als chinesisches Staatsgebiet mit neuem Namen „Zangnan“, Südtibet, aus. Neu-Delhi legte gegen die Karte Protest ein.
Die Crisis Group-Analyse gibt wenig Grund zum Optimismus: Die Unklarheit über den Grenzverlauf bedeute, „dass es zwangsläufig immer wieder zu feindseligen Begegnungen und möglicherweise sogar zu zwischenstaatlichen Konflikten kommen wird – mit weitreichenden Folgen für die regionale und globale Sicherheit“, heißt es darin. Die Spannungen seien gestiegen, seit Chinas Staatschef Xi Jinping und Indiens Ministerpräsident Narendra Modi an der Macht sind. „Beide sind Nationalisten, die ihr politisches Ansehen eng mit souveräner Selbstbehauptung und Machtprojektion im Ausland verbunden sehen.“
China liegt wirtschaftlich und militärisch bislang vor Indien
Modi strebt nach einer wachsenden globalen Rolle Indiens; das Land entwickelt sich rasant und hat China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholt. Doch wirtschaftlich und militärisch bleibt die Volksrepublik bisher überlegen. Die Infrastruktur im unwegsamen Gelände der Grenze ist auf chinesischer Seite deutlich besser, was die Verlegung von Truppen oder Ausrüstung erleichtert. Neu-Delhi hat erst vor wenigen Jahren angefangen, Straßen in die Grenzregion zu bauen. „Indien kann China in den nächsten 20-30 Jahren auf keinen Fall einholen“, zitierte das britische Magazin Economist kürzlich Oberst Zhao Xiaozhuo von der Chinesischen Akademie für Militärwissenschaften.
Die im April und Mai anstehenden Parlamentswahlen in Indien könnten die Spannungen weiter verschärfen, wenn Modi und seine Gegner eine harte Linie gegenüber China im Wahlkampf propagieren. „Auch wenn eine Lösung des Konflikts schwer vorstellbar ist, sollten sich China und Indien gegen Risiken absichern“, mahnt derweil die Crisis Group. Sie schlägt mehr Pufferzonen zwischen ihren Armeen an der Grenze vor und bessere Mechanismen für ein Krisenmanagement.
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