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Vor der Ukraine-Konferenz

Die Welt ist seit Russlands Angriff eine andere: Wie gehen die Deutschen mit der „Zeitenwende“ um?

Die Bevölkerung verkennt den Epochenbruch, den Putin mit seinem Krieg gesetzt hat, sagt Ex-Außenminister Sigmar Gabriel – und stößt auf Widerspruch.

Berlin – In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 hat Annalena Baerbock ihr Gefühl prägnant auf den Punkt gebracht. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die deutsche Außenministerin nach dem Beginn des großen russischen Angriffs auf die Ukraine. Wenige Tage später verabschiedete sich Deutschland von seinen Gewissheiten. Die Bundesregierung vollzog in der Außen- und Sicherheitspolitik eine radikale Kehrtwende: Deutschland schickt Waffen in die Ukraine, die Bundeswehr wird gewaltig aufgerüstet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) prägte in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg einen schon jetzt historischen Begriff: „Zeitenwende“.

Während sich die Menschen in der Ukraine inzwischen im dritten Kriegsjahr gegen den russischen Aggressor verteidigen, könnten nur wenige Deutsche etwas mit Scholz‘ Schlagwort anfangen – das sagt der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) zwei Wochen vor der Ukraine-Konferenz in der Schweiz zu IPPEN.MEDIA: „Zeitenwende in dem Sinne, dass wir uns einer ganz neuen Realität stellen, in der Krieg wieder möglich ist – das ist bei der Mehrzahl der Menschen in Deutschland nicht wirklich angekommen.“

„Russland hat sich unter Putin zu einem Schurkenstaat entwickelt“

Aus Sicht des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke liegen die Konsequenzen des Ukraine-Krieges in Deutschland noch zu sehr im Diffusen. Die nötige Klarheit über die Zeitenwende herzustellen, sei „eine politische Führungsaufgabe“, fordert Gabriel. „So traurig es ist, Russland hat sich unter Putin zu einem Schurkenstaat entwickelt. Auch wenn der Blick in die Gegenwart erschreckend ist und Angst machen kann: Wir dürfen nicht wegsehen“, mahnt der frühere SPD-Chef. „Indem wir die Gefahren für Europa in den Blick nehmen, können wir sie am besten bannen.“

Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel in Berlin.

Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) widerspricht dem früheren Außenminister. „Herr Gabriel liegt mit seiner Annahme falsch“, sagt Timo Graf, Politikwissenschaftler am ZMSBw in Potsdam, im Gespräch mit dieser Redaktion. „Nichts ist den sonst so risikoaversen und manchmal etwas ängstlichen Deutschen vor der Europawahl wichtiger als Verteidigung und Sicherheit, wie beispielsweise aus den jüngsten Zahlen des Eurobarometers hervorgeht.“

Die Deutschen gehen Meinungsumfragen zufolge pragmatisch mit der Zeitenwende um

Bestätigt sieht sich der Militärsoziologe auch durch die Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsbefragung, die das ZMSBw seit 1996 jährlich durchführt. Demzufolge ist die öffentliche Zustimmung zur Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben und der Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nach Beginn des Ukraine-Krieges auf einen historischen Höchstwert gestiegen: Eine absolute Mehrheit befürwortet eine weitere Aufstockung der finanziellen (aktuell 57 Prozent) und personellen (56 Prozent) Ressourcen der Bundeswehr. Nur eine Minderheit von jeweils 8 Prozent spricht sich für eine Verringerung der Verteidigungsausgaben und des Personalumfangs der Bundeswehr aus.

Unter den 16- bis 29-jährigen Befragten wird eine absolute Mehrheit nur knapp verfehlt. „Doch sogar unter Anhängern der Linken plädiert nur eine Minderheit von 11 Prozent für eine Verringerung der finanziellen und personellen Ressourcen der Bundeswehr und 50 Prozent für eine Erhöhung“, sagt Graf. „Die Deutschen gehen pragmatisch und eben nicht ideologisch mit der Zeitenwende um. Sie sind bereit, ihren Teil zu leisten, wenn es hart auf hart kommt. Sie sind bereit, Einschnitte in anderen Bereichen hinzunehmen, um Verteidigungsausgaben zu priorisieren.“

„Wir leben mitten in der Zeitenwende“, sagt Militärsoziologe Graf

Zur programmatischen Zeitenwende zählt Graf drei Aspekte: die Bedrohung durch den Aggressor, „Putins Russland“, den daraus hervorgehenden neuen Auftrag der Bundeswehr, „die Rückkehr zur Landes- und Bündnisverteidigung“, und die folgerichtige Ertüchtigung der Streitkräfte. „Wir leben mitten in der Zeitenwende“, erklärt der Militärsoziologe. „Deshalb ist es ein gutes Zeichen, dass alle drei Säulen der Zeitenwende auf großen Rückhalt in der Bevölkerung stoßen. Wir sehen ein tiefgreifend gewandeltes Meinungsbild und eine klare Forderung der Bürgerinnen und Bürger an Politik und Regierung: Stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“

Über eine längere Phase hinweg schwankten die Meinungen zu den Verteidigungsausgaben sowie zur Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. „Ähnlich wie im Jahr 2022 stieg die öffentliche Zustimmung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben und der militärischen Personalstärke auch im Jahr 2001 und im Zeitraum 2014 bis 2016 sprunghaft an“, sagt Studienautor Graf. „Auch in diesen Jahren reagierte die Bevölkerung augenscheinlich auf die veränderte sicherheitspolitische Lage durch die Anschläge vom 11. September 2001 und die russische Annexion der Krim im Jahr 2014.” Die Mehrheit der Deutschen verhalte sich angesichts der Ereignisse „sensibel und gleichzeitig realistisch“.

Rubriklistenbild: © Patrick Pleul/dpa

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