Gefahr für die russische Bevölkerung
Putin nach Terror in Moskau in Nöten – Anschlag könnte Probleme Russlands aufdecken
Putins Sicherheitsdienste konnten Russland nicht vor dem Terror schützen. Die Jagd nach Dissidenten hat sie blind gemacht. Ihre altbekannte Antwort: martialische Gewalt.
Moskau – Bei dem Terrorangriff auf die Crocus City Hall in der russischen Hauptstadt starben dem russischen Ermittlungskomitee zufolge mindestens 137 Menschen und über 180 erlitten nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Region Moskau Verletzungen. Seitdem 2004 über 300 Menschen bei der Geiselnahme von Beslan starben, ist das die tödlichste Attacke auf russischem Boden. Der Islamische Staat (IS) beanspruchte, der Urheber des jüngsten Blutbads in Moskau zu sein, doch Wladimir Putin will das nicht wahrhaben. Ein möglicher Grund: Der Kremlherrscher müsste die Fehler seiner mächtigen Sicherheitsdienste eingestehen und zugeben, wie unsicher Russland eigentlich ist.
Von russischer Seite wird das Bekennerschreiben des IS bisher ignoriert, das westliche Experten als glaubhaft einstufen. Verantwortlich soll mit dem IS-Khorasan ein aus Afghanistan stammender Ableger der Terrororganisation sein, der allerdings auch sehr viele Kämpfer in den vormaligen sowjetischen Republiken in Zentralasien rekrutiere, so der Terrorismusforscher Peter Neumann gegenüber der ARD.
Putin ignoriert Washingtons Warnung: Kaum Polizeipräsenz an der Crocus City Hall
US-Sicherheitsdienste hatten bereits am 7. März eine Warnung direkt nach Moskau geschickt, der zufolge der IS unmittelbar einen Anschlag in der Kremlstadt plane. Putin unterstellte den USA deswegen jedoch drei Tage vor dem Terrorangriff, die russische Gesellschaft „einschüchtern und destabilisieren“ zu wollen. Wie wenig er auf die Warnung gab, zeigt sich darin, dass scheinbar keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen für Großereignisse wie das Konzert in der Crocus City Hall ergriffen wurden. Der britische Guardian berichtet von zahlreichen Augenzeugen, die von einer äußerst geringen Polizeipräsenz vor Ort sprachen.
Bezeichnend ist auch, dass die Attentäter frei ihrem mörderischen Vorhaben nachgehen und dann unbehelligt fliehen konnten. Bei dem verheerenden Terrorangriff auf die Pariser Eventlocation Bataclan und andere Ziele am 13. September 2015 wurden beispielsweise sieben Angreifer noch vor Ort von den Sicherheitskräften erschossen.
Islamismus aus Zentralasien ist eine Schwachstelle des FSB
Der Sicherheits- und Russlandexperte Mark Galleoti führte die Versäumnisse des russischen Sicherheitsapparats gegenüber dem Guardian auf eine falsche Schwerpunktsetzung durch den Inlandsgeheimdienst FSB zurück: „Sie hatten ihre Hauptkapazitäten auf die Ukraine angesetzt und auf die heimische Opposition. Das sind die Prioritäten, die ihnen von oben auferlegt werden.“ Daher verwundert es nicht, dass statt dem IS nun auch die Ukraine verantwortliche gemacht wird: Vier der Attentäter sollen angeblich Kontakte in die Ukraine gehabt haben, so der FSB.
Galleoti sagte weiter, dass islamistischer Terrorismus aus Zentralasien überhaupt eine Schwachstelle des russischen Inlandsgeheimdienstes sei. „Der FSB hat viel Erfahrung mit Extremisten aus dem Kaukasus, sie haben darauf umfangreiche Ressourcen verwendet, aber Zentralasien ist eher ein blinder Fleck.“
Moskau: Ein „Sicherheits-Theater“
Zu dieser spezifischen Schwäche kommt eine allgemeine: Moskau gehört zwar zu den am stärksten überwachten Städten der Welt, doch der Russlandexperte Professor Jeremy Morris nennt das in der unabhängigen Moscow Times ein „Sicherheits-Theater“. In Wirklichkeit seien die allgegenwärtigen Metalldetektoren und Einlasskontrollen so sehr zur Routine geworden, dass auch das Wachpersonal sie nicht mehr ernst nähme, so Morris. Das Bewusstsein etwa, das einsame Koffer eine Gefahr darstellen könnten, gebe es in breiten Schichten der Bevölkerung nicht. Man verlässt sich darauf, dass der Staat es schon richten wird.
Dass er das wird, erscheint allerdings eher unwahrscheinlich. Jill Dougherty, die ehemalige Chefin des Moskauer Büros von CNN, sagte in dem US-amerikanischen Fernsehsender, dass Wladimir Putin nun genauso reagieren werde wie auf alle Terrorangriffen seiner Präsidentschaft. Sie vermutet, dass die russischen Sicherheitsorgane „eine weitere Untersuchung durchführen werden, die zu irgendeinem Ergebnis führen wird“, aber Dougherty denkt nicht, „dass sie erklären werden, selbst wenn sie es wissen, was die tatsächliche Absicht dahinter war.“
Der FSB reagiert auf altbekannte Weise – mit Gewalt
Eine Reaktion, die russische Sicherheitsorgane beherrschen, ist Gewalt und die zeichnet sich bereits jetzt ab. Mittlerweile wurden elf Verdächtige im Zusammenhang mit dem Anschlag festgenommen, darunter sollen die vier Attentäter sein. Es hieß, die Ermittler hätten begonnen, die Festgenommenen zu befragen. Wie das vonstattenging, lassen Bilder der Männer vermuten, die entstanden, als sie am 24. März erstmals einem Richter vorgeführt wurden.
Ihre Gesichter sind geschwollen, die Augen blau, einer trägt eine Verbandskompresse über dem rechten Ohr. Der russische Exilsender Doschd berichtete in Berufung auf Telegram-Kanäle, dass dem Mann ein Teil seines Ohres abgeschnitten worden sein soll, als er gefangen genommen wurde. Dann habe man ihn gezwungen, den abgeschnittenen Teil zu essen.
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Unabhängig lässt sich diese Meldung nicht nachprüfen. Die Bilder lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass die russischen Sicherheitsbehörden zunächst einmal mit Brutalität auf das reagierten, was sie nicht erklären dürfen. Es steht zu befürchten, dass die weitere Reaktion Russlands ebenfalls auf Vergeltung statt Aufklärung konzentriert sein wird. Sicherer wird die russische Bevölkerung dadurch nicht. (mk)
Rubriklistenbild: © IMAGO/Russian Investigative Committee

