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Interview

Ein Jahr nach den Covid-Protesten in China: „Einige sitzen noch immer im Gefängnis“

Mehrere Menschen demonstrieren in Shanghai im November 2022 gegen die Corona-Politik der Regierung.
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Wie hier in Shanghai kam es im November 2022 in vielen chinesischen Städten zu Demonstrationen.

Vor einem Jahr demonstrierten Tausende Menschen in China gegen die strenge Null-Covid-Politik – mit Erfolg. Kommt es in dem Land wieder zu Protesten?

Es waren die größten Proteste, die China seit Jahrzehnten gesehen hat: Vor einem Jahr gingen in Peking, Shanghai und in vielen anderen chinesischen Städten Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die strikten Corona-Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Konkreter Auslöser für die Proteste war ein Wohnungsbrand in der Stadt Urumqi im Nordwesten Chinas, bei dem am 24. November 2022 zehn Menschen ums Leben kamen. Der Vorwurf der Demonstranten: Aufgrund des Lockdowns in der Stadt konnten die Rettungskräfte nicht schnell genug zum Unglücksort vordringen.

Wenige Wochen nach Beginn der Proteste beendete China seine Null-Covid-Politik schließlich nach fast drei Jahren. Der China-Experte Vincent Brussee erklärt im Interview, wie die Demonstrationen das Land verändert haben und warum es unwahrscheinlich ist, dass bald wieder Tausende in China auf die Straße gehen – obwohl der Unmut in der Bevölkerung weiterhin groß ist.

Herr Brussee, was ist aus den Menschen geworden, die vor einem Jahr in China auf die Straße gegangen sind?
Das hängt davon ab, welche Rolle sie bei den Protesten gespielt haben. Wer einfach nur an den Protesten teilgenommen hat, aber nichts allzu Kritisches gesagt hat und nicht als Organisator der Proteste galt, wurde meist nicht festgenommen, sondern höchstens verhört. Die Organisatoren oder jene Demonstranten, die besonders lautstark waren, wurden hingegen festgenommen. Einige wurden nach ein paar Tagen wieder freigelassen, andere erst nach Monaten. Und ein paar sitzen noch immer im Gefängnis.
Mit welcher Begründung?
Ihnen wird zum Beispiel „Untergrabung der Staatsgewalt“ vorgeworfen – eine beliebte Anschuldigung, wenn Chinas Regierung Kritiker ins Gefängnis werfen will.

„Das Ende von Null-Covid ist das deutlichste Erbe der Proteste“

Wenn Sie heute auf die Ereignisse vom November 2022 zurückblicken: Wie haben die Proteste China verändert?
Zunächst haben die Proteste dazu beigetragen, dass die Null-Covid-Politik nach fast drei Jahren beendet wurde. Sie waren nicht der alleinige Grund dafür – die Zentralregierung stand damals schon länger unter Druck, etwa weil den Lokalregierungen das Geld ausging, das für die Massentests und die Quarantänelager ausgegeben wurde. Aber das Ende von Null-Covid ist doch das deutlichste Erbe der Proteste.

Über die Person

Vincent Brussee forscht an der Universität Leiden (Niederlande) zu Politikprozessen in China. Zuvor war er Analyst bei der China-Denkfabrik Merics.

Was noch?
Auch das Ende des Systems der Gesundheitscodes war ein Erfolg der Proteste. Erinnern wir uns: Während der Pandemie hat Chinas Regierung die Smartphones der Bürger genutzt, um sie lückenlos zu überwachen. Die Behörden konnten so feststellen, wo sich jemand befindet. Und wer ein öffentliches Gebäude betreten wollte, musste einen Nachweis auf seinem Smartphone vorzeigen, dass er nicht positiv getestet worden war und sich nicht in einem Risikogebiet aufgehalten hatte. Viele Beobachter, mich eingeschlossen, hatten die Sorge, dass China dieses Überwachungssystem beibehalten würde. Aber das Gegenteil war der Fall: Es wurde sehr schnell beendet, unmittelbar nach den Protesten.
Dutzende Millionen Menschen wurden während der Pandemie wochenlang in ihren Wohnungen oder Wohnanlagen eingesperrt. Was hat das mit ihnen gemacht?
Vor allem in Shanghai, wo im vergangenen Jahr viele Millionen Menschen wochenlang eingesperrt wurden, herrscht so etwas wie ein kollektives Trauma. Das sind Erinnerungen, die die Menschen noch immer mit sich herumtragen. Es ist aber schwierig zu sagen, ob die Menschen deswegen kritischer auf die Kommunistische Partei oder das chinesische System an sich blicken. Zumal die Partei für viele Fehler, die damals begangen wurden, die Lokalregierungen verantwortlich macht und behauptet, diese hätten ihre Vorgaben nicht korrekt umgesetzt.

„Die Proteste im vergangenen Jahr waren ein sehr spontaner Ausbruch von Zorn“

Haben die Proteste den Menschen gezeigt, dass es sich auch in einem Land wie China lohnen kann, auf die Straße zu gehen?
Es gab in China schon immer viele Proteste, und es gibt sie auch heute noch. Aber meist geht es dabei um sehr spezifische Dinge, etwa um ausstehende Rentenzahlungen. Die Proteste im vergangenen Jahr waren ein sehr spontaner Ausbruch von Zorn – über den Brand in Urumqi und die willkürlichen Corona-Maßnahmen. Aber genauso schnell wie sie gekommen waren, waren die Proteste auch wieder vorbei. Nach den Protesten kam die Angst: Was wird passieren, wenn sich das Land nach drei Jahren wieder öffnet? Wie wird sich die wirtschaftliche Lage im Land entwickeln?

Chinas Staats- und Parteichef: So stieg Xi Jinping zum mächtigsten Mann der Welt auf

Chinas heutiger Staatschef Xi Jinping (2. von links) mit anderen Jugendlichen im Mao-Anzug
Xi Jinping wurde am 15. Juni 1953 in Peking geboren. Als Sohn eines Vize-Ministerpräsidenten wuchs er sehr privilegiert auf. Doch in der Kulturrevolution wurde er wie alle Jugendlichen zur Landarbeit aufs Dorf geschickt. Das Foto zeigt ihn (zweiter von links) 1973 mit anderen jungen Männer in Yanchuan in der nordwestlichen Provinz Shaanxi. Dort soll Xi zeitweise wie die Einheimischen in einer Wohnhöhle gelebt haben. © imago stock&people
Xi Jinping steht vor der Golden Gate Bridge in San Francisco
Xi Jinping 1985 vor der Golden Gate Bridge in San Francisco: Damals war er als junger Parteichef des Landkreises Zhengding in der nordchinesischen Agrarprovinz Hebei Delegationsleiter einer landwirtschaftlichen Studienreise nach Muscatine im US-Bundesstaat Iowa. Dort nahm die Gruppe nach offiziellen Berichten „jeden Aspekt der modernen Landwirtschaft unter die Lupe“. Anschließend reiste Xi weiter nach Kalifornien. Es war sein erster USA-Besuch. © imago stock&people
Xi Jingping und Peng Liyuan
Zweites Eheglück: Xi Jinping und seine heutige Ehefrau, die Sängerin Peng Liyuan, Anfang 1989. Zu dieser Zeit war Xi Vizebürgermeister der ostchinesischen Hafenstadt Xiamen. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter. Xis erste Ehe war nach nur drei Jahren an unterschiedlichen Lebenszielen gescheitert. Seine erste Frau, die Diplomatentochter Ke Lingling, zog in den 1980er-Jahren nach Großbritannien. © imago
Xi Jinping gräbt mit Parteikollegen an einem Damm zur Verstärkung eines Deiches in Fujian
Aufstieg über die wirtschaftlich boomenden Küstenregionen: 1995 war Xi Jinping bereits stellvertretender Parteichef der Taiwan gegenüberliegenden Provinz Fujian – und noch ganz volksnah. Im Dezember 1995 arbeitet er mit an der Verstärkung eines Deiches am Minjiang-Fluss. © Imago/Xinhua
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigt Chinas Vizepräsident Xi Jinping das Regierungsviertel in Berlin
Vizepräsident Xi Jinping 2009 im Kanzleramt bei Angela Merkel: Die deutsch-chinesischen Beziehungen waren unter Merkel relativ eng und von wirtschaftlicher Zusammenarbeit geprägt. Merkel und Xi reisten aus Berlin weiter nach Frankfurt, um die dortige Buchmesse zu eröffnen. China war als Ehrengast geladen. © GUIDO BERGMANN/Pool/Bundesregierung/AFP
Die Vizepräsidenten Xi Jinping aus China und Joe Biden aus den USA halten T-Shirts mit einer Freundschaftsbekundung in die Kamera
Ein Bild aus besseren Zeiten: Aus ihrer jeweiligen Zeit als Vizepräsidenten kamen Joe Biden und Xi Jinping mehrmals zusammen. Im Februar 2012 demonstrierten sie bei einer Reise Xis nach Los Angeles in einer Schule „guten Willen“ zur Freundschaft mit T-Shirts, die ihnen die Schüler überreicht hatten. Damals fehlten Xi nur noch wenige Monate, um ganz an die Spitze der Kommunistischen Partei aufzusteigen. © FREDERIC J. BROWN/AFP
Ein alter Mann in Shanghai schaut auf Xi bei seiner ersten Rede als Parteichef im Fernseher.
Xi Jinping hat es geschafft: Zum Ende des 18. Parteitags am 15. November 2012 wurde Xi als neuer Generalsekretär der Kommunisten präsentiert – und ganz China schaute zu. Xi gelobte in seiner ersten kurzen Rede als Parteichef, die Korruption zu bekämpfen und ein „besseres Leben“ für die damals 1,3 Milliarden Menschen des Landes aufzubauen.  © PETER PARKS/AFP
Der neue Staatschef Xi Jinping geht hinter seinem Vorgänger Hu Jintao zu seinem Platz in der Großen Halle des Volkes in Peking.
Übernahme auch des obersten Staatsamtes: Xi Jinping wurde auf dem Nationalen Volkskongress im März 2013 Präsident und schloß damit den Übergang von seinem Vorgänger Hu Jintao (vorn im Bild) zur Xi-Ära ab. © GOH CHAI HIN/AFP
Chinas Präsident und seine Ehefrau Peng Liyuan gehen über den Flughafen Orly in Paris.
Xi Jinpings Ehefrau Peng Liyuan ist die erste First Lady Chinas, die auch öffentlich in Erscheinung tritt. Hier kommt das Ehepaar zu einem Staatsbesuch in Frankreich an. Die Gattinnen von Xis Vorgängern hatten sich nie ins Rampenlicht gedrängt. Vielleicht auch, weil Maos politisch aktive dritte Ehefrau Jiang Qing nach dem Tod des „Großen Vorsitzenden“ als Radikale verurteilt worden war. © YOAN VALAT/Pool/AFP
Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas auf dem Weg zum Parteitag in Peking
So sehen KP-Funktionäre aus: Delegierte des 19. Parteitags auf dem Weg zur Großen Halle des Volkes in Peking im Oktober 2017. Auf diesem Parteitag gelang es dem Staats- und Parteichef, seine „Xi Jinping-Gedanken zum Sozialismus Chinesischer Prägung in der Neuen Ära“ in die Parteiverfassung aufzunehmen. Er war der erste nach Mao, der zu Lebzeiten in der Verfassung eine Theorie mit seinem Namen platzieren konnte. Einen Kronprinzen präsentierte Xi auf dem Parteitag nicht – entgegen den normalen Gepflogenheiten. © GREG BAKER/AFP
Xi Jinping nimmt in einer Staatslimousine „Rote Fahne“ die Parade zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China ab.
70 Jahre Volksrepublik China: Staatschef Xi Jinping nahm 2019 in einer offenen Staatslimousine Marke „Rote Fahne“ die Militärparade in Peking zum Jahrestag der Staatsgründung ab. © GREG BAKER/AFP
Wirtschaftsforum in Wladiwostok
Xi Jinping pflegt eine offene Freundschaft zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin – bis heute, trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Putin und Xi teilen die Abneigung gegen die von den USA dominierte Weltordnung. Hier stoßen sie 2018 bei einem gemeinsamen Essen auf dem Wirtschaftsforum von Wladiwostok, auf dem sich Russland als Handelspartner und Investitionsziel im asiatischen Raum präsentierte, miteinander an. © Sergei Bobylev/POOL TASS Host Photo Agency/dpa
Xi Jinping besucht im weißen Kittel ein Labor und lässt sich die Impfstoffentwicklung erklären
Ende 2019 brach in China die Corona-Pandemie aus. Im April 2020 informierte sich Xi Jinping in einem Labor in Peking über die Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung. Xi ist bis heute überzeugt, dass China die Pandemie besser im Griff hat als der Rest der Welt. Seine Null-Covid-Politik beendet er nicht, wohl auch wegen der viel zu niedrigen Impfquote unter alten Menschen. © Ding Haitao/Imago/Xinhua
Xi Jinpings Konterfei lächelt von einem Teller mit rotem Hintergrund
Auf dem 20. Parteitag im Oktober 2022 ließ sich Xi Jinping zum dritten Mal zum Generalsekretär der Kommunisten ernennen. Damit ist er der mächtigste Parteichef seit Mao Zedong. © Artur Widak/Imago
Tatsächlich ist der erwartete große Wirtschaftsaufschwung nach dem Ende von Null-Covid ausgeblieben.
Ja, die Null-Covid-Politik hat Chinas Wirtschaft nachhaltig geschädigt. Einerseits ist vielen Lokalregierungen aufgrund der Covid-Maßnahmen das Geld ausgegangen. In China wurde Wirtschaftswachstum bislang überwiegend von Investitionen der Regierung angeregt, aber dafür fehlt jetzt das Geld. Chinas Regierung versucht zudem seit Langem, die Wirtschaft so umzubauen, dass nicht mehr nur Investitionen für Wirtschaftswachstum sorgen, sondern auch Konsum, dass also die Menschen mehr kaufen. Das geht aber langsamer als erwartet. Unter anderem, weil viele Menschen während der Pandemie ihre Ersparnisse verloren haben oder ihre Geschäfte aufgeben mussten.
Zudem scheint Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping etwas anderes wichtiger zu sein als Wirtschaftswachstum: nationale Sicherheit.
Genau. Xi Jinping hat selbst gesagt, dass die nationale Sicherheit für ihn das Fundament von Chinas Entwicklung ist. Ohne nationale Sicherheit kann es für ihn kein Wirtschaftswachstum geben. Aber die Fokussierung auf Sicherheit hat ihren Preis. So können zum Beispiel Volkswagen und andere deutsche Autohersteller ihre Daten aus China nicht mehr nach Europa transferieren und umgekehrt, weil China strenge Bedingungen für den Daten-Export eingeführt hat. Auch überlegen einige internationale Beratungsfirmen, China wegen des neuen Anti-Spionage-Gesetzes zu verlassen. Dass nationale Sicherheit über allem steht, wirkt sich negativ auf die Wirtschaft des Landes aus.

„Viele Menschen in China blicken sorgenvoll in die Zukunft“

Bislang hat sich die Kommunistische Partei vor allem durch beständiges Wirtschaftswachstum legitimiert und durch das Versprechen, dass jeder zu Wohlstand kommen kann. Wenn die Wirtschaft nun aber schwächelt: Kann das zu neuen Protesten führen?
Im Moment deutet nichts auf ein ähnliches Ausmaß wie bei den Covid-Protesten hin. Allerdings hat auch niemand die Covid-Proteste kommen sehen. Viele Menschen in China blicken jedenfalls sorgenvoll in die Zukunft. Sie fragen sich, in welche Richtung sich das Land entwickeln wird. Wie bereits gesagt: Viele Lokalregierungen haben kein Geld mehr, etwa um das Gesundheitssystem zu reformieren oder um Renten auszuzahlen. Es gibt Debatten darüber, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Viele Menschen können sich zudem kein Wohneigentum mehr leisten, und vor allem junge Menschen haben Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Das alles gefährdet das soziale Gefüge in China, und natürlich kann das theoretisch zu Protesten führen. Aber es ist unmöglich zu sagen, wann und ob es überhaupt so weit kommt. Vielleicht reicht ein einziger Funke aus, wie bei den Covid-Protesten. Vielleicht aber passiert auch einfach gar nichts.

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