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Rundumschlag vom Oppositionsführer in NRW. Schulsystem: desaströs. Innere Sicherheit: in Gefahr. Schuld sei die Landesregierung. Aber auch von Kanzler Scholz erhofft sich SPD-Mann Jochen Ott mehr.
Köln – Jochen Ott kennt die Abkürzungen. Trotz überfüllter EM-Fanmeile am Rheinufer in Köln und Straßensperrung schafft er es erstaunlich pünktlich zum Gespräch. „Ich bin ja ortskundig“, sagt der Chef der SPD-Fraktion von NRW.
Ott ist in Köln aufgewachsen, im Rechtsrheinischen. Das ist die Rheinseite, die von manchen in der Domstadt seit jeher etwas abschätzig „Schäl Sick“ genannt wird – frei übersetzt: die falsche Seite. Manche der Stadtteile dort gelten heute als Brennpunkte, die von der Stadt stiefmütterlich behandelt werden. Ein Aspekt, auf den der SPD-Politiker empfindlich reagieren kann, soziale Gerechtigkeit ist sein Thema, sagt er.
SPD-Politiker Jochen Ott: Merz ist stärker als Wüst
Mit einer Schwarz-Grünen Landesregierung in NRW und nach einem denkbar schwachen Europawahl-Ergebnis für die SPD hat Ott als Oppositionsführer aktuell nicht immer den leichtesten Job, seine Themen voranzubringen. Im Interview verrät der ausgebildete Lehrer, der acht Jahre an einer Gesamtschule in Brühl Geschichte und Religion unterrichtet hat, wie ihm das trotzdem gelingen will. Außerdem erklärt er, warum er CDU-Chef Friedrich Merz im Vergleich zu NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst für den stärkeren Kanzlerkandidaten hält und was Bundeskanzler Olaf Scholz aus seiner Sicht besser machen muss.
Herr Ott, gibt es eine typische Lehrereigenschaft, die Sie sich bewahrt haben und die Ihnen als Fraktionschef hilft?
Man sagt mir nach, dass ich gerne Hausaufgaben verteile. Aber ernsthaft: Die pädagogische Prägung habe ich sicher in mir drin. Man sollte es mit dem Lehrersein allerdings auch nicht übertreiben.
Als Fraktionschef muss man auch Pädagoge sein?
In der Politik ist total viel Pädagogik. Es geht immer um die Frage, wie man eine große Gruppe von Menschen dazu bewegen kann, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Und motivieren kann ich – glaube ich – nicht so schlecht.
Sie sind vor über 20 Jahren in den Lehrerberuf gestartet. Wahrscheinlich sind die Schultoiletten von damals heute immer noch dieselben. An sehr vielen Schulen sind die sanitären Einrichtungen so marode, dass sie nicht nutzbar sind. Warum ist dafür kein Geld da?
Marode Schultoiletten sind Staatsversagen
Wenn Kinder in der Schule nicht ohne Unwohlsein zur Toilette gehen können, weil die Sanitäranlagen heruntergekommen oder kaputt sind, dann ist das für ein reiches Land wie Deutschland peinlich. Das ist Staatsversagen. Und hat damit zu tun, dass bei Fragen wie diesen alle immer nur auf andere zeigen und sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Im Bildungsbereich ist das besonders krass: Der Bund darf da eigentlich gar nicht mitmachen, finanziert aber milliardenschwere Unterstützungsprogramme. Die Länder sagen: Für die Schultoiletten sind aber die Kommunen zuständig. Und die Kommunen sagen: Dafür bekommen wir aber vom Land nicht genug Geld. Bei den Themen Digitalisierung, Ganztag, Schulsozialarbeit ist das genauso.
Das ist Föderalismus. Wie lässt sich das denn lösen?
Ja, das ist Föderalismus, und dass wir ihn haben, ist sehr viel wert. Der hindert auch nicht daran, dass sich die verschiedenen Ebenen zusammen an einen Tisch setzen und gemeinsam Lösungen erarbeiten. In NRW fordern wir mit den kommunalen Spitzenverbänden zum Beispiel seit drei Jahren ein ökonomisches Gutachten, das einfach mal die Frage klärt: Wer bezahlt hier eigentlich was? Aber die schwarz-grüne Landesregierung weigert sich, das durchzuführen.
Wobei es auch auf den Standort ankommt. Eine Grundschule in Köln-Porz sieht anders aus als in der reichen Südstadt. Warum gibt es so große Unterschiede?
In reicheren Gegenden gibt es oft Eltern mit hohem Mobilisierungsgrad, die Fördervereine gründen und finanzieren und die auch Druck ausüben können. Ein Beispiel: Die Küche einer Ganztagsschule in einem Kölner Brennpunktviertel musste wegen Fliegenbefall geschlossen werden. Da gab es einen Mini-Protest vor dem Ratssaal, eine einzige Demonstrantin war da. Am selben Tag haben 500 Eltern an einer anderen Schule einen Riesenprotest gestartet, weil dort 20 Ganztagsplätze fehlten. Das zeigt das Kräfteverhältnis und ist natürlich nicht fair.
Wie kann es fairer werden?
Die SPD ist die ersten Schritte schon gegangen, mit dem Startchancen-Programm. Damit werden gezielt Schulen gefördert, die einen hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler haben.
Ja, das ist mir bekannt. Das ist absurd und nicht zielführend. Die Fachleiter verdienen gutes Gehalt, die können sich ihren Kaffee und ihr Croissant mal schön selber kaufen. Dieses Ritual ist ein Symbol für die enorme Hierarchisierung der Lehrerausbildung, die letztlich auch zu einem hohen Burn-Out-Faktor führt. Es heißt immer: Wenn sie das Referendariat überleben, überleben sie auch den Rest. Und mit dieser Denkweise muss Schluss sein, sonst halten wir junge Menschen davon ab, sich für den Lehrerberuf zu entscheiden.
Der jüngste Bundesbildungsbericht hat viele Mängel aufgezeigt. Wie bewerten Sie das?
Unser Schulsystem ist in dieser Form am Ende. 20 Prozent eines Jahrgangs sind nach der neunten Klasse nicht ausbildungsfähig. 30 Prozent der Grundschüler können nicht richtig lesen, rechnen und schreiben. Und der Anteil der Kinder mit mentalen Schwierigkeiten ist so hoch wie nie zuvor. Die Medienkompetenz sinkt und bei der Europawahl haben viele Junge rechtsextrem gewählt. Das Schulsystem ist nicht mehr effizient und wir müssen es dringend überholen. Das ist keine Frage der Parteipolitik, sondern eine grundsätzliche.
Bei der Europawahl hat die SPD in NRW, das traditionell als sozialdemokratische Hochburg gilt, nur 17 Prozent geholt. Was ist falsch gelaufen?
Das war ein Denkzettel an die Ampel. Die Leute sind die Streitigkeiten in der Bundesregierung satt. Das hat uns in NRW geschadet. Außerdem hat die SPD im Wahlkampf nicht gesagt, wofür sie ist, sondern vor allem, was sie verhindern will. Und das ist zu wenig. Ein Grund war sicher auch die fehlende Fünf-Prozent-Hürde. Viele, die normalerweise SPD wählen, haben ihre Stimme einer Kleinpartei gegeben. Weil der Sonneborn halt ein geiles Plakat gemacht hat.
Denkzettel an Olaf Scholz: „Viele wünschen sich, dass der Kanzler öfter Tacheles redet“
Ein Denkzettel an die Ampel richtet sich auch an SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz. Was muss er besser machen?
Beim Wahlkampfabschluss in Duisburg war gleichzeitig eine große Pro-Palästina-Demo. Olaf Scholz hat dort in seiner Rede, in der es auch um den Terrorangriff der Hamas ging, Emotionen und Leidenschaft gezeigt und den Leuten gesagt, wo der Hammer hängt. Viele wünschen sich, dass der Kanzler öfter Tacheles redet und Ansagen macht.
Kritiker sagen: Im Wahlkampf gab es zu viel Moralismus. Auch in den Argumenten gegen die AfD. Wie beurteilen Sie das?
Gegen den Rechtsruck zu argumentieren, gehört zur DNA der Sozialdemokratie. Der Kampf gegen Rechts geht aber nicht mit Moral, sondern mit guter Politik für die Mehrheit der Bevölkerung. Für die, die morgens aufstehen, die ihren Job machen, und sich an die Regeln halten. Viele haben die Schnauze voll davon, dass immer über die geredet wird, die sich nicht an die Regeln halten. Eltern haben das Problem, dass morgens die Kita geschlossen ist. Menschen kriegen keinen Termin beim Facharzt, kommen wegen der Bahn zu spät zur Arbeit oder stehen im Stau, weil die Autobahnbrücke kaputt ist. Manche bekommen das Gefühl, der Staat funktioniert nicht. Diese Leute haben wir zu wenig adressiert.
Also debattiert die Politik die falschen Themen?
Es wird viel über Migration, Bürgergeld und internationale Beziehungen zur Ukraine gesprochen. Das ist alles wichtig. Aber ich habe oft das Signal von den Leuten bekommen: Sprecht mal über unsere Themen. Ich glaube, sehr viele Menschen sind im Herzen Sozialdemokraten. Aber im Moment haben wir keine gute Performance in Berlin und das schwächt uns.
Sie werden für das abgestraft, was die Ampel im Bund macht. Auf der anderen Seite steht Schwarz-Grün in NRW in Umfragen gut da. Was bedeutet das für Ihre Rolle als Oppositionsführer?
Schwarz-Grün ist total überbewertet. Hendrik Wüst inszeniert sich als die freundliche Alternative zu Friedrich Merz, der vor allem im großstädtischen Milieu keinen Blumentopf gewinnen wird. Dabei halte ich ihn für authentischer. Wüst ist dagegen ein Darsteller. Und an dem Tag, wo er gegen Merz verloren haben wird, weil er nicht stark genug ist, sich in Berlin durchzusetzen, werden sich die Scheinwerfer mehr auf seine Bilanz in Düsseldorf richten. Dann wird schnell klar: Ob Bildung, Wohnungsmieten oder Innere Sicherheit – bei all diesen Themen hat die Regierung schlecht abgeschnitten. Schöne Fotos mit Barbara Schöneberger oder Macron zu machen, ist am Ende keine Leistung.
Hendrik Wüst hat jüngst in der Landespressekonferenz eine Kooperation mit dem BSW nicht ausgeschlossen. Was sagen Sie dazu?
Im Vorfeld der Wahlen im Osten irgendetwas auszuschließen, halte ich für falsch. Das eigentliche Problem an dieser Pressekonferenz war aber, dass er über BSW und Afghanistan und zig andere Themen gesprochen hat, die mit NRW nichts zu tun haben. Das war eine typische Strategie, um von der Auseinandersetzung im Plenum abzulenken, wo es an dem Tag um die Kommunalfinanzen ging. Wenn Sie sich seine Reden im Parlament einmal anschauen, dann geht es da um die Ukraine, Erdbeben in Syrien und Solidarität mit Israel. Und fast nie um NRW, dafür wurde er aber gewählt.
Kooperation mit BSW? „Man muss genau hingucken: Welche Leute sind das?“
Nochmal zurück zum BSW: Wäre eine Kooperation aus SPD-Sicht denkbar?
Auf Bundesebene sehe ich das nicht. In den Ländern kann das eine Möglichkeit sein. Man muss sehr genau hingucken: Welche Leute sind das? Im Europaparlament zum Beispiel sitzt jetzt der ehemalige Oberbürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel. Und ihn schätze ich als Mensch sehr. Auch wenn ich nicht verstehen kann, warum er die SPD verlassen hat, um zum BSW zu gehen.
Es ist enttäuschend, dass er diesen Weg gegangen ist. Vielleicht hätten wir frühzeitiger darüber reden müssen, ob es auch andere Lösungen gegeben hätte.
Glauben Sie, dass das BSW 2027 im NRW-Landtag sitzt?
Das kommt darauf an, wie die Linke sich weiterentwickelt. Und wir wissen nicht, wie der Trend bei den Grünen weitergeht. In NRW haben sie zuletzt deutlich stärker verloren als im Bundesschnitt. Die Strategie der Grünen, geräuschlos in der Koalition zu regieren, wird auf Dauer nicht aufgehen.
Bundesweit gibt es mehr Gewalttaten und Messerangriffe. In NRW ganz besonders. Was ist falsch gelaufen?
Das Innenministerium hat keine gute Bilanz vorzuweisen. Herbert Reul gibt sich als harter Sheriff, aber seine Zahlen sind schlecht. Es reicht nicht, sich medial als Clan-Jäger zu inszenieren. Es fehlen Staatsanwälte, die Straftaten verfolgen und Ermittler, die all die Akten durchackern können. Der Sheriffstern von Herbert Reul rostet. Und die Frage ist, ob er überhaupt noch die Kraft hat, den Stern wieder aufzupolieren.
Was kann man denn tun, damit es besser wird?
Wir haben gefordert, dass man Waffenverbotszonen ausweitet. Man muss in Deutschland nicht mit einem Messer durch die Gegend laufen. Das zweite ist das Strafrecht. Es dauert zu lange, bis Urteile gesprochen werden. Und wir brauchen mehr Prävention. Bei TikTok können schon Kinder ständig Videos von brutalen Schlägereien und Messerstechereien sehen. Irgendwann bekommen sie das Gefühl, das ist normal. Es braucht endlich Gegeninitiativen. Wenn der Account der Landeszentrale für politische Bildung auf TikTok rund 140 Follower hat, dann ist das peinlich wenig. Da muss massiv in Know-how und Ressourcen investiert werden. Stattdessen kürzt Schwarz-Grün aber die Mittel für politische Bildung und beschneidet die Landeszentrale auch noch.
Wobei am Ende der Algorithmus entscheidet, welcher Inhalt gesehen wird.
Das stimmt. Die Videos vom Balkon-Ultra zum Beispiel gehen ja zurzeit viral. Und dann singen die Kinder mit: „Pyrotechnik ist kein Verbrechen”, weil sie es lustig finden. Aber auf dem gleichen Weg singen die dann vielleicht plötzlich „Ausländer raus“. Und das sind Mechanismen, die sich extreme Kräfte zunutze machen.
Medienkontrolle durch den Staat ist ein schmaler Grat. Eine Möglichkeit wäre eine Art Rundfunkrat für soziale Medien, in dem möglichst viele Player kontrollieren, was dort passiert. Also mehr Selbstkontrolle.
Nächstes Jahr sind Kommunalwahlen. Was glauben sie: Wer wird Stadtoberhaupt in Köln?
Ich wünsche mir, dass alle Parteien eine Kandidatin oder einen Kandidaten aufstellen und es eine intensive Auseinandersetzung um die Zukunft von Köln gibt. Seit Jahren ist in der Stadt nichts vorangekommen. Die ganze Stadt ist im Grunde unter einer Glocke der Selbstgenügsamkeit und wird nach und nach nur noch zum Dorf.
Was wäre denn Ihre Vision für Köln?
Der identitätspolitische und deshalb inhaltsleere Wahlkampf von CDU, Grünen und FDP für die parteilose Henriette Reker hat Köln schwer geschadet. Die Politik in der Stadt ist dadurch farb- und konturenlos geworden und in Stillstand geraten. Köln muss sich entscheiden, ob es auf Dauer noch eine europäische Metropole des Westens sein will. Nur Jeföhl und Hätz reichen dafür nicht aus. Köln muss immer Dorf und Großstadt in einem sein. Dazu gehört für mich auch eine bessere Anbindung der äußeren Veedel. Wir müssen dabei das Rechtsrheinische viel stärker in den Fokus nehmen. Porz wird nächstes Jahr 50 Jahre eingemeindet sein, das ist für die meisten Porzer aber kein Feiertag. Viele sagen, das war der Anfang vom Ende, weil die Investitionen in den Stadtbezirk aufgehört haben. Am Dom brauchen wir zudem eine historische Mitte, die Stadtmuseum und Römisch-Germanischem Museum eine Perspektive gibt. Wir müssen die Museen generell wieder pflegen, damit die Stadt auch in 20 Jahren noch für Besucher interessant ist. Es geht auch darum, den Rhein inklusive seiner Querung von beiden Seiten mit Fußgängerbrücken großstädtisch zu erschließen. Ich könnte noch weiter machen, aber die Antwort ist ja jetzt schon zu lang.
Stichwort Ost-West-Verbindung? Soll die unterirdisch sein?
Ich finde, der ehemalige OB Fritz Schramma hatte nicht recht mit dem Satz, in bebauten Städten könne man keine U-Bahn bauen. Düsseldorf hat es ja auch gemacht. Insofern glaube ich, dass das möglich ist.