„Der ganz rechte Rand“
Zu „Gewalt gegen Frauen“ oder „Hetze und Hass“: So radikal stimmt die AfD in Europa ab
Wie radikal ist die AfD? Eine Kooperation mit Abgeordnetenwatch liefert vor der Europawahl Daten – die Partei ist in der EU „am ganz rechten Rand“.
Berlin/Brüssel – Die Europawahl am 9. Juni dürfte einen Rechtsrutsch im Europaparlament (EP) bringen – jedenfalls wenn die Demoskopen nicht weit daneben liegen. Mehr Gewicht für Rechtspopulisten, gerade für solche auf dem harten Kurs der AfD: Das birgt Gefahren für das europäische Projekt. Das unterstreicht auch eine Daten-Auswertung. IPPEN.MEDIA hat in Zusammenarbeit mit abgeordnetenwatch.de 29 brisante oder viel beachtete namentliche Abstimmungen deutscher Abgeordneter im EP analysiert.
Eine Erkenntnis: Gerade die AfD stimmt in Brüssel und Straßburg häufig ganz anders ab als (fast) alle anderen Parlamentarier aus der Bundesrepublik. Auch und gerade auf vielsagenden Themenfeldern. So haben die AfD-Abgeordneten etwa geschlossen als einzige Vertreter aus Deutschland gegen eine „Erweiterung der Liste der EU-Straftatbestände um Hetze und Hasskriminalität“ gestimmt.
AfD radikalisiert sich: Selbst Meuthen stimmte im EU-Parlament häufig anders
Dasselbe Bild gab es bei einem Paket zum „Schutz von Journalist:innen vor missbräuchlichen Gerichtsverfahren“ – und sehr ähnlich, in Form einer Enthaltung, beim Thema „Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Einem Entschließungsantrag zum „Vorgehen gegen russische Einmischungsversuche“ stimmte nur die AfD-Parlamentarierin Sylvia Limmer zu. Sie hatte aber mit der AfD mutmaßlich schon abgeschlossen: Limmer steht nicht mehr auf der AfD-Liste zur Europawahl. Sie trat Ende Mai aus der Partei aus. Nicht, ohne mit „strammen Höcke-Kadern“ und „Putin-Fanboys“ in der AfD abzurechnen.
Ebenfalls augenfällig sind Abweichungen zu Ex-AfD-Leuten im EU-Parlament: Die mittlerweile aus der Partei ausgetretenen Jörg Meuthen und Lars Patrick Berg stimmten in 13 beziehungsweise 11 der 29 Abstimmungen anders als ihre früheren Parteifreunde. Etwa beim Thema russische Einmischung. Aber auch bei den Voten zum EU-Medienfreiheitsgesetz oder dem Thema „Schutz von Journalist:innen vor missbräuchlichen Gerichtsverfahren“ – wenn auch hier nur in Form einer Enthaltung. Der Politikwissenschaftler und EU-Experte Nicolai von Ondarza wertet diese Daten im Gespräch mit unserer Redaktion als Indiz für eine Radikalisierung der AfD. Und ganz allgemein für eine AfD-„Fundamentalopposition“, wie sie im EP „nur der ganz rechte Rand“ einnehme.
AfD-Dokumente könnten teils einsame Voten erhellen: Wiederkehrende Muster
Die AfD selbst sagte das nicht in dieser offenen Form. Bei Abgeordnetenwatch können Nutzer Fragen an Abgeordnete stellen. In diesem Fall half eine journalistische Anfrage weiter. Ein Sprecher der AfD-Delegation im EP sandte IPPEN.MEDIA Abstimmungsempfehlungen der zuständigen AfD-Fachpolitiker zu sieben der betrachteten Abstimmungen zu. Darin finden sich wiederkehrende Muster – und einige vielsagende Argumentationen.
AfD ziemlich allein auf weiter Flur: Sieben Abstimmungen im Jahr 2024 im Überblick:
| Datum | Abstimmung | AfD-Votum | andere dt. Abgeordnete | Gesamtergebnis |
|---|---|---|---|---|
| 17. Januar | Verbot von Greenwashing und irreführender Produktinformation | 8 Nein | 73 Ja | 593 Ja, 21 Nein, 14 Enthaltungen |
| 18. Januar | Erweiterung der Liste der EU-Straftatbestände um Hetze und Hasskriminalität | 7 Nein | 61 Ja, 1 Nein** | 397 Ja, 121 Nein, 26 Enthaltungen |
| 27. Februar | Schutz von Journalist:innen vor missbräuchlichen Gerichtsverfahren | 8 Nein | 77 Ja, 2 Enthaltungen** | 546 Ja, 47 Nein, 31 Enthaltungen |
| 13. März | Europäisches Medienfreiheitsgesetz | 9 Nein | 65 Ja, 1 Nein, 12 Enthaltung** | 464 Ja, 92 Nein, 65 Enthaltungen |
| 23. April | Recht auf Reparatur (finale Abstimmung) | 9 Enthaltung | 80 Ja | 584 Ja, 3 Nein, 14 Enthaltungen |
| 24. April | Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen | 7 Enthaltung | 78 Ja, 2 Enthaltung** | 522 Ja, 27 Nein, 72 Enthaltungen |
| 25. April | Vorgehen gegen russische Einmischungsversuche | 6 Nein, 1 Ja | 69 Ja, 1 Nein | 429 Ja, 27 Nein, 48 Enthaltungen |
*Datenbasis: Abgeordnetenwatch/Europäisches Parlament. Abweichungen in der Gesamtzahl der Stimmen ergeben sich aus Nicht-Beteiligung von Abgeordneten an den jeweiligen Abstimmungen. / **Darunter die Ex-AfDler Meuthen und/oder Berg.
So verwiesen die jeweils zuständigen Abgeordneten in vier der sieben Fälle darauf, dass die EU gar keine Regelungen treffen sollte. Zum Thema „Schutz vor Journalist:innen vor missbräuchlichen Gerichtsverfahren“ heißt es etwa: „Eine Regelung im nationalen Rahmen stieße sicher auf weniger Bedenken.“ Oder zum Thema Hasskriminalität: „Rechtsvorschriften zu sogenannter Hassrede sollten, wenn überhaupt, auf nationaler Ebene erlassen werden.“ Beim Medienfreiheitsgesetz sah die AfD „keine Zuständigkeit der EU“.
Gewalt gegen Frauen? Nur AfD enthält sich – „Allein Sache des nationalen Gesetzgebers“
In zwei Fällen begrüßten die jeweiligen AfD-Experten offiziell die Vorhaben sogar inhaltlich explizit – und empfahlen dennoch eine Enthaltung. „Die Forderungen zur strafrechtlichen Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt tragen wir inhaltlich mit“, heißt es etwa. Aber auch: „Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist allein Sache des nationalen Gesetzgebers und bedarf keiner europäischen Vereinheitlichung.“ Von den deutschen Abgeordneten sahen das offenbar nur Meuthen und Berg ähnlich.
Zweifel an der Zuständigkeit der EU sind indes kein exklusiver Standpunkt der AfD. Bei der Vorlage zu „Gewalt gegen Frauen“ meldete zunächst das tschechische Abgeordnetenhaus Bedenken an, beim Mediengesetz sogar der Bundesrat. Allerdings einigte man sich letztlich. Bei „genderbezogener Gewalt“ gehe es um europaweite Mindeststandards, lautete die Argumentation zuletzt. Und in Sachen Mediengesetz musste sich Deutschland Vorwürfe anhören, es kümmere sich nicht um Probleme in anderen EU-Staaten. Die Vorlage war auch eine Reaktion auf Gefahren für die Medienfreiheit in rechtspopulistisch geführten Staaten: „Diese Verordnung ist eine Antwort auf Orbán, Fico, Janša, Putin“, erklärte EP-Berichterstatterin Ramona Strugariu. Das könnte dem Verständnis des AfD-Votums dienen.
Auch andere Muster zeigen sich in den AfD-Argumentationen: Einem mit bemerkenswert breiter Mehrheit begrüßten „Recht auf Reparatur“ stand die AfD nach eigenen Angaben „nicht ablehnend gegenüber“. Es gebe aber einen Konflikt zwischen Verbraucherschutz und „unternehmerischer Freiheit“ – zudem sei die Vorlage Teil des „Green Deal“ und damit im Sinne „der dominierenden Ideologie grüngefärbt“, heißt es im Entwurf aus der Delegation. „Die im Titel genannte ‚Green transition‘ lehnen wir ohnehin ab, sodass es auch keinen Grund für Unterstützung der gesetzgeberischen Begleitmaßnahmen gibt“, heißt es zu einem „Verbot von Greenwashing und irreführender Produktinformation“. In beiden Fällen stimmten alle anderen deutschen Abgeordneten zu.
AfD als „Anti-System-Gruppierung“: Experte sieht „Metamorphose“ hin zur Radikalität
Experte von Ondarza sieht eine klare Linie im Verhalten der AfD. „Sie macht sehr wenige eigenen Berichte im EU-Parlament und stimmt meist entweder dagegen oder enthält sich.“ Auch an der inhaltlichen Arbeit beteiligten sich die Abgeordneten „wenig bis gar nicht“: „Das drückt das Selbstverständnis als Anti-System-Gruppierung aus.“ Ein Signal an die Wähler sei das auch. Jedenfalls, sofern die Zielgruppe das überhaupt mitbekomme. Denn die AfD werbe – wie allerdings andere Parteien auch – wenig mit ihren Aktivitäten im Europaparlament. „Der AfD-Wahlkampf ist vor allem geprägt von den Schwerpunkten Anti-Brüssel, Anti-Ampel und den vorherrschenden Debatten.“
Dass der nun fraktionslose Meuthen oder Berg – Letzterer war zur geringfügig moderateren EKR-Fraktion gewechselt – häufig anders abstimmten, sei „Teil der Metamorphose der AfD zu einer immer radikaleren Partei“, sagt von Ondarza zugleich. Dieser Wandel lasse sich im EU-Parlament sogar noch besser zeigen als auf nationaler Ebene.
Angefangen habe die Partei 2014 bei der EKR, zusammen mit der polnischen PiS oder den britischen Konservativen. Dort sei die AfD „herausgeflogen, weil sie zu radikal geworden ist“. Diese Geschichte habe sich nun wiederholt: Die zwischenzeitliche Heimat der AfD, die hart rechte ID-Fraktion, zog zuletzt die Reißleine und schloss die deutschen Parlamentarier aus. Wohl auch, weil Rechtspopulisten wie Marine Le Pen eine „Normalisierung“ anstreben und die AfD in die entgegengesetzte Richtung rudert.
Welcher Kurs bei der Europawahl mehr Erfolg zeigt, könne dann auch ein „Signal“ über Deutschland hinaus setzen, meint von Ondarza. Die Daten zeigen: Macht das AfD-Beispiel Schule, würde es Europa schwer haben, noch gemeinsame Standards zu finden – gerade bei wichtigen geteilten Werten wie der Sicherheit vulnerabler Gruppen oder der Medienfreiheit. Und sogar beim Verbraucherschutz. (Florian Naumann)
Rubriklistenbild: © Sebastian Kahnert/dpa
