Kommunalwahl in der Türkei
Pro-kurdische Partei reicht nach Kommunalwahl Klage ein – zahlreiche Proteste und Festnahmen
Nach den Kommunalwahlen in der Türkei nimmt die Polizei bei Protesten Dutzende fest. Anlass ist der Ausschluss eines Kandidaten von der Bürgermeisterwahl.
Update vom 3. April, 14.05 Uhr: Nach dem Ausschluss ihres Kandidaten von der Bürgermeisterwahl im osttürkischen Van hat die pro-kurdische DEM Parti Klage eingereicht. Sie habe beim Obersten Wahlgericht beantragt, die Entscheidung der Wahlkommission aufzuheben, erklärte die DEM am Mittwoch.
DEM-Kandidat Abdullah Zeydan war bei der Kommunalwahl am Sonntag mit mehr als 55 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt gewählt worden, der Kandidat der Regierungspartei AKP bekam dagegen lediglich 27 Prozent. Die Wahlkommission hatte Zeydan jedoch in letzter Sekunde von der Wahl ausgeschlossen und damit den Weg für dessen Kontrahenten freigemacht.
Der Schritt hatte wütende Proteste in den türkischen Kurdengebieten sowie in Istanbul ausgelöst. In Van und sechs weiteren Städten, darunter Izmir und Istanbul, wurden etwa 90 Menschen festgenommen, wie Innenminister Ali Yerlikaya am Mittwoch mitteilte. Die Präfektur von Van verbot für die kommenden zwei Wochen jegliche Proteste sowie die Anreise von Menschen, die verdächtigt würden, „an illegalen Versammlungen in der Provinz teilnehmen zu wollen“.
Die lokale Wahlbehörde begründete ihre Entscheidung nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu damit, dass Zeydan vorbestraft sei und darum nicht zur Wahl hätte antreten dürfen. Die Behörde hatte Zeydan aber schon vor Wochen zu der Wahl am Sonntag als Kandidat zugelassen.
DEM Parti spricht von „Stimmenraub“ in kurdischen Hochburgen durch Soldaten
Erstmeldung vom 2. April: Ankara – In der Opposition ist nach den Kommunalwahlen in der Türkei Erleichterung aufgetreten. „Wir sind nicht mehr wenige. Ihr werdet sehen, morgen werden wir noch mehr sein“, schreibt der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel. Seine Partei ist die stärkste Kraft geworden und bekam landesweit 37,77 Prozent der Stimmen. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan wurde mit 35,49 Prozent dagegen nur zweitstärkste Kraft im Land.
Bei der pro-kurdischen DEM Parti ist man dagegen verärgert. In den kurdischen Städten und Gemeinden wurden Tausende Soldaten in Bussen herangekarrt, die dort ihre Stimmen abgegeben haben. „Der Wille des Volkes wird vor den Augen des ganzen Landes geraubt und ein Verbrechen wird ganz offen begangen. Sind die Tausenden von bestellten Wählern, die von Ardeşen, Tokat, Afyon, Malatya nach #Şırnak transportiert wurden, nur eine Angelegenheit der DEM-Partei?“, fragt die Sprecherin der pro-kurdischen Partei, Aysegül Dogan. Hier bekam die AKP 47,58 Prozent. Die DEM Parti kam dagegen nur auf 41,04 Prozent. 47.000 Soldaten und anderes Sicherheitspersonal wurde zu den Wahlurnen in den kurdischen Städten und Gemeinden gebracht.
YRP bestätigt „Unregelmäßigkeiten“ bei Kommunalwahl in der Türkei
Den „Stimmenraub“ bestätigt auch die islamistische Yeniden Refah Partisi (YRP), die kurz vor der Kommunalwahl die Zusammenarbeit mit Erdogan und seiner AKP beendet hatte. „Wir haben konkrete Aufnahmen über Vorwürfe von Wahlunregelmäßigkeiten in Sanliurfa-Siverek erhalten. Unser Rechtsteam verfolgt die Angelegenheit genau. Die Türkei ist ein Rechtsstaat. Es kann kein Ergebnis erzielt werden, wenn man gegen das Gesetz verstößt und den Willen des Volkes ignoriert. Konkrete Beweise sind eindeutig, wir fordern den Obersten Wahlrat und die Staatsanwaltschaft auf, ihre Pflicht zu erfüllen. Wir werden jede unserer Stimmen bis zum Ende verfolgen“, teilt die YRP ebenfalls auf X mit.
Erdogan ruft AKP-Vorstand zusammen
Präsident Erdogan hatte nach dem Wahldebakel am Sonntag kurz nach Mitternacht eine Rede gehalten und seinen Anhängern Änderungen versprochen. Man habe die Botschaft der Wähler verstanden, sagte Erdogan. Auch sein Bündnispartner, die rechtsradikale MHP, gehört zu den Verlierern. Hatte die MHP bei den Kommunalwahlen 2019 noch 7,31 Prozent der Stimmen, so bekam sie am Sonntag nur noch 4,99 Prozent der landesweiten Stimmen. Erdogan hat für heute dagegen den Vorstand seiner AKP zusammengerufen. Auch die MHP will schnellstmöglich die Wahlergebnisse bewerten.
Selbstkritik bei regierungsnahen Medien in der Türkei
In den regierungsnahen Medien kommt leichte Selbstkritik auf. „Sie müssen die Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Das Problem der Rentner, das Problem der Lebenshaltungskosten... Sie alle müssen gelöst werden. Das ist der Hauptgrund für das Wahlergebnis der AKP. Dieses Problem muss gelöst werden. Anders wird es nicht gehen. Das ist sicher“, schreibt Ahmet Hakan in seiner Kolumne in der Zeitung Hürriyet.
Die islamistisch-nationalistische Zeitung „Yeni Akit“ greift die CHP-Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, und Ankara, Mansur Yavas, an. „Der faule Ekrem und Mansur haben keine Ausreden mehr“, titelt das Blatt. „Imamoglu, der die Kommunalwahlen 2024 mit Unterstützung der DEM, dem politischen Ableger der PKK, gewonnen und die Mehrheit im Stadtparlament errungen hat, wird sein Scheitern nicht mehr vertuschen können“, so die Yeni Akit. Imamoglu habe die Marionetten der PKK an seine Seite geholt. Auch Yavas habe die Mehrheit im Stadtparlament von Ankara mit der Hilfe der Dem Parti und Isci Partisi bekommen.
Hoffnung für die Zukunft von Türkei bei Exiljournalisten
Dagegen bereitet sich unter den türkischen Exiljournalisten Hoffnung angesichts des Wahlsieges der Opposition aus. „Erdogan hat seine Unbesiegbarkeit mit einem schweren Schlag verloren. Jetzt steht er einer CHP gegenüber, die nach 47 Jahren wieder die stärkste Partei geworden ist, und Imamoglu, der als nächster Präsident gilt. Wenn die CHP nicht einen großen Fehler macht, wird die Ära Erdogan vor 2028 vorbei sein“, kommentiert der im deutschen Exil lebende Can Dündar im WDR.
Der Exiljournalist Cevheri Güven lobt im Gespräch mit FR.de von IPPEN.MEDIA die Strategie von Imamoglu und Yavas. „Diese Wahl war ein Wettstreit zwischen den politischen Genies Ekrem Imamoglu und Erdogan. Imamoglu, der Schattenvorsitzende der CHP, legte fast alle Kandidaten landesweit selbst fest und bevorzugte Namen, für die auch konservative Wähler stimmen konnten. Am Ende lag die CHP zum ersten Mal vor der AKP. Erdogan ist jedoch nicht unter die 34 Prozent gefallen, die er bei seiner ersten Machtübernahme im Jahr 2002 erhielt. Mit anderen Worten: Es gibt keinen großen Einbruch in der AKP, aber eine Konsolidierung in der Opposition unter dem Dach der CHP“, so Güven. Die Kommunalwahl habe zudem gezeigt, dass die Wähler in der Türkei Imamoglu und Yavas weiterhin als einen Gegenkandidaten für Erdogan sehen.
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