Erstes Groß-Treffen am Montag
Meloni pokert, BSW orakelt – und der Ball liegt auch bei Scholz: Das Ringen nach der EU-Wahl beginnt
Wer lenkt künftig in der EU? Schon am Montag steht das erste Sondertreffen an – es geht um Ursula von der Leyens Zukunft. Viele Fragen sind offen:
Eine Woche ist seit der EU-Wahl vergangen – und die Beben, auch angesichts des Rechtsrutsches in Europa, haben sich beruhigt. In Brüssel geht der Poker um Einfluss und wichtige Posten aber erst los. Es geht um neue Bündnisse und um Weichenstellungen der Staats- und Regierungschefs. Am Montag (17. Juni) findet der erste wichtige Termin statt. Was jetzt die wichtigen Fragen sind und wie der EU-Fahrplan aussieht:
EU-Frage #1: Bleibt Ursula von der Leyen Kommissionschefin?
Die EU schläft nicht – jedenfalls nicht in diesen Tagen. Kurz nach dem Ukraine-Friedensgipfel geht es in Brüssel weiter. Schon am Montag (17. Juni) beraten die Staats- und Regierungschef bei einem informellen Sondergipfel über den wichtigsten Posten: Den an der Spitze der EU-Kommission. Denn den Vorschlag macht diese Runde, nicht das EU-Parlament. Mit dabei ist gleichwohl Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat hier ein gewichtiges Wort mitzureden. Nach Informationen des Münchner Merkur wird er Ursula von der Leyen wohl stützen.
Ein EU-Gipfel folgt am 27./28. Juni. Am Ende braucht es aber einen breiten Kompromiss. Nötig ist eine „qualifizierte Mehrheit“; die zustimmenden Staatenlenker müssen 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. „Es sieht nach dem Wahlsieg der EVP danach aus, dass Ursula von der Leyen auf eine zweite Amtszeit hoffen kann. Das ist aber keineswegs ausgemacht“, sagt Europaexperte Stefan Thierse von der Universität Bremen. Es werde sich „zeigen müssen, ob in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten von der Leyen genügend politischen Rückhalt genießt, damit sie der Europäische Rat auch nominieren wird.“
Erst nach einer Einigung ist das neue EU-Parlament am Zug. Den vorgeschlagenen Kandidaten kann es wählen – oder auch nicht. Frühestens ist das vom 16. bis 19. Juli möglich, dann konstituiert sich das neue Parlament. Danach ist Sommerpause. Ab 1. Juli hat übrigens Viktor Orbáns Ungarn die Ratspräsidentschaft inne – das könne „zusätzlichen Einigungsdruck“ auf das Parlament ergeben, meint Thierse. Der könnte nötig sein: Offen ist, ob die Fraktionen jenseits der EVP von der Leyen mitwählen. Selbst wenn die Fraktionsspitzen sich darauf einigen: Der Fraktionszwang in Brüssel und Straßburg ist gering. Und das könnte den Rechtspopulisten eine Tür öffnen.
EU-Frage #2: Was machen die Rechten?
Denn wenn sich in der bisherigen informellen Koalition aus EVP, liberaler „Renew“ sowie Sozialisten und Sozialdemokraten keine Mehrheit etwa für von der Leyen findet – obwohl sie rechnerisch besteht – sind weitere Unterstützer gefragt. Das könnten die Grünen sein. Oder auch (extrem) rechte Kräfte. Die sind gestärkt aus der Wahl hervorgegangen. Und zuvor hatten von der Leyen und EVP-Chef Manfred Weber Offenheit für rechts signalisiert. Diese Zeichen hätten sie aber „im Schlussspurt des Wahlkampfes nicht wiederholt“, sagt Thierse. Ausschließen wollte Weber einen Pakt mit Rechts allerdings kurz nach der Wahl auch nicht.
Thierse zufolge steht jetzt vor allem die EVP vor einer Entscheidung: „Will sie eher auf eine beständige Zusammenarbeit mit beispielsweise der Fraktion der Grünen setzen oder will sie sich die Zusammenarbeit in bestimmten Themen mit der EKR erkaufen.“ In der EKR-Fraktion saßen bislang die etwas gemäßigteren Rechtsaußen-Kräfte – etwa Giorgia Melonis Fratelli d‘Italia. Nicht aber Marine Le Pens Rassemblement National, Orbáns Fidesz oder die AfD.
Entscheidend könnte insofern werden, wie sich diese Kräfte nach der Wahl sortieren. Le Pen hatte Meloni bereits offensiv eine Zusammenarbeit angeboten. Kommen weitere Parteien hinzu, etwa die zuletzt fraktionslosen Fidesz und AfD, könnte sich eine sehr große und stimmenstarke Fraktion ergeben. Für eine Zusammenarbeit mit der EVP könnte diese aber zu „toxisch“ sein. „Es kommt darauf an, wo sind diese Parteien bereit sind, Kompromisse zu schließen, um europäische Politik mitzugestalten und nicht nur zu verhindern“, sagt Thierse. Zudem knirsche es auch zwischen den rechten Parteien, etwa bei der Russland-Politik. Wechselnde Mehrheiten seien denkbar.
EU-Frage #3: Noch mehr Rochaden im Parlament?
Unklar ist noch, welche Rolle Sahra Wagenknechts BSW spielen wird. Mit seinen sechs Sitzen hat das Bündnis Sahra Wagenknecht eigentlich keine Schlüsselposition inne. Aber Spitzenkandidat Fabio de Masi kündigte zuletzt einen größeren Wurf an. Man werde eine neue Fraktion aufmachen, kündigte er in der taz an. Wer dabei sein könnte, verriet er nicht. Es würde sich aber beinahe automatisch um eine ansehnliche Umwälzung handeln.
„Nötig sind mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der Mitgliedsstaaten, also aus mindestens sieben Mitgliedsstaaten, um den Fraktionsstatus zu erlangen“, sagt Thierse allgemein. Möglich ist, dass sich noch mehr Änderungen ergeben. Die Liberalen haderten zuletzt etwa damit, dass die niederländische VVD aus ihren Reihen zu Hause eine Koalition mit Geerts Wilders‘ Rechtsaußen eingegangen ist. Noch brisanter klingt, dass CDU-Vertreter Jürgen Hardt bei Euractiv den französischen Republikanern mit einem Ausschluss aus der EVP drohte – wenn diese nach den französischen Neuwahlen gemeinsame Sache mit Le Pen machen.
Die Smer des slowakischen Regierungschefs und Populisten Robert Fico war bereits zuletzt fraktionslos und könnte auf der Suche nach Partnern sein, wie Radio Free Europe mutmaßte. Insgesamt sind 97 der 705 Abgeordneten noch keiner Fraktion zuzuordnen – 52 von ihnen sind neu dabei. Bis zum Parlamentsstart am 16. Juli sollten diese Fragen geklärt sein.
EU-Frage #4: Ändert sich die Politik der EU?
Von der Leyen hatte ihre zurückliegende Amtszeit unter eine große Überschrift gestellt: Den „Green New Deal“. Doch der könnte in einigen Punkten wackeln. Mit Betonung auf das Wort könnte.
Die EVP habe sich angesichts der Bauernproteste bereits selbst von der ökologischen Agrarwende distanziert und auch von Teilen des Green Deals, sagt Thierse. Er erwartet eine „Akzentverschiebung“. Das könne weniger Regulierung und Subvention für die Transformation bedeuten, oder auch weniger Sonderhaushalte. Andererseits braucht die EVP für die Kommissionspräsidenten-Wahl die Stimmen der Sozialdemokraten und eventuell auch der Grünen – die den Green Deal bislang mitgetragen haben: „Insofern erwarte ich keine komplette Rolle rückwärts.“
Auf dem Weg nach Europa: Die Aufnahmekandidaten der EU




Pikant ist auch dabei die mögliche Rolle der Rechten. Denn die – etwa die bisherige ID-Fraktion mit FPÖ, Le Pen und Co. – leugnen teils den menschengemachten Klimawandel; Klimaforscher Mojib Latif warnte bereits in der FR. Ohnehin beeinflusst der europäische Rechtsruck laut Thierse schon jetzt den Tonfall. Asyl und irreguläre Migration beherrschten teils den Wahlkampf. Und auch hier könnten die etablierten Parteien den eigentlichen Wandel selbst befeuern. Dass etwa der SPD-Kanzler Scholz nach der Messerattacke von Mannheim Abschiebungen von Schwerkriminellen forderte zeige, „wie sich der Ton in der Debatte geändert hat“.
Bis die gesamte EU-Spitze steht, wird es übrigens noch dauern: Das Prozedere der Kommissars-Kür dürfte mit Anhörungen im Oktober beginnen und erst Ende November mit der Kommissionswahl enden. (Florian Naumann)
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