Waldkraiburger „Ureinwohner” feiert 90. Geburtstag
Vom „schlesischen Stadtjungen zum bayerischen Bauernbua“: So prägte Klaus Ertelt Waldkraiburg
Reporter, Musiker und Lehrer: Klaus Ertelt hat Waldkraiburg jahrzehntelang mit seinem Engagement geprägt. Zu seinem 90. Geburtstag blickt er zurück und freut sich über einen Anruf aus Indien.
Waldkraiburg – „Wenn ich noch einmal auf die Welt kommen würde, ich wäre mit Sicherheit wieder Lehrer”, sagt Klaus Ertelt. Am 12. März 1934 geboren, ist er längst im Ruhestand. Doch noch heute grüßen ihn ehemalige Schüler und Kollegen auf der Straße. In Waldkraiburg ist er nach wie vor ein bekanntes Gesicht, bezeichnet sich heute selbst als „Ureinwohner”.
Das war nicht immer so: „Die Stadt wurde 1950 gegründet, als ich 1958 ankam, war ich ein Spätankömmling”, erzählt er. Mit 24 Jahren beginnt er in der jungen Stadt sein drittes Dienstjahr als Volksschullehrer. Nur wenig später fängt er an, für die Heimatzeitungen zu schreiben. Mit der Schreibmaschine verfasst er Artikel und schickt die getippten Zeilen per Bahnexpress nach Rosenheim. „Bis Waldkraiburg in den 60er-Jahren eine eigene Redaktion bekam, war ich der erste Reporter.” Auch danach bleibt er dem OVB mehr als 50 Jahre lang treu, schreibt gerne über Vereinsleben und Musikveranstaltungen.
Noch heute erinnert er sich an das Pfeifen der Granaten
Musik begleitet Ertelt sein Leben lang, wird ihm quasi in die Wiege gelegt: Sein Vater war musikalisch, spielte Klavier und Trompete, die Mutter sang. Bereits in seiner Geburtsstadt Neustadt in Oberschlesien, heute die polnische Stadt Prudnik, beginnt er Geige zu lernen.
Das Instrument muss jedoch zurückbleiben, als die Familie kurz nach seinem elften Geburtstag vor russischen und polnischen Soldaten flieht. Noch heute erinnert er sich an das Pfeifen der Granaten, daran, wie tausende Leute Richtung Wald gerannt sind und wie sie dachten, nach zwei oder drei Tagen könnten sie zurückkommen.
Mit seinen beiden Schwestern flieht er Richtung Westen und kommt am 7. April 1945 in Zaisering im Landkreis Rosenheim an. Dort nimmt ein Bauernehepaar die Geschwister auf. „Als wären wir ihre eigenen Kinder”, wie er sagt. Ertelt besucht die Volksschule, singt im Kinderchor, hilft auf dem Hof mit. „In Zaisering wurde aus dem schlesischen Stadtjungen ein bayerischer Bauernbua.”
Ein Zimmer ohne Ofen und fließend Wasser
Später macht er das Abitur, beginnt in Freising ein Lehramtsstudium. Seine erste Stelle tritt er in Schneizlreuth im Berchtesgadener Land an. „Da musste ich erstmal auf der Landkarte schauen, wo das liegt.” 180 Mark habe er im ersten Dienstjahr verdient, bei einem Bauernhof habe er ein Zimmer für 10 Mark im Monat bekommen – allerdings ohne Ofen und ohne fließend Wasser. „Damals war alles günstiger, aber die Wohnansprüche haben sich auch verändert”, sagt Ertelt.
Schon ein Jahr später rollt er erneut die Landkarte aus, denn er wird nach Egglkofen versetzt. Dort unterrichtet er eine Klasse mit 63 Kindern von der fünften bis zur achten Jahrgangsstufe, wie er erzählt. „Wie das geht, habe ich im Studium gelernt”, sagt er. Die Älteren übten etwa mit den Jüngeren als „Hilfslehrer” lesen, in anderen Fächern wie Geschichte unterrichtet er sie gemeinsam.
750 Abende musste seine Frau allein verbringen, weil er dirigierte
In Waldkraiburg kommt er an die Grundschule. Nach 14 Jahren als Lehrer wird er gleichzeitig Rektor, unterrichtet am Vormittag und erledigt die Rektorenarbeit am Nachmittag oder wenn sich eine Freistunde ergibt – wenn nötig setzt er sich abends nochmal an den Schreibtisch.
Sich die Zeit so frei einteilen zu können, ermöglicht ihm auch, sich in vielfältiger Weise ins Waldkraiburger Vereinsleben einzubringen. 55 Jahre ist er Mitglied der städtischen Orchestergemeinschaft, spielt Cello und dirigiert 30 Jahre lang. Etwa 750 Abende habe seine Frau Katharina Ertelt wegen letzterem allein zuhause verbringen müssen, rechnet er vor. Für dieses Engagement erhielt er 2007 den städtischen Kulturpreis.
Gemeinsam mit Katharina und einer inzwischen verstorbenen Bekannten gründet er 1970 den „Waldkraiburger Dreigesang”. Viele Jahre dürfen sie den Münchner Christkindlmarkt musikalisch umrahmen. Auch im katholischen Kirchenchor singt er jahrzehntelang.
Ein Besuch in seiner ehemaligen Heimat
Mit seiner ehemaligen Heimat bleibt Ertelt verbunden. 49 Jahre ist er Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien – bis sich diese 2019 auflöst. 1977 besucht er zum ersten Mal wieder seine Geburtsstadt, klingelt nach 32 Jahren an seiner alten Wohnungstür. Eine ältere Dame lässt ihn eintreten. „Ich bin durch die Zimmer gegangen und habe ein bisschen mit den Tränen gekämpft, von unserer früheren Einrichtung war nichts mehr da”, erinnert er sich. Die Auszeichnung mit dem Schlesierkreuz erinnert ihn noch heute an seine Wurzeln.
Auch politisch ist Ertelt in Waldkraiburg engagiert, 18 Jahre ist er für die CSU im Stadtrat. Wie er all das unter einen Hut bekommen hat? „Ich habe eine Frau, die das mitgetragen hat”, sagt er und betont: „Das waren alles Freizeitbeschäftigungen, mein Hauptberuf als Lehrer war mir immer am wichtigsten.” Als er 1998 in den Ruhestand geht, muss er schwer schlucken.
Musizieren und lesen erlauben seine Augen nicht mehr
Heute ist er meist zu Hause, seine Frau tut sich schwer mit dem Gehen. „Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mir überwiegend mit Fernsehen die Zeit vertreibe”, sagt er. Bayerische, politische und kirchliche Sendungen schaut er gern, freut sich besonders, wenn bayerische Volksmusik gespielt wird. Er selbst musiziert nur noch selten, seine Augen machen ihm zu schaffen. „Noten kann ich schon länger nicht mehr lesen”, sagt er. Ähnlich ist es mit der Zeitung, darum liest ihm Katharina Ertelt regelmäßig vor.
Vor Kurzem ist er 90 Jahre alt geworden und der große Tisch in seinem Wohnzimmer war mal wieder voll besetzt. Lehrkräfte und ehemalige Schülerinnen und Schüler – zum Teil selbst schon in den 70ern – besuchten ihn genauso wie Vertreter der Orchestergemeinschaft sowie der Bürger- und der Altbürgermeister.
„In jüngeren Jahren habe ich mir nie vorstellen können, dass ich mal so alt werde”, sagt Ertelt. Seine fünf Kinder, sieben Enkel und fünf Urenkel dachten zu diesem Ehrentag selbstverständlich an ihn. Eine Enkelin habe ein Faible für Indien und erkundet gerade das Land. „Als ich an meinem 90. Geburtstag einen Anruf aus Indien bekommen habe, da war ich wirklich überrascht”, erzählt er.



