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Interview mit Beraterinnen aus Waldkraiburg

Unsichtbare Ketten? – Was Frauen daran hindert, Gewalt-Beziehungen zu verlassen

Fiona Bachmann (links) leitet die Beratungsstelle in Waldkraiburg für Frauen, Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben. Gemeinsam mit Sozialpädagogin Verena Temme berät sie in der emotionalen und oft auch finanziellen Notlage.
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Fiona Bachmann (links) leitet die Waldkraiburger Beratungsstelle für Frauen, Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben. Gemeinsam mit Sozialpädagogin Verena Temme berät sie in Notlagen.

Fiona Bachmann und Verena Temme beraten in Waldkraiburg Frauen, Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren. Im Interview erklären sie, warum es für Frauen oft schwer ist, sich aus einer gewaltvollen Beziehung zu lösen. Und was sich gesellschaftlich ändern muss.

Waldkraiburg – Jede dritte Frau wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt oder beidem. Auch in Waldkraiburg nimmt die Anzahl der gemeldeten Fälle ständig zu: Im vergangenen Jahr betreute die Beratungsstelle des Vereines „Frauen helfen Frauen” 153 Fälle. Gewalt kann dabei ganz unterschiedlich aussehen und beginnt nicht erst mit Schlägen. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle bieten ein offenes Ohr und unterstützen, wenn nötig, auch bei Anträgen und Behördengängen. Sie wissen, wie schwierig es für viele Frauen ist, sich aus der Situation zu lösen und wünschen sich auch gesellschaftliche Veränderungen.

Wo fängt Gewalt an?

Verena Temme: Wenn Grenzen überschritten werden, wenn nicht darauf gehört wird, dass der andere etwas nicht möchte. Wenn es seelische oder körperliche Schmerzen gibt.

Welche Formen von häuslicher Gewalt gibt es?

Temme: Es gibt körperliche, psychische, digitalisierte und wirtschaftliche Gewalt. Früher hat man unter häuslicher Gewalt nur Partnerschaftsgewalt verstanden, heute bezieht man die ganze Familie ein, denn die Kinder leiden auch darunter. Bei wirtschaftlicher Gewalt haben beispielsweise nur die Partner ein Konto und der Gewalttäter teilt der Frau Geld zu oder stellt Bedingungen auf, um ein Taschengeld zu bekommen, Erpressung und Erniedrigung gehören dazu.

Fiona Bachmann: Meistens ist es eine Kombination verschiedener Formen.

Warum ist es so schwer, über Gewalterfahrungen zu sprechen?

Temme: Viele Frauen wollen nach außen nicht zeigen, dass sie Gewalt erleben und reden sich ein, selbst schuld zu sein. Weil sie dies oder jenes nicht gemacht haben, was der Partner wollte oder die Kinder nicht gehorsam sind. Aber der Partner wird immer wieder Anlass finden, zu schimpfen, zu erniedrigen und zu schlagen. Auch Alkohol- und Drogenabhängigkeit zeigt man sehr ungern nach außen. Das trägt dazu bei, dass Frauen sich jahrelang vormachen, dass die Gewalt an der Sucht liegt und die Beziehung ohne die Sucht besser laufen würde.

Bachmann: Oft sind es auch fehlender Mut, mangelndes Selbstvertrauen und Unsicherheit. Sehr oft kommt es vor, dass Betroffene selbst aus einem gewaltvollen Elternhaus kommen. Kinder aus gewaltvollen Beziehungen werden später selbst Täter, Opfer oder beides. Manchmal behaupten Männer, dass sie zum Jugendamt gehen und die würden den Frauen die Kinder wegnehmen. Da wird viel mit Einschüchterung gearbeitet und das funktioniert auch über ganz lange Zeit.

Was macht es so schwer, von einer solchen Beziehung loszukommen?

Temme: Zum einen besteht eine wirtschaftliche Abhängigkeit, meist vom Ehemann. Viele Ehepaare haben irgendwann Kinder. Dann kümmert sich die Frau um die Kinder und der Mann geht arbeiten – aber so kann sie sich keine berufliche Perspektive aufbauen. Deswegen ist es schwierig für die Frau, sich eigenes Geld zu beschaffen. Sie bekommt Kindergeld und vielleicht Bürgergeld, aber letzten Endes kann sie sich nicht finanzieren. Auch emotional besteht eine Abhängigkeit: Der Partner ist zwar gewalttätig, aber trotzdem gibt es auch schöne Momente mit ihm und der Familie.

Bachmann: Selten haben Gewaltbetroffene 10.000 Euro auf der Seite, von denen sie einen Umzug und die Kaution stemmen könnten. Häufig wissen sie auch nicht, welche rechtlichen Möglichkeiten sie haben. Häufig kommt es zu einer Gewaltspirale. Der Partner zeigt Reue, dann folgt der Blumenstrauß und Schmuck, er sagt, er hatte Stress in der Arbeit. Aber unsere Erfahrung zeigt, dass er wieder gewalttätig wird und sich die Abstände mit der Zeit verkürzen.

Viele fragen sich auch: Kann ich meinen Kindern den Vater wegnehmen? Der Wunschgedanke ist oft, dass sie mit Vater und Mutter gemeinsam aufwachsen.

Verena Temme, Sozialpädagogin in der Fachberatungsstelle

Temme: Viele fragen sich auch: Kann ich meinen Kindern den Vater wegnehmen? Der Wunschgedanke ist oft, dass sie mit Vater und Mutter gemeinsam aufwachsen. Deswegen trennen sich Frauen schwierig aus einem solchen Verhältnis oder gehen sogar wieder zurück. Es gibt aber auch rationale Gründe: Frauen, die sich aus Gewaltpartnerschaften trennen, haben meist keinen Laptop oder PC und Drucker. Allein der Aufwand für Anträge und zusätzliche Belege wie Kontoauszüge ist schon ziemlich groß. Ein Wahnsinns-Akt also für die Frau, die unabhängig war vom Sozialsystem. Es bleibt die Angst, kann ich überhaupt die Miete bezahlen, immer diese Geldnot zu haben.

Welche Menschen kommen zu Ihnen?

Bachmann: Gewalt gibt es in jedem Alter. Die Jüngste, die hier selbst vor Ort war, war 16 und dann geht es bis 85 Jahre.

Temme: Jede Schicht, jede Nationalität ist betroffen.

Wie können Sie den Betroffenen helfen?

Bachmann: Wir arbeiten pädagogisch, nicht therapeutisch. Auch finanzielle Mittel können wir nicht bieten. Wir beraten in Präsenz, aber auch telefonisch oder online und auf Wunsch anonym. Am besten vereinbaren Betroffene einen Termin. Wir sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Was wir nicht haben, ist ein Zeugnisverweigerungsrecht – wenn die Polizei auf uns zukommt, müssen wir aussagen. Auch wenn es um Kindeswohlgefährdung geht oder der Mann Mord androht, dürfen wir das nicht für uns behalten.

Was müsste sich gesellschaftlich ändern, um Gewalt gegen Frauen zu reduzieren?

Bachmann: Es braucht Prävention, dass es gar nicht erst geschieht. Dass Kinder auch schon wissen, was ist okay und was nicht. Gerade sexualisierte Gewalt passiert im absoluten sozialen Nahfeld, das ist in der Regel nicht der Mann, der aus dem Gebüsch springt.

Temme: Soziale und wirtschaftliche Sicherheit muss gewährleistet sein. Wenn Frauen rauswollen, bekommen sie ganz schlecht eine Wohnung. Kein Vermieter möchte eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern. Das Antragswesen dauert zu lang. Natürlich unterstützen wir auch, aber bis der Gewährungslauf durch ist, ist die Wohnung längst wieder weg. Die Frauen sind in einer finanziellen Notlage.

Bachmann: Die Bürokratie ist eine ganz große Hürde. Ein Abbau wird zwar auch politisch gefordert, ist aber bei den Themen, mit denen wir zu tun haben, noch nicht angekommen.

Temme: Das soziale Ansehen, wenn eine Frau sich trennt, das schief anschauen, verhöhnen und mit dem Finger zeigen, führt dazu, dass viele Frauen sich nicht trennen. Dass Kinder schnellstmöglich einen Kindergartenplatz oder Platz in der Ganztagsklasse bekommen, damit die Frau arbeiten kann und nicht alles vom Sozialsystem abhängt, diese Hürden müssten viel niedriger sein.

Wie kann jede und jeder sich selbst schützen?

Temme: Rechtzeitig darauf aufmerksam machen, wenn etwas passiert. Leider ertragen es viele und die Dunkelziffer ist sehr hoch. Jeder sollte hinschauen, hinhören und notfalls auch die Polizei anrufen.

Frauen sowie Kinder und Jugendliche jeden Geschlechts können sich, wenn sie von Gewalt betroffen sind oder diese mitbekommen, an die Fachberatungsstelle wenden. Die Mitarbeiterinnen sind telefonisch unter 08638/83797 oder via E-Mail an info@fhf-lkr-muehldorf.de erreichbar.

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