Mühldorfer mit sudentendeutschen Wurzeln
Als Kind vertrieben: Josef Hora begibt sich auf Spurensuche in Tschechien - und wird fündig
Mit ihm als drei Monate alten Säugling wurde Josef Horas Mutter 1945 gezwungen, ihre böhmische Heimat mit nur wenigen Habseligkeiten zu verlassen. Viele Jahrzehnte später besucht der Mühldorfer das tschechische Rothau, um seine Wurzeln zu erforschen. Was er vorfand, hat ihn innerlich bewegt.
Mühldorf - „Wissen Sie, dass der Nachname ‚Hora‘ das tschechische Wort für Berg ist?“ Josef Hora blickt versonnen auf die vielen alten schwarz-weißen Wandbilder in der „Familiengalerie“ seines Mühldorfer Domizils. Sein Urgroßvater war ein Tscheche. Die anderen Vorfahren hatten deutsche Nationalität; sie gehörten zu denjenigen Deutschböhmen, die das Schicksal von Millionen Sudentendeutscher teilten, die in den Nachkriegswirren aus der Tschechoslowakei ausreisen beziehungsweise fliehen mussten.
Eine Holzkiste mit ein paar Habseligkeiten, ein paar Gläser, etwas Besteck, Kurzwaren wie Knöpfe etc., dazu wenige Möbelstücke, ein Bett und Stühle durfte Josef Horas Mutter Maria bei ihrer erzwungener Ausreise aus Eger, wo Josef noch 1945 zur Welt gekommen war, auf dem Weg nach Westen mitnehmen. Dort wartete bereits ihr Ehemann Josef. Wie viel eines ganzen Lebens passt in eine einzige Kiste?
Vertreibung war nie ein Thema
Seine Herkunft und die damit verknüpfte traurige Geschichte waren für Josef Hora und seine Frau Erika eigentlich nie ein Thema. Schon gar nicht, als der Eiserne Vorhang noch stand. Hora und seine Eltern führten ab 1948 ein beschauliches Leben in Mühldorf, seitdem der Vater dort eine Stelle als Großküchenvertreter gefunden hatte. Josef studierte Maschinenbauingenieurwesen, arbeitete über 30 Jahre bei der Wacker Chemie. Seine Frau Erika hat er beim Tanzen kennen und lieben gelernt, 1972 heiratete das Paar. Ein erfülltes Leben, kein Platz für das Aufrollen der Familiengeschichte. Bis dato.
Einmal sei sein Vater, der aus Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem) stammte, in den Osten gereist, um seine Schwestern zu besuchen, erzählt Josef Hora. „Das muss 1967 oder 1968 gewesen sein. Während der Dubček-Ära.“ Furchtbar enttäuscht sei er gewesen, weil „alles fürchterlich heruntergekommen“ gewesen sei, erinnert sich Hora. Danach war erst einmal Schluss mit den Besuchen im Osten.
„Dann habe ich mich gefragt, wo komme ich eigentlich her?“
Seitdem sie heuer Urlaub im sächsischen Bad Elster gemacht haben, kreisen die Gedanken - auch an die alte Holzkiste, die noch auf dem Speicher steht und worauf der Name „Rothau“ steht. Nur wenige Kilometer von Bad Elster entfernt, südöstlich von Klingenthal, aber jenseits der Grenze in Tschechien im böhmischen Westerzgebirge, liegt dieses Rothau (Rotava). Von dort kamen seine Großeltern mütterlicherseits her, dort ist seine Mutter groß geworden.
„Dann habe ich mich gefragt, wo komme ich eigentlich her?“, erzählt Josef Hora. Spontan haben die Eheleute beschlossen, aufs Geratewohl nach Rothau zu fahren und auf Spurensuche zu gehen. Gelandet waren die Horas zunächst am ehemaligen Eisenwerk, wo auch heute noch Maschinenteile hergestellt werden. Etwas „verloren“ stiegen sie aus dem Auto aus, um sich umzusehen; plötzlich kam eine junge Frau auf sie zu und sprach sie zu ihrer großen Überraschung auf Deutsch an: „Haben Sie sich verfahren, kann ich helfen?“
Große Hilfsbereitschaft - vom Bürgermeister bist zum Heimatpfleger
„Es war eine spontane Verständigung“, sagt Erika Hora. Denn „Ditta“ - so hat sich die fremde Frau vorgestellt - begleitete nun zwei Tage lang die Mühldorfer bei ihren Nachforschungen. Anschluss zu finden, war in Rohtau also schnell möglich und unkompliziert. Es folgte ein Termin beim Rothauer Bürgermeister Michal Červenka, der die Horas mit allen Informationen über die Gemeinde versorgte; danach ein Ausflug in das Archiv im nahe gelegenen Heinrichsgrün (Jindřichovice). „Auch hier waren die Leute sehr hilfsbereit und suchten uns Dokumente heraus“, so Josef Hora. Unter den Fundstücken war auch der Ausreiseantrag, den seine Großeltern Schmucker gestellt hatten, um gemeinsam mit der Tochter nach Bayern zu gehen.
Für die in Böhmen verbliebenen Deutschen war es 1945 kein gutes Pflaster. Josef Horas Vater war im Krieg und „in der Partei“ gewesen; bei Kriegsende befand er sich im Westen. Auf der anderen Seite, in Eger, wo sich Horas Mutter noch aufgehalten hatte, habe sie miterleben müssen, wie man Studenten auf dem Stadtplatz gehängt hat. „Für meine Schwiegermutter war es eine schreckliche Zeit. Beide Seiten haben Schuld auf sich geladen“, sagt Erika Hora mit einem Kopfschütteln.
Ressentiments gehören der Vergangenheit an
Umso erstaunlicher war die große Herzlichkeit der Rothauer, die die Horas auf ihrer Reise in die Vergangenheit getroffen haben. Rachegefühle gehören der Vergangenheit an: „Wir sind froh, dass das Verhältnis heute so schön ist“, bekräftigt Erika Hora. Auch wenn man im heutigen Rotava nur noch wenig von der deutschen Vergangenheit spürt. Abgesehen von Ditta, die gegenüber den Horas erwähnt habe, ihr Deutsch am Goethe-Institut in München gelernt zu haben, spricht so gut wie keiner mehr Deutsch.
Mittlerweile gebe es das Wahlfach Deutsch neben Englisch an tschechischen Schulen. Josef Hora verweist auf eine Broschüre des Kulturverbands für Angehörige der deutschen Minderheit in Tschechien, die vor ihm auf dem Tisch liegt und die ihm der Graslitzer „Heimatpfleger“ Dr. Petr Rojík geschenkt hat. Dieser war ebenfalls den Horas mit Rat und Tat bei den Recherchen behilflich.
Häuser wurden geschliffen, Grabsteine abgetragen
„Heimatgefühle“ habe Josef Hora jedoch keine. In Rothau hat sich nach dem Krieg eine neue, heute rund 3000-köpfige Siedlung entwickelt. Bauliche Überreste, die ihn an seine Familie erinnern könnten, gebe es keine mehr. Auch vom Friedhof, wo eigentlich Horas Vorfahren liegen müssten, ist nichts mehr zu sehen, ein braches Feld. „Wer sollte die Gräber heute auch pflegen?“, konstatiert Erika Hora.
Nur die alte Kirche steht noch
Ein paar Meter vom früheren Eisenwerk haben die Horas jedoch einen Spielplatz gefunden, wo die Replik der früheren Schulkuppel verbaut wurde. „Hinter der Schule lag das Elternhaus meiner Mutter. Es ist nichts mehr da“, so Josef Hora. Eine Ausnahme ist die alte Kirche, wo seine Mutter getraut worden war. „Dr. Rojik besorgte sich den Schlüssel und hat uns sogar ein paar Marienlieder auf der Kirchenorgel vorgespielt“, ergänzt Erika Hora. Das war nicht das einzige, was der Heimatpfleger getan hat.
„Er hat uns einige alte Fotos gezeigt, unter anderem ein Bild mit einer Holzkiste und dem Namen Lydia Schmucker darauf. Das war die Nichte meiner Mutter, die später in Waldkraiburg gelebt hat!“ Was für eine Überraschung! Das Foto habe Rojík bei einem Sudetendeutschen-Treffen erhalten. Spätestens dann stand für die Horas außer Frage, dass sie das Schicksal nach Rothau geführt haben muss.





