80 Jahre nach Ende der NS-Zeit
Schwieriges Mühldorfer Erbe: Bürgermeister unter den Nazis, erneut Bürgermeister nach dem Krieg
80 Jahre nach Ende der Nazi-Zeit beschäftigen sich noch immer Projekte mit dem Erbe und den Biographien lokaler Persönlichkeiten. Eine davon ist Mühldorfs ehemaliger Bürgermeister Hans Gollwitzer. So urteilt Stadtarchivar Edwin Hamberger über ihn.
Mühldorf – Am 2. Mai 1945 setzten US-amerikanische Soldaten der menschenverachtenden NS-Zeit in Mühldorf ein Ende. Aber auch jetzt, 80 Jahre später, gibt es immer noch offene Fragen: Wer war Täter, wer war Mitläufer? Wie gingen sie und ihre Mitmenschen nach Kriegsende mit ihrer Verstrickung um?
Diesen Fragen geht unter anderem das Geschichtsprojekt „Erinnern 45 - Kriegsende im südlichen Landkreis Mühldorf“ nach, das zwischen März und Dezember die letzten Kriegstage vor 80 Jahren und die Herausforderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Fokus nimmt. Dazu gibt es in Aschau, Gars, Jettenbach und Unterreit zahlreiche Vorträge, Zeitzeugengespräche, Führungen, musikalische Veranstaltungen und vieles mehr. Getragen wird das Projekt von einem Arbeitskreis, in dem Ehrenamtliche des Heimat- und Kulturkreis (HKK) Jettenbach, des Archivs und der Pfarrei Aschau, des Dorfforums Mittergars, des Vereins „Für das Erinnern“ sowie Geschichtskoordinator Daniel Baumgartner vertreten sind.
Mühldorfer Stadtarchivar beleuchtet zweimaligen Bürgermeister Hans Gollwitzer
Auch die von Wolfgang Proske herausgegebene Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ aus dem Kugelberg Verlag blickt auf Männer und Frauen, die lokal Teil des nationalsozialistischen Systems waren. Der 17. Band dieser Reihe widmet sich NS-Belasteten aus Oberbayern (Nord) und beleuchtet unter anderem Dr. Heinz Doering (1894 - 1971), Hans Gollwitzer (1896 - 1979) und Georg Schallmair (1894 - 1951), die in der NS-Zeit Landrat und Bürgermeister von Mühldorf beziehungsweise Aufseher im Außenlager Mühldorf des KZ Dachau waren. Die Autoren Markus Roth, Mühldorfs Stadtarchivar Edwin Hamberger und Wolf-Ulrich Strittmatter betrachten nicht nur deren Biografie und ihr Wirken in der NS-Zeit, sondern auch die Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland und die Bewertung ihrer Schuld.
Proske Wolfgang (Hrsg.): Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus Oberbayern (Nord) Band 17; Kugelberg Verlag, Gerstetten, 2024 (ISBN 978-3-945893-25-8); 419 Seiten.
Dabei ist das Urteil nicht immer so eindeutig, wie es zunächst erscheinen mag. Das zeigen die Beispiele Schallermair und Gollwitzer.
Schallermair: Mitläufer, aber doch hingerichtet
Schallermair stammte aus einfachen Verhältnissen, war Betonbauer und Mitglied der Wehrmacht, ehe er am 26. Mai 1944 zur Waffen-SS versetzt wurde; „ohne sein Zutun“, wie Strittmatter ihm zugesteht. Von August 1944 bis zum Mai 1945 war Schallmeir dann Rapportführer und Aufseher im KZ-Außenlager Mühldorf, soll dort „Prototyp des brutalen Schlägers“ gewesen sein. 1947 wurde er zum Tode verurteilt und 1951 hingerichtet.
Allerdings ist nicht geklärt, ob die Vorwürfe tatsächlich stimmen, ob die Todesstrafe angemessen war. Für Strittmatter war Schallermair angesichts der Quellen kein „pathologischer Exzesstäter“, sondern „eher bescheidener Mittäter“. Sein Fazit: „Dem Historiker bleiben allerdings Zweifel an Rechtmäßigkeit, Glaubwürdigkeit, Fairness und Verhältnismäßigkeit von Verfahren, Zeugenaussagen, Urteil und dessen Vollstreckung.“
„Er war nicht Trittbrettfahrer und Helfer, er war Täter“
Bei Hans Gollwitzer zeichnet Stadtarchivar Hamberger in seinem Beitrag ein differenziertes Bild. Gollwitzer war zunächst evangelischer Pfarrer und wurde am 13. Oktober 1934 erstmals Ehrenbürger von Mühldorf. Gollwitzer war Gründungsmitglied der Mühldorfer NSDAP-Ortsgruppe und von 1937 bis 1945 Bürgermeister der Kreisstadt. „Vielfältige Belege zeigen es, dass Hans Gollwitzer während der NS-Zeit als Bürgermeister ein aktiver und überzeugter Nationalsozialist und ein bekennender Antisemit war“ schreibt Hamberger. „Er war damit nicht Trittbrettfahrer und Helfer, er war Täter.“
Nach dem Krieg wurde Gollwitzer zunächst als „Belasteter“ eingestuft, der zweithöchsten von fünf Stufen. Eineinhalb Jahre später wurde das Urteil der Spruchkammer revidiert und Gollwitzer zum „Mitläufer“ auf die vierthöchste Stufe herabgestuft.
Umstrittene Würdigung für das Wirken nach dem Krieg
Sieben Jahre nach Kriegsende wählten ihn die Mühldorfer 1952 erneut zum Bürgermeister. Bis zum 30. April 1960 übte er das Amt ehrenamtlich, bis zum 30. April 1966 hauptamtlich aus. In seine Amtszeit fielen der Neubau des Gymnasiums, der Jugendherberge und der Berufsschule; ebenso der Neubau der Innbrücke, des Freibads, der Hauptschule, des Klärwerks und der Umgehungsstraße.
1971 erhielt Gollwitzer auf Antrag der UWG-Fraktion zum zweiten Mal die Ehrenbürgerwürde; 1983 wurde in Mühldorfs Süden die Hans-Gollwitzer-Straße nach ihm benannt. Beides sind für Hamberger „Beispiele für die Verdrängung der NS-Zeit und die fehlende Aufarbeitung mit diesem Thema in der Erinnerungskultur der Stadt Mühldorf“.
2017 hielt der Stadtrat „nach einer intensiven und emotional geführten Debatte“, so Hamberger, an dem Straßennamen fest und distanzierte sich auch nicht von der Ehrenbürgerwürde von 1971.
Widersprüche und Leistungen kritisch einordnen
Der Straßenname sei schwierig, schreibt Hamberger. Allerdings reflektiere er auch „Gollwitzer großes Ansehen in der Bevölkerung als eindrucksvolle Persönlichkeit und würdigt seine kommunalpolitischen Leistungen nach 1945“. Abschließend meint Hamberger: „Gollwitzer sollte für sein Handeln in der Zeit des Nationalsozialismus, für seine Widersprüche, aber auch für seine Leistungen nach 1945 im Stadtbild kritisch eingeordnet und erhalten bleiben!“
Korbinian Engelmann, Leiter des Geschichtszentrums, stellt der Erinnerungskultur im Landkreis ein gutes Zeugnis aus: „Im Landkreis Mühldorf ist die Geschichte des Nationalsozialismus und vor allem die des ehemaligen KZ-Außenlagerkomplexes größtenteils vorbildlich aufgearbeitet und lebendig im Geschichtsbewusstsein verankert. Die Initiativen des Vereins für das Erinnern, die Gedenkorte im Mühldorfer Hart, die erfolgreichen Social-Media Projekte von Susanne Siegert und unsere Ausstellung im Haberkasten zeigen, auf welch vielfältige Art und Weise das Thema verhandelt wird.“