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Zahl der Verfahren drastisch gestiegen

Schleuser vor dem Amtsrichter: Von kleinen Fischen und dem Versagen der großen Politik

Die Schleuserfahrt, die am 13. Oktober 2023 bei Ampfing tödlich endete, ist die traurige Spitze eines Eisbergs. Auch vor den Gerichten werden die Verfahren gegen die Schleuser mehr und mehr.
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Die Schleuserfahrt, die am 13. Oktober 2023 bei Ampfing tödlich endete, ist die traurige Spitze eines Eisbergs. Auch vor den Gerichten werden die Verfahren gegen die Schleuser mehr und mehr.

Verfahren gegen Schleuser haben drastisch zugenommen: Das gilt auch für das Amtsgericht Mühldorf. Aber wie bekommt man diese Schleuser angemessen bestraft? Zwei Verfahren zeigen die Probleme auf.

Mühldorf – Wöchentlich stehen inzwischen Verfahren gegen Schleuser auf der Tagesordnung des Amtsgerichts Mühldorf. Mal sind es kleine Fische, die vor dem Amtsrichter stehen; mal sind es etwas größere oder vermeintlich größere, die vor dem Schöffengericht landen. Nur eines ist ihnen gemeinsam: Es werden immer mehr.

Wie ein Häufchen Elend sitzt kurz vor Weihnachten Kassim H. (22) im Sitzungssaal 116 zwischen seinem Verteidiger Andreas Penzhofer und einer Dolmetscherin vor Amtsrichter Dr. Christoph Warga. Der Moldawier muss sich wegen des Einschleusens von drei türkischen und zwei syrischen Flüchtlingen sowie eines 4-jährigen und eines elf Monate alten Kindes unter lebensgefährlichen Bedingungen verantworten: Die Kinder fuhren ungesichert in dem Auto mit, das elf Monate alte Kind bei der Mutter auf dem Beifahrersitz, „weil es hinten immer weinte“, wie Kassim im Laufe des Prozesses erklärt. Der versprochene Lohn: 1.000 Euro. Staatsanwältin Lena Scheibl ist überrascht, normal liege der Tarif bei „1.000 Euro pro Person“.

Gut ein Drittel mehr Verfahren allein in Mühldorf

„Die Verfahren haben erheblich zugenommen”, bestätigt Gerichtssprecher Stephen Kroner. Er schätzt, dass es am Mühldorfer Amtsgericht im vergangenen Jahr gut ein Drittel mehr Verfahren gegen Schleuser gab. Im gleichen Maße seien auch die Vorführungen zur Untersuchungshaft angestiegen. 

Wie zur Bestätigung geht es wenige Tage nach Heilig Drei Könige im Sitzungssaal 116 erneut um Einschleusen unter lebensgefährlichen Bedingungen. Diesmal sitzt der 39-jährige Syrer Mohamed B. vor dem Schöffengericht unter Leitung von Richter Florian Greifenstein.

Acht Syrer ohne Sitze in einem Mercedes Vito eingepfercht

Staatsanwältin Marion Schuller wirft ihm vor, am 27. Juni in einem Mercedes Vito acht Syrer nach Deutschland eingeschleust zu haben: eingepfercht auf der Ladefläche, ohne Sitze, nicht angeschnallt. Der versprochene Lohn auch hier: 1.000 Euro. 

Als die Polizei Mohamed auf der A94 kurz vor Neuötting kontrollieren wollte, soll er sein Fahrzeug beschleunigt und teilweise abrupt nach links und rechts gezogen haben. Kurz vor Mühldorf-West wurde er gestellt und soll sich der Festnahme widersetzt haben.  

Staatsanwaltschaft Traunstein hat konkrete Zahlen

Das sind nur zwei von mehreren Verfahren innerhalb weniger Wochen. Für das Amtsgericht Mühldorf hat Gerichtssprecher Kroner keine genauen Zahlen, die hat aber die Staatsanwaltschaft Traunstein für die Landkreise Mühldorf, Altötting, Traunstein, Berchtesgaden und Rosenheim. So haben sich die Verfahren vor dem Amtsrichter  (Straferwartung bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe) 2023 binnen eines Jahres verdreifacht (122 statt 42). Vor dem Schöffengericht beim Amtsgericht (Straferwartung von zwei bis vier Jahren Freiheitsstrafe) stiegen sie um 46 Prozent (51 statt 35) und vor der Großen Strafkammer beim Landgericht (Straferwartung mehr als vier Jahren Freiheitsstrafe) um den Faktor 19: von einem Verfahren auf 19.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Traunstein haben in ihrem Bereich die Gerichtsverfahren wegen Einschleusung 2023 zugenommen.

Der Moldawier wie auch der Syrer sind kleine Lichter. Sie sind das „kleinste Rädchen“, wie Mohameds Verteidiger Raphael Botor erklärt. Ohne Arbeit halten sie sich in Tschechien oder Wien mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mohamed hatte seine Familie nach Wien nachgeholt – und dafür 5.000 Euro Schulden gemacht. Da ist die Aussicht auf 1.000 Euro für eine Autofahrt nach Deutschland verlockend – auch wenn sie wissen, dass es verboten ist.

Reue und Tränen vor Gericht

Beide sind bislang unbeschriebene Blätter, haben keine Vorstrafen. Bei beiden war es die erste Fahrt, nichts deutet auf das Gegenteil hin. Die Untersuchungshaft hat sie mitgenommen. „Es tut mir leid. Ich bereue es zutiefst.“ Sagen beide immer wieder. Sie wollen einfach nur noch zu ihrer Familie. Mohamed weint während der Plädoyers. 

Sie berichten von Hintermännern, die sie persönlich oder über TikTok angeworben hätten. Sie bekommen über das Handy nur Koordinaten und ein Auto. Wenn es einmal mehr Spuren zu den Hintermännern gibt, dann sprechen sie. So wie Mohammed. Sein Pech: Die Ermittlungen verlaufen im Sande, werden – aus unbekannten Gründen – nicht verfolgt. 

„Mittlerweile kommt alles, was geht, in die Autos“

Nicht nur die Zahlen haben deutlich zugenommen, berichtet Polizeioberkommissarin M. vor dem Schöffengericht. Früher seien nur zwei, drei Flüchtlinge in den Autos gesessen. „Mittlerweile kommt alles, was geht, in die Autos. Sie werden teilweise eingepresst und die Fenster verklebt, damit man von außen nichts sieht.“ 

Auch das Verhalten der Schleuser habe sich verändert, so Kommissarin M.: Wenn es eine Kontrolle gibt, heiße es jetzt nur noch „Gas geben“ und davonlaufen.

Anklage verpufft in Teilen

Bei dem Syrer Mohamed war es dann doch nicht so schlimm, wie es in der Anklage klang. Die Verfolgungsjagd hatte „maximal Tempo 120“, wie ein Polizist aussagte und Mohamed blieb in seiner Fahrspur. „Er ist dann auch selber stehen geblieben.“ Auch der Widerstand bei der Festnahme war „relativ geringfügig“, wie Richter Greifenstein im Urteil feststellte. 

„Das letzte Glied in der Kette ist nicht der Rücken, auf dem das Versagen der Politik ausgetragen werden darf.“ 

Amtsrichter Dr. Christoph Warga

Es blieb aber die Einschleusung unter lebensgefährlichen Bedingungen. Und so verhängte das Schöffengericht ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung, statt der drei Jahre und vier Monate, die Staatsanwältin Schuller wollte.

Teil einer kriminellen Organisation

Besser erging es Moldawier Kassim H.. Staatsanwältin Lena Scheibl wollte ein Jahr und fünf Monate Freiheitsstrafe und – „zur Verteidigung der Rechtsordnung“ – ohne Bewährung. Es sei zwar ein Fall von vielen und Kassim sei kein Profi, „aber das macht es nicht besser. Er hat sich zum Teil einer großen kriminellen Organisation machen lassen.“ 

Richter Warga verhängte am Ende ein Jahr und vier Monate und setzte sie für zwei Jahre zur Bewährung aus. Das sei zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend: Im Hintergrund gebe es eine Organisation und Kassim H. habe nur für „vergleichbar kleines Geld eine Straftat begangen“. Die rechtstreue Bevölkerung würde bei einer härteren Strafe nur sagen: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ Wargas Fazit: „Das letzte Glied in der Kette ist nicht der Rücken, auf dem das Versagen der Politik ausgetragen werden darf.“ 

So endeten zwei Verfahren von vielen. Kassim H. konnte den Gerichtssaal zwar als freier Mann verlassen, war aber in der Fremde verloren. Mohamed B. konnte dagegen noch einmal seine Mutter in den Arm nehmen, die das Verfahren verfolgt hatte, ehe ihm wieder die Handschellen angelegt wurden. 

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