Monika Schnitzer im Interview
„Eine Krise setzt Kräfte frei“: Warum die Wirtschaftsweise auch optimistisch ins neue Jahr blickt
Seit Oktober ist Monika Schnitzer Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auch die „fünf Wirtschaftsweisen“ genannt. Im Interview macht die Ökonomin trotz aller Krisen Hoffnung für 2023 und erklärt, warum sie das geplante AKW-Aus und die Rente mit 63 nicht für sinnvoll hält.
Das Jahr 2022 hat uns einen Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und Rezessionssorgen beschert. Können Sie uns zum Jahreswechsel Hoffnung machen dass es nächstes Jahr endlich besser wird?
Monika Schnitzer: Das nächste Jahr wird sicher noch mal schwierig, weil die Gasversorgung für den nächsten Winter noch nicht vollständig gesichert ist und wir dann ohne russisches Gas auskommen müssen. Aber eine Krise setzt auch immer Kräfte frei. Das sehen wir derzeit zum Beispiel am neuen LNG-Terminal in Wilhelmshaven. Da haben die Behörden die Genehmigungen in Rekordzeit erteilt. Wenn wir uns das zum Vorbild nehmen, gibt es für 2023 durchaus Anlass für Optimismus.
Immerhin blicken auch die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute nicht mehr ganz so düster auf das kommende Jahr wie noch im Spätsommer. Fällt die Rezession 2023 doch noch aus?
Schnitzer: Die Haushalte in Deutschland sind trotz des Umfelds noch zuversichtlich und gleichen Einbußen in de realen Kaufkraft aus, indem sie weniger sparen oder sogar Rücklagen auflösen. Die Konsumfreude ist a bislang nicht allzu eingetrübt. Weltweit ist das konjunkturelle Umfeld aber weiter herausfordernd. Aktuell kämpfen die USA ähnlich wie Europa mit einer hohen Inflation. China hat lange auf eine rigide Null-Covid Linie gesetzt. Das hat zu massiven Produktionseinschränkungen geführt. Jetzt hat die chinesische Regierung die Corona-Politik deutlich gelockert. Allerdings könnte das zu sehr hohen Krankenständen und auch hohen Todeszahlen führen.
Ist China im kommenden Jahr das größte Risiko für die deutsche Konjunktur?
Schnitzer: Ja. Denn der neue Corona-Kurs der chinesischen Regierung könnte auch die weltweiten Lieferketten belasten. Zudem wächst das Risiko, dass der chinesische Konsum unter Druck gerät. Das könnte auch uns treffen. Schließlich machen etwa die deutschen Autobauer teilweise 40 Prozent ihres Umsatzes in China. Und dann ist da auch noch ein geopolitisches Fragezeichen: Falls Peking seine Drohung wahr macht und gegen Taiwan vorgeht, werden wir uns genötigt sehen, darauf zu reagieren – mit womöglich schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen.
In Deutschland sehen viele Unternehmen und Verbraucher die Energiepolitik derzeit sehr kritisch. Ist das geplante AKW-Aus angesichts des aktuellen Umfelds zu verantworten?
Schnitzer: Ökonomisch macht das geplante AKW-Aus jedenfalls wenig Sinn. Atomkraftwerke helfen, weil sie die Grundkapazitäten erhöhen und damit weniger Gas benötigt wird, um die Spitzenlast auszugleichen. Wir haben auch im Sachverständigenrat dafür plädiert, eine mögliche Laufzeitverlängerung sehr sorgfältig zu prüfen, solange es akute Knappheiten bei der Energieversorgung gibt. Das kann noch zwei oder drei Jahre der Fall sein. Aber am Ende ist der AKW-Betrieb eine politische Entscheidung. Umgekehrt ist allerdings auch klar: Atomkraft ist kein Allheilmittel, schon alleine wegen der vergleichsweise geringen Strommenge, die mit der Laufzeitverlängerung zusätzlich zur Verfügung steht. Außerdem hilft Atomkraft auch jenen Unternehmen nicht, die Gas als Rohstoff für ihre Produktion brauchen.
In der jüngsten Kältewelle leerten sich die Gasspeicher rapide. Drohen uns im neuen Jahr doch noch Zwangsabschaltungen?
Schnitzer: Ich bin momentan sehr zuversichtlich, dass wir ohne Gasmangellage und Rationierung oder gar Zwangsabschaltungen über den Winter kommen. Natürlich hat die Kältewelle den Gasverbrauch zuletzt weiter erhöht. Und dass wir es uns jetzt über die Feiertage zu Hause gemütlich machen wollen, ist sehr verständlich. Aber danach ist wieder Energiesparen angesagt. Neben den Appellen werden dabei auch Preise helfen. Viele Haushalte haben bislang noch keine Abrechnung mit den neuen Preisen vorliegen. Nach dem Jahreswechsel wird das anders sein. Das wird einen zusätzlichen Sparanreiz bringen.
In den USA tritt zum Jahreswechsel der milliardenschwere Inflation Reduction Act (IRA) zum Klimaschutz in Kraft. Viele Unternehmen haben wegen der Förderung bereits angekündigt, ihre Investitionen in Deutschland oder Europa zugunsten der USA zu überdenken. Wie gefährlich ist das für Europa?
Schnitzer: Wir reden hier über ein Paket mit einem Volumen von rund 370 Milliarden Dollar und einer Laufzeit von zehn Jahren. Das ist im Vergleich zur Größe der US-Wirtschaft nicht allzu groß. Auch die EU hat bereits Pakete in ähnlicher Größenordnung aufgelegt.
EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen hat wegen des IRA einen Souveränitätsfonds ins Spiel gebracht, inklusive der Aufnahme von Gemeinschaftsschulden.
Schnitzer: Wir haben uns im jüngsten Jahresgutachten grundsätzlich für europäisch finanzierte Projekte ausgesprochen, sofern sie im europäischen Interesse sind und einen europäischen Mehrwert stiften. Beim Souveränitätsfonds könnte Europa seine Autonomie stärken – und zwar genau in jenen Bereichen, in denen wir von China oder den USA abhängig sind. Die Frage ist, wie man das finanziert: Über Schulden, Beiträge der jeweiligen Mitgliedsländer oder Einnahmen, die die EU selbst erhält. Diese Alternativen muss man sehr genau prüfen. Denn durch die zwei Krisen sind wir sehr ausgabenfreudig geworden.
Also ja zu Hilfen und nein zur Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden?
Schnitzer: Eine mögliche Schuldenfinanzierung für Zukunftsinvestitionen kann man rechtfertigen, sollte aber trotzdem gut überlegt sein, gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Zinsen zuletzt deutlich gestiegen sind und neue Schulden längst nicht mehr so günstig zu finanzieren sind wie noch vor zwei Jahren.
Die 2014 eingeführte Rente mit 63 ist zum Absatzschlager geworden. Doch der Vorruhestand reißt ein großes Loch in die Rentenkasse. Wie lange können wir uns das noch leisten?
Schnitzer: Wir können uns das gesamte Rentensystem nicht mehr lange leisten. Schon jetzt fließen pro Jahr rund 110 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkasse. Das ist ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts. Wenn wir so weitermachen, geht in 25 Jahren jeder zweite Euro aus dem Bundeshaushalt als Zuschuss an die Rentenkasse.
Und die Rente mit 63?
Schnitzer: Ich halte die abschlagsfreie Rente mit 63 für falsch – und zwar nicht nur wegen der Kosten. Wir können uns die Rente mit 63 auch deshalb nicht leisten, weil uns die Leute fehlen. Selbst für einfache Tätigkeiten finden wir in Deutschland kaum noch Personal. Selbstverständlich ist es jedem unbenommen, in Rente zu gehen – aber eben nicht ohne Abschläge.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, man müsse den Anteil derjenigen steigern, „die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können“. Wie kann das gelingen?
Schnitzer: Die einfachste Variante wäre: Keine Rente mit 63 mehr ohne Abschläge. Aber um das Rentensystem sicherer zu machen, müssen wir wohl an mehreren Stellschrauben drehen. Nehmen wir das Renteneintrittsalter. Der Vorschlag des Sachverständigenrats ist da sehr klar: Für jedes Jahr mehr Lebenserwartung sollte das Renteneintrittsalter um acht Monate steigen.
Also die Rente an die Lebenserwartung koppeln?
Schnitzer: Ja. Aktuell erreichen wir das angepeilte Renteneintrittsalter von 67 im Jahr 2031. Die Lebenserwartung erhöht sich alle zehn Jahre um ein Jahr. Damit ergäbe sich für 2046 ein Renteneintrittsalter von 68, für 2061 ein Renteneintrittsalter von 69 Jahren. Die zweite Stellschraube wäre eine Erhöhung der Rentenbeiträge, und zwar jetzt schon. Dann würden auch die Babyboomer noch einen Beitrag leisten, die in wenigen Jahren in Rente gehen, aber zu wenig Kinder bekommen haben, um diese Renten zu finanzieren.
Welche Stellschraube kann man noch drehen?
Schnitzer: Man könnte außerdem den Renten-Anstieg abflachen. Dann würden Ruheständler zwar mit dem gleichen Niveau einsteigen wie jetzt, die Anstiege würden aber künftig hinter dem allgemeinen Lohnanstieg zurückbleiben. Das würde typischerweise Reichere eher treffen, da sie statistisch eine höhere Lebenserwartung haben, aber sie haben in der Regel ohnehin gut vorgesorgt. Die vierte Möglichkeit wäre, innerhalb einer Rentengeneration umzuverteilen. Am Ende muss man an allen Stellschrauben drehen.
In vielen Berufen mit harter körperlicher Arbeit sind längere Lebensarbeitszeiten kaum noch zumutbar.
Schnitzer: Bei körperlich sehr anstrengenden Berufen sind viele Menschen auch mit 50 nicht mehr in der Lage arbeiten, denken Sie etwa an Pfleger im Krankenhaus. Wir müssen stattdessen sehr viel stärker darüber nachdenken, wie man Beschäftigte umschulen kann und ihnen Perspektiven in Bereichen eröffnet, die für sie noch gut auszuüben sind. Nehmen Sie zum Beispiel einen Schreiner: Viele haben am Anfang ihres Berufslebens noch Dachstühle gebaut. Im höheren Alter wechseln sie dann in die Ausbildung oder planen Neu-Aufträge. Diese Modelle müssen wir forcieren.
Müssen wir künftig auch Beamte oder Freiberufler in die Rentenkassen einzahlen lassen?
Schnitzer: Das ist in der Tat überlegenswert. Aber man sollte nicht erwarten, dass dadurch das Rentensystem saniert wird, denn wer einzahlt, erwirbt auch Ansprüche.
Zum 1. Januar steigt die Erbschaftsteuer. Nun wächst die Sorge, dass Erben das Haus ihrer Eltern verkaufen müssen, weil sie die Steuern nicht stemmen können. Braucht es eine Anpassung?
Schnitzer: Das Problem sind doch hier nicht die Erbschaftsteuern, sondern die hohen Immobilienpreise. Wer kein Haus erbt, muss in Ballungsräumen wie München, Frankfurt oder Hamburg sehr, sehr gut verdienen, um überhaupt die Chance auf ein Eigenheim zu haben. Wer ein Haus erbt, hat – auch wenn er Erbschaftsteuer zahlen muss – sehr viel bessere Startchancen.
Unternehmer warnen: Viele Betriebe könnten künftig womöglich kaum noch vererbt werden, weil die fälligen Steuerbeträge so hoch werden könnten, dass die nachfolgende Generation zum Verkauf gezwungen sein könnte.
Schnitzer: Bei Unternehmen verstehe ich die Aufregung überhaupt nicht. Aktuell ist die Steuerlast bei der Vererbung eines Unternehmens vergleichsweise gering. Dagegen wird bei der Vererbung von Finanzanlagen, einer Oldtimer-Sammlung oder Kunst ordentlich Erbschaftsteuer fällig. Diese Ungleichbehandlung ist nicht wirklich plausibel.
Aber bei der Vererbung eines Betriebs ist der Großteil des Vermögens im Unternehmen gebunden und kann oft nicht einfach entnommen werden.
Schnitzer: Man könnte hier sehr gut mit Stundungen arbeiten, bei denen die anfallende Erbschaftsteuer über mehrere Jahre aufgeteilt und abgezahlt wird. Dafür gibt es konkrete Vorschläge. Das wäre vergleichsweise einfach umsetzbar und gerechter als die bestehende Regelung. Ich denke, eine umfassende Neuregelung der Erbschaftsteuer ist angezeigt.