Neu-Stephanskirchnerin Christine Annies erzählt
„Hielt ihn anfangs für einen Spion“: Otfried Preußlers Sekretärin über den Alltag mit dem Autor
Otfried Preußler wäre heuer 100 Jahre alt geworden. Es gibt nicht viele Menschen, die den Kinderbuchautoren so gut gekannt haben wie Christine Annies. Sie war 33 Jahre seine Sekretärin. Jeden Satz, den er in sein Diktiergerät sprach, hat sie für ihn abgetippt. Nie vergessen wird sie den letzten Satz, den er zu ihr sagte.
Es ist 1980. Christine Annies und ihr Mann sind vor Kurzem in ihr neues Haus in Stephanskirchen im Kreis Rosenheim gezogen. Vom Wintergarten aus haben sie einen unbezahlbaren Blick auf die schönsten Seiten des Chiemgaus. Nur eines passt nicht ganz in die Aussicht: Dieser ältere Herr, der fast täglich die Felder entlang spaziert und dabei in sein Diktiergerät spricht. Manchmal hat Annies das Gefühl, sie hätte ein paar russische Wörter gehört. Sie fragt sich insgeheim, ob sie einen russischen Spion beobachtet.
Es dauert nicht lange, bis ein Zufall dazu führt, dass sie diesem rätselhaften Mann plötzlich gegenübersteht. „Ich hatte in der Zeitung eine Stellenanzeige gesehen“, erzählt sie. „Schriftsteller sucht Mitarbeiterin.“ Sie ist damals 30, ihre Tochter ist gerade in den Kindergarten gekommen. Annies beschließt, sich für den Job vorzustellen, und fährt zu der Adresse. Die Tür öffnet kein anderer als der vermeintliche russische Spion. Er stellt sich als Otfried Preußler vor. Annies kann es kaum glauben – der Mann, dessen Bücher sie als Kind über alles geliebt hat, sucht eine Sekretärin. „Wir haben sofort gemerkt, dass wir uns gut verstehen werden“, erzählt sie. Preußler will nicht mal ein Arbeitszeugnis von ihr sehen, sie darf sofort anfangen. Als sie ihn ein bisschen besser kennt, beichtet sie ihm sogar, dass sie ihn für einen Spion gehalten hat. „Darüber haben wir noch oft zusammen gelacht.“
+++ Weitere Artikel und Nachrichten aus dem Rosenheimer Land finden Sie hier. +++
Es dauert nicht lange, bis Annies sich an die Arbeitsweise ihres neuen Chefs gewöhnt hat. Der langjährige Lehrer und Rektor ist damals schon pensioniert. Christine Annies’ Arbeitstage beginnen am Frühstückstisch der Preußlers. „Dort haben wir immer zusammen den Tag durchgesprochen“, erzählt sie. Dann zieht Otfried Preußler mit seinem Diktiergerät los. Meist ist er bis mittags unterwegs, spaziert über Wiesen oder durch Wälder und erfindet dabei die Geschichten, die später die Kinder in ihren Bann ziehen werden. Preußler ist der Vater vieler Bilder- und Kinderbücher. Der „Räuber Hotzenplotz“, „Der kleine Wassermann“, „Die kleine Hexe“, „Krabat“ oder „Das kleine Gespenst“ fehlen in kaum einem Bücherregal. Die Texte spricht er nahezu druckreif ein. Später landet das Band dann auf dem Schreibtisch von Christine Annies. Sie tippt alles ab. „Diese Manuskripte hat er dann aber noch x-Mal überarbeitet“, erinnert sie sich.
Otfried Preußler ist ein Perfektionist, das merkt sie schnell. Aber einer, für den es Spaß macht zu arbeiten. „Er hat sich so oft bei mir bedankt – für jede Kleinigkeit. Welcher Chef macht das schon?“ Neben dem kleinen Büro im Haus gibt es einen Anbau, dort steht Preußlers Schreibtisch – vor einer großen Fensterfront. Hier arbeitet er nachmittags weiter. „Oft haben ihn seine Spaziergänge so weit weggeführt, dass er seine Frau anrief und darum bat, irgendwo abgeholt zu werden“, erzählt Christine Annies und lächelt. Sie hat nur schöne Erinnerungen an die 33 Jahre, die sie bei den Preußlers gearbeitet hat. Als ihre zweite Tochter auf die Welt kam, stand der Job mal kurz auf der Kippe. Doch weil Otfried Preußler seine Sekretärin nicht verlieren wollte, bot seine Frau an, auf das kleine Mädchen aufzupassen, während Annies arbeitete.
Ich hatte mir den Autoren der kleinen Hexe immer als schönen Prinzen vorgestellt.
Sie tippte seine Gedanken und sogar seine Tagebucheinträge, kümmerte sich um den gesamten Schriftverkehr und half ihm bei der Leserpost. „Es waren bestimmt 10 000 Briefe, die er von Kindern bekommen hat“, erzählt sie. Alle hat Preußler beantwortet. Manchmal im Namen des Räuber Hotzenplotz. Den Kindern, die ihm schrieben, sie wollen auch Buchautor werden, riet er, erst eine Ausbildung zu machen. „Damit sie unabhängig sind“, erzählt Christine Annies.
Auch sie hat zu Hause eine Mappe mit Briefen von ihm – einige davon ebenfalls verfasst vom Räuber Hotzenplotz persönlich. „Liebe Frau Annies“, schrieb er im Februar 1984. „Bin wieder einmal bei Preußlers und habe gehört, dass Sie zur Zeit einen kurzen Urlaub im Krankenhaus verbringen. No – Hauptsache, dass es nix Schlimmes ist! Kann Sie ja leider nicht gut besuchen kommen, sonst würde das im Krankenhaus womöglich eine große Aufregung geben. (...) Alsdann, alles Gute, wie gesagt, und viele herzliche Rrrrrrrr – na, Sie wissen schon, auch von den Preußlers! Ihr Räuber Hotzenplotz.“ Noch heute schmunzelt Christine Annies, wenn sie die alten Briefe und Karten liest. Seine Bücher über den Abenteurer Hutzelmann Hörbe hat Preußler sogar mit einer Widmung für Annies’ Kinder begonnen. Sie und ihr Chef haben sich immer gesiezt – doch sie wurden Freunde fürs Leben.
Dabei war Christine Annies eigentlich sehr enttäuscht, als sie Preußler das erste Mal sah. Damals war sie acht Jahre alt. Ihre Grundschullehrerin rief sie und ihre Mitschüler plötzlich ans Fenster, als Otfried Preußler mit seinem Diktiergerät draußen langspazierte. „Die kleine Hexe“ war damals mein Lieblingsbuch. Ich habe mir den Autor immer als schönen Prinzen vorgestellt“, verrät sie. Nun ja, man muss es ehrlich sagen: Der kräftige Mann mit Glatze und Brille war erst mal eine Enttäuschung. Doch das änderte sich gute zwei Jahrzehnte später ja schlagartig.
Das Schreiben hat Preußler sein Leben lang nicht aufgegeben. In den letzten Jahren seines Lebens tippte Annies keine Kindergeschichten mehr ab. „Damals hat er fast nur noch seine Kriegserlebnisse diktiert.“ Diese Texte wurden nie veröffentlicht. Es schien, als ob die Vergangenheit Preußler in seinen letzten Lebensjahren eingeholt hätte. Seine Frau starb vor ihm. Er lebte zum Schluss in einem Pflegeheim in Prien. Christine Annies besuchte ihn dort regelmäßig und brachte ihm die Briefe seiner Leser. „Er hat sie bis zuletzt gerne gelesen.“ Das letzte Treffen kurz vor seinem Tod hat sie besonders in Erinnerung behalten. Sie saß lange bei ihm. Als sie gerade gehen wollte, rief er sie noch einmal zurück. „Glauben Sie mir, Frau Annies, ich war nie ein russischer Spion“, sagte er zu ihr. Er zwinkerte ihr zu, sie lächelten sich an. „Wir wussten beide, dass das unser letzter gemeinsamer Moment war“, sagt Annies.
Verschwunden ist Otfried Preußler aus ihrem Leben nicht. Seine Bücher liest sie heute ihren Enkeln vor – und erinnert sich dabei gerne daran, was er für ein fantastischer Erzähler war. „Er konnte Kinder in seinen Bann ziehen.“ Und die Begeisterung der Kinder war sein schönster Applaus. Der Beweis dafür lag immer auf seinem Schreibtisch, erzählt Annies. „Im Keller bewahrte er die vielen Auszeichnungen und Preise auf, die er bekommen hatte. Aber auf seinem Schreibtisch lag immer ein goldener Marmeladendeckel. Ihn hatte er von einer Schulklasse verliehen bekommen – als bester Schriftsteller aller Zeiten.“
