Zu Gast in der Integrierten Leitstelle in Traunstein
„Ich hab so einen Druck auf der Brust“ – die unsichtbaren Helden der Notrufzentrale
„Hier ist der Notruf für Feuerwehr und Rettungsdienst, in welcher Stadt oder Gemeinde ist der Notfallort?“ - Am andern Ende der Leitung Schweigen – dann ein unverständliches Kauderwelsch. Ich werde nervös, verstehe kein Wort. Schlaganfall? Herzinfarkt? Neben mir sitzt der Notruf-Disponent Christian Zierer-Widauer. Er hat alles im Griff: am ‚Tag des Notrufes‘ zu Besuch in der integrierten Leitstelle in Traunstein, nichts für schwache Nerven:
Traunstein – „Ruhe bewahren ist sehr wichtig, das lernen wir auch unter anderem in unserer Ausbildung.“ Dennoch, erzählt mir Christian Zierer-Widauer, sei er immer noch für einen kurzen Moment gespannt. Wer ist als Nächstes am Telefon? Um was wird es gehen? Die integrierte Leitstelle Traunstein hat mich eingeladen, dem langjährigen Notrufdisponenten bei seiner Arbeit über die Schultern zu blicken.
Der erste Anrufer: Herzinfarkt, Schlaganfall oder doch ‚nur‘ verwirrt?
Wir sitzen an einem Schreibtisch, einer von neun im Raum. Über den Arbeitsplätzen grünes oder rotes Licht, je nachdem, ob der Disponent gerade im Gespräch ist. Fünf Bildschirme für jeden Disponenten: Raumschiff-Atmosphäre: „Wo genau befinden sie sich gerade?“ Christian versucht immer noch, mehr Informationen aus dem Anrufer herauszubekommen, der unverständlich ins Telefon spricht.
Erfolglos. Wir sehen aber mittlerweile den Standort des Anrufers an einem der Bildschirme durch das Ortungssystem: psychiatrische Abteilung, Freilassing. Christian ruft in der Klinik an, klärt ab, welcher Patient und ob mit ihm gesundheitlich alles in Ordnung ist. Es stellt sich raus, es geht ihm so weit gut, der Mann habe schon öfter unnötig den Notruf gewählt. Auch das-Alltag in der integrierten Leitstelle (ILS).
Für eine halbe Million Menschen verantwortlich
Bis zu 600 Anrufe gehen täglich ein. Ob aus Altötting, Mühldorf, Traunstein oder Berchtesgaden. Wer hier die Notrufnummer 112 wählt, landet bei einem der insgesamt zehn Einsatzleitplätze in Traunstein. Insgesamt sind sie für eine halbe Million Menschen zuständig. Auch Krankentransporte werden von der ILS koordiniert. Im Jahr 2022 wurde die Leitstelle komplett modernisiert. Nach wie vor sei, so der Geschäftsführer Josef Gschwendner, das hervorragende Disponenten-Team Kernstück der ILS. Einer davon ist Christian Zierer-Widauer. Er habe seinen Traumberuf gefunden:
Im Notfall richtig verhalten:
Damit die Mitarbeiter der integrierten Leitstelle schnell geeignete Einsatzkräfte alarmieren können, sollten Anrufer wichtige Informationen durchgeben. Dafür gibt es die fünf „W“: Aber im Zweifelsfall werden die Disponenten sie auch durch das Gespräch leiten.
Wo ist das Ereignis?
Geben Sie den Ort des Ereignisses so genau wie möglich an (zum Beispiel Gemeindename oder Stadtteil, Straßenname, Hausnummer, Stockwerk, Besonderheiten wie Hinterhöfe, Straßentyp, Fahrtrichtung, Kilometerangaben an Straßen, Bahnlinien oder Flüssen)!
Wer ruft an?
Nennen Sie Ihren Namen, Ihren Standort und Ihre Telefonnummer für Rückfragen!
Was ist geschehen?
Beschreiben Sie knapp das Ereignis und das, was Sie konkret sehen (was ist geschehen? was ist zu sehen?), beispielsweise Verkehrsunfall, Absturz, Brand, Explosion, Einsturz, eingeklemmte Person!
Wie viele Betroffene?
Schätzen Sie die Zahl der betroffenen Personen, ihre Lage und die Verletzungen! Geben Sie bei Kindern auch das - gegebenenfalls geschätzte - Alter an!
Warten auf Rückfragen!
Legen Sie nicht gleich auf, die Mitarbeiter der Integrierten Leitstelle benötigen von Ihnen vielleicht noch weitere Informationen!
Wenn andere Personen Hilfe brauchen, leisten Sie Erste Hilfe, soweit Sie sich nicht selbst in Gefahr bringen! Helfen Sie den Einsatzkräften beim Auffinden des Ereignisortes! Beides kann Leben retten
Verkehrsunfall als Kind: Der Beginn einer ‚Rettungskette‘
„Als Schuljunge hatten meine Mutter und ich mal einen Verkehrsunfall“, nichts Schlimmes, erzählt der 32-Jährige. Trotzdem, der Blechschaden habe ihn erschrocken. Am Unfallort damals - ein Mann von der Feuerwehr: „Der hat mich dann beruhigt und mir erklärt, dass alles nicht so schlimm ist.“
Telefonhörer statt Schraubenschlüssel - Hohe Anforderung bei der ILS
Seitdem ist für Christian klar: auch er will Menschen in Notlagen helfen. Er geht zur Feuerwehr, später arbeitet er im Rettungsdienst, alles ehrenamtlich. Dann merkt er, sein Beruf als Kälteanlagenbauer, das Ehrenamt, die Familie, alles schwer vereinbar. Und so tauscht Christian final den Schraubenzieher mit dem Telefonhörer.
Die Anforderungen an einen Notruf-Disponenten sind hoch. Voraussetzung ist mindestens ein beruflicher Hintergrund im medizinischen Bereich oder einschlägige Erfahrung bei der Feuerwehr. Dann folgt eine halbjährliche Ausbildung. Denn - es geht nicht nur darum, bei einem Notruf ans Telefon zu gehen und die fünf W-Fragen zu stellen: Wo ist das Ereignis? Wer ruft an? Was ist geschehen? Wie viele Betroffene? Warten auf Rückfragen!
Das klingt einfach – aber hinter jedem Anruf steckt eine eigene Geschichte: Ist die Katze im Baum, ein Verkehrsunfall oder nur ein Fingernagel eingerissen?- Die sogenannten Disponenten müssen in kürzester Zeit entscheiden: Ist es ein Notfall und wenn ja, wie viele Einsatzkräfte braucht es vor Ort? Eine große Verantwortung: Da hilft es, die Arbeit am Einsatzort zu kennen, und zu wissen, wie man die Kollegen draußen noch unterstützen kann, erklärt Christian.
Man mit Druck auf der Brust: „Wir bekommen kein Feedback“
„Ja hallo, ich habe so einen seltsamen Druck auf der Brust“ - der nächste Anruf geht ein. Ein Mann aus dem Landkreis Traunstein beschreibt seinen Standort, erwähnt auch, dass er sich zittrig fühle und Schulterschmerzen habe. Christian muss jetzt in wenigen Sekunden entscheiden: Schickt er einen Rettungswagen, oder auch zusätzlich einen Notarzt. Der Anrufer lenkt ein:
„Jetzt, wo ich mit ihnen spreche, geht es schon wieder, vielleicht nur eine Panikattacke.“ Christian beruhigt: „Wir schicken ihnen jetzt trotzdem jemanden vorbei, zur Sicherheit.“ Im Zweifelsfall sollte man lieber einmal zu oft den Notdienst rufen. Wichtig sei, so Christian, dann auf das zu vertrauen, was der Disponent rät: „Wir kennen uns wirklich aus.“
Was wird aus dem Mann mit dem Druckgefühl auf der Brust? Das erfährt Christian nicht, das erfährt er nie: „Wir bekommen kein Feedback, das gibt es eigentlich nicht.“ Der weitere Verlauf eines Patienten unterstünde der Schweigepflicht. Keine erfolgreichen Happy-End-Geschichten für Christian. Woher kommt dann die Motivation?
Belastende Fälle? „Wenn Kinder in Spiel sind“
„Im Grunde will ich Probleme lösen.“ Und wenn er, so Christian, zum Beispiel erfolgreich am Telefon eine Reanimation anleitet, bis die Rettungskräfte eintreffen - auch das gehört zu seinen Aufgaben - erfülle ihn das. Gibt es noch Situationen, die ihn belasten? „Wenn Kinder im Spiel sind, vor allem seit ich selbst welche habe.“ Dann würden sie schon mal im Team darüber sprechen. Auch bei sehr langen Einsätzen gerate man mal an seine Grenzen. Als Beispiel nennt er Hochwassersituationen, wo oft kein Ende der Einsätze in Sicht ist. Dann fangen einen die Kollegen auf - auch ein Grund, warum Christian bei der ILS seine Passion gefunden hat:
Teamarbeit mit Sinn - Traumjob gefunden
„In meinem vorherigen Beruf war es laut, heiß und ich war allein. Hier sind immer Leute. Wenn ich nicht weiterkomme, drehe ich mich zum Kollegen um und sage, hilf mir mal kurz. Was sagst du dazu?“ Die Teamarbeit sei wahnsinnig schön. Und, ohne seine früheren Kollegen verärgern zu wollen, sagt Christian noch zum Schluss: „Der schlechteste Tag in der integrierten Leitstelle war immer noch besser als der beste im alten Job.“ Der nächste Anruf wartet, ein alter Mann ist nicht ansprechbar, der Blutdruck zu niedrig. Christian, der unsichtbare Held, wird die richtige Hilfe schicken.

