Prozess gegen mutmaßliche Dealerin aus Rosenheim
Fentanyl für süchtige Angeklagte (60): Welche Rolle spielten sieben Ärzte in der Region?
Traunstein/Stephanskirchen – Das Schmerzmittel Fentanyl gilt als wesentlich stärker als Heroin - mit entsprechend hohem Suchtpotenzial: Eine 60-Jährige aus dem Rosenheimer Raum soll es nicht nur selbst gespritzt, sondern in großem Stil auch verkauft haben. Jetzt steht sie vor Gericht.
Update, 15.41 Uhr – Welche Rolle spielten sieben Ärzte in der Region?
Welche Rolle spielten die Ärzte, die der 60-jährigen Stephanskirchenerin anscheinend bereitwillig die Fentanyl-Pflaster verschrieben hatten? Denn dass das Schmerzmittel von Drogensüchtigen missbraucht wird und 50-mal stärker wirken kann als Heroin, ist bekannt. Die Opiod-Krise in den USA, die das Land seit vielen Jahren im Griff hat, fußt in erster Linie auf Fentanyl-Missbrauch.
„Die Ärzte haben keine Untersuchungen gemacht, nicht nach weiterem Suchtmittelkonsum gefragt und auch nicht gefragt, warum ich den weiten Weg aus Rosenheim auf mich genommen hab“, erzählte die Angeklagte. Sie suchte Praxen in Gmund am Tegernsee, Marquartstein, Seeon-Seebruck und Berchtesgaden auf, um sie die Fentanyl-Pflaster verschreiben zu lassen.
Die Meinung von Volker Ziegler, dem Vorsitzenden Richter, scheint eindeutig: „Die Ärzte müssen sich durchaus Vorwürfe gefallen lassen.“ Ein Beamter der Kriminalpolizei vernahm auch die Ärzte: „Manche hatten schon einen Verdacht, was die Angeklagte betrifft. Und trotzdem wurde ihr das Fentanyl wieder verschrieben. Einer meinte, er wolle der Frau einfach helfen.“
Geladen wird auch ein Bekannter der Angeklagten. Auch gegen ihn wird wegen Drogenmissbrauchs ermittelt. Er fuhr die 60-Jährige oft zu den Praxen – wenn auch nicht direkt vor die Tür: „Gute Ärzte werden in der Szene normalerweise nicht weitergesagt. Damit nicht alle zu dem rennen“, erzählt der Mann. Bei sieben verschiedenen war die Angeklagte. Ein „guter Arzt“ sei einer, der es „nicht so genau“ nehme. Irgendwoher müssten die ganzen Fentanyl-Pflaster in der Drogenszene schließlich kommen...
Unklar ist noch, ob die Angeklagte die Pflaster auskochte und sich das Fentanyl dann direkt ins Blut spritzte, oder ob sie die Pflaster nur lutschte. „Sie hat non-stop Pflaster gelutscht, manchmal auch zwei gleichzeitig“, so der Zeuge: „Das Zeug wirkt eh nur kurz, man braucht also viel.“ Bei der Festnahme fand die Polizei dagegen eine aufgezogene Spritze direkt auf dem Tisch vor ihr.
Von den Ärzten selbst ist keiner als Zeuge geladen. Im Prozess gegen die 60-Jährige wird am Dienstag (30. Juli) das Urteil am Traunsteiner Landgericht fallen.
Update, 13.58 Uhr – „In Rosenheim ist die Szene im Salingarten unterwegs“
„Die Angeklagte war uns schon lange bekannt“, berichtet jetzt ein Kriminalpolizist aus Rosenheim. Schließlich ist die Frau wegen Delikten mit Fentanyl schon einschlägig vorbestraft. In den aktuellen Fällen wurde man über einen ihrer Abnehmer wieder auf die Frau aufmerksam. Auch ihr Handy wurde dann überwacht.
„Unzählige“ Telefongespräche habe man abgehört, so der Kripo-Beamte. Und fast immer sei es dabei um Drogen gegangen. „Das war der gesamte Lebensinhalt“, schätzt es der Polizist ein. Mal habe die 60-Jährige die Pflaster an öffentlichen Plätzen in Rosenheim übergeben, mal sei in Wohnungen gedealt worden, unter anderem in der Endorfer Au. Einer ihrer Kunden habe sie als „größte Fentanyl-Dealerin im Raum Rosenheim“ bezeichnet.
Besonders eingeprägt hat sich beim Kriminalpolizisten die Festnahme der Frau am 13. Februar in Rosenheim: „Wir kamen in die Wohnung und auf dem Tisch lag gleich eine volle Fentanyl-Spritze. Die Couch war total vergammelt, ein Mann spritzte sich gerade Kokain.“ Überall in der Wohnung seien Spritzen gelegen. „Man kann sich das nur schwer vorstellen.“
Die Angeklagte sei damals in einem „desaströsen Zustand“ gewesen, so der Polizist. Er hätte sie heute kaum wiedererkannt. Ein weiterer Kriminalpolizist berichtet, dass Todesfälle wegen Fentanyl-Überdosen in letzter Zeit „ansteigend“ seien: „In Rosenheim ist die Szene im Salingarten unterwegs.“
Auch der Todesfall vom 27. August 2023 kommt zur Sprache. An diesem Tag setzte sich ein Mann zu Hause in einer Gemeinde am Waginger See eine Überdosis. „Wir haben ihn im Bad seines Elternhauses gefunden. Er hatte eine Spritze im Arm, am Boden die verschiedensten Betäubungsmittel“, so der Kriminalpolizist. Auch Fentanyl war dabei.
Bei der Durchsicht des Handys des Verstorbenen fand man dann den Kontakt zur Angeklagten. Vier bis fünf Mal kurz vor der Überdosis hatten sich die beiden wohl getroffen. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass der Mann bei der Angeklagten mindestens drei Fentanyl-Pflaster kaufte, zum Preis von 100 Euro pro Stück.
Update, 13.09 Uhr – „Der Entzug war echt schlimm“
Nach einer längeren Beratungspause ist jetzt die Angeklagte am Zug – und ist zum Teil geständig. Auch wenn sie wegen eines Bandscheibenvorfalls wirklich Rückenschmerzen habe: „Ich hab‘ die Ärzte angelogen und meine Schmerzen vorgeschoben“, so die 60-Jährige. Ab August 2023 habe sie sich bei Ärzten am Tegernsee, in Marquartstein, Seeon-Seebruck und Berchtesgaden die Fentanyl-Pflaster ergaunert.
Vor August 2023 bekam sie Substitutionsmittel, weil sie schon seit langem Drogenprobleme hat. Aber dafür hätte sie regelmäßig den weiten Weg nach München hinter sich bringen müssen, meint die Frau. Tatsächlich wurde die Frau 2018 schon einmal am Traunsteiner Landgericht wegen genau derselben Vorwürfe verurteilt – Missbrauch von Fentanyl-Pflastern. Laut Staatsanwaltschaft kochte sie die Pflaster aus und spritzte sich das Rauschgift. Fentanyl gilt als 50-mal stärker als Heroin.
Dass per Post zweimal Amphetamin und Ecstasy an sie geschickt wurden, gesteht die gebürtige Stephanskirchenerin auch. Aber: Dass sie in Rosenheim in großem Stil mit den Pflastern gedealt hätte, streitet die 60-Jährige ab. Mal habe sie nur getauscht, mal habe sie Pflaster verschenkt. Dieses Handeltreiben mit Betäubungsmitteln ist rechtlich auch am schwerwiegendsten.
Seit Februar sitzt die Angeklagte in Untersuchungshaft. Zuerst gab man ihr dort Morphium, dann das Substitutionsmittel Polamidon – aber kein Fentanyl mehr. „Der Entzug war echt schlimm“, berichtet sie: „Man liegt nur noch im Bett, hat Durchfall, übergibt sich. Du bist wie tot. Man kann nicht mehr aufstehen und auch nicht mehr schlafen, weil man dauernd Krämpfe hat.“
Nun werden zwei Zeugen der Kripo über ihre Ermittlungen in der Rosenheimer Drogenszene berichten – und über jenen Mann, der sich womöglich mit Fentanyl der Angeklagten eine Überdosis setzte.
Update, 9.42 Uhr – „Schwunghafter Handel“ mit Fentanyl-Pflastern
Der Prozess gegen eine 60-Jährige aus Stephanskirchen beginnt. „Schon seit langer Zeit“ würde sie in Rosenheim einen „schwunghaften Handel“ mit Fentanyl-Pflastern betreiben, beginnt die Staatsanwältin mit der Verlesung der Anklageschrift. Aber: Die Frau konsumierte das Fentanyl auch selbst, „durch Auskochen und Spritzen“.
20 Verschreibungen bei verschiedensten Ärzten habe sie sich besorgt. So kam sie zwischen August 2023 und Februar 2024 an 260 Fentanyl-Pflaster, so die Staatsanwältin. Bei den Ärzten habe sie falsche Angaben gemacht, um an die Pflaster zu kommen. Um an die Verschreibungen zu kommen, sei sie weit unterwegs gewesen: Die Ärzte sind aus Gmund am Tegernsee, Marquartstein, Seeon-Seebruck und Berchtesgaden.
Die Staatsanwältin berichtet von Fällen, in der die Angeklagte die Pflaster in Rosenheim für 100 Euro pro Stück weiterverkauft habe – an einen Mann wöchentlich über drei Jahre. Ein anderer Abnehmer sei im August 2023 an einer Überdosis Fentanyl gestorben. Auch er habe es sich, wie die Angeklagte, letztendlich gespritzt.
Es geht aber nicht nur um Fentanyl. 2022 habe sich die Stephanskirchenerin auch zehn Ecstasy-Tabletten aus Holland und 100 Gramm Amphetamin („Speed“) bestellt. Die Päckchen konnten aber früh genug abgefangen werden. Angeklagt ist die 60-Jährige jetzt wegen Besitz und Handel von Rauschgift sowie Betrug. Jetzt darf sich die Frau selbst zu den Vorwürfen äußern.
Erstmeldung:
Eine 60 Jahre alte Frau aus Stephanskirchen muss sich ab dem heutigen Montag (29. Juli) vor dem Traunsteiner Landgericht verantworten. „Sie betreibt seit langer Zeit in Rosenheim einen schwunghaften Handel mit Betäubungs- und Arzneimitteln, vor allem mit Fentanyl-Pflastern“, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Die Frau soll sich bei 20 verschiedenen Ärzten in der Region - vom Tegernsee über Seebruck bis nach Berchtesgaden - die Verschreibungen für die Pflaster erschlichen haben.
Vorwurf: Fentanyl-Pflaster ausgekocht und selbst gespritzt - oder weiterverkauft
Einen Teil der Fentanyl-Pflaster habe sie dann selbst ausgekocht und sich das Schmerzmittel gespritzt. Überwiegend habe sie die Pflaster aber weiterverkauft: oft zum Preis von 100 Euro pro Stück. Fentanyl gilt um das 50-fache stärker als Heroin. Die jüngste Drogenwelle in den USA in den vergangenen Jahren ist von diesem Opioid geprägt. Überdosen an Fentanyl sind für US-Amerikaner in der Altersgruppe zwischen 18 und 45 Jahren inzwischen die häufigste Todesursache.
Die Stephanskirchenerin ist unter anderem angeklagt wegen gewerbsmäßigem Drogenhandel und Betrug. Zwei Verhandlungstage sind am Landgericht vorgesehen: am heutigen Montag und am Dienstag (30. Juli), Beginn jeweils um 9 Uhr. rosenheim24.de wird aktuell vom Prozess berichten. (xe)