Einzelhandelskonzept wichtiger als Patienten?
UPDATE: „Erpressung“? Kostenloses Mini-Krankenhaus für Grassau – aber die Gemeindespitze will nicht
Ein Arzt will die medizinische Versorgung in Grassau auf Jahrzehnte hinaus sichern, baut für neun Millionen ein Mini-Krankenhaus in Eichelreuth. Der rote Teppich wird ihm von der Kommunalpolitik dafür nicht ausgerollt. Im Gegenteil.
Grassau – „Vater“ des Ärztehauses ist Dr. Hellmut Münch. Der Allgemeinmediziner lebt in Grassau, war knapp zwei Jahrzehnte als Notarzt im Achental unterwegs, ist Dozent an mehreren Hochschulen und weiß schon lange um den drohenden Ärztemangel. Dem wollte er vorbeugen und entwickelte die Idee zu einem Ärztehaus. Damit wäre die ärztliche Versorgung in Grassau auf Jahrzehnte gefestigt, so seine Überzeugung. Beim damaligen Bürgermeister Rudi Jantke stieß er auf offene Ohren. Gemeinsam besprach man, so schildert es Münch, was möglich und was nötig ist.
*Schriftlich erklärt Grassaus Altbürgermeister Jantke diesbezüglich gegenüber dem OVB: „Diese Darstellung entspricht nicht der Wahrheit. Ich habe weder während meiner Amtszeit bis zum 30.04.2020 noch danach ein Gespräch mit Dr. Münch über das im Artikel erwähnte Bauvorhaben „Ärztehaus“ in Grassau geführt. Über das Bauvorhaben selbst, den Bauherrn und die geplante Nutzung des Gebäudes habe ich erst nach Baubeginn im November 2022 durch die Berichterstattung in der Grassauer Gemeindezeitung zum Spatenstich des Gebäudes erfahren. Übrigens, ich finde es gut, dass das Ärztehaus und damit dort sogar eine kleine Gastronomie entstanden ist. In der Sache aber ist es absolut richtig, dass der Marktgemeinderat Grassau weiter den Empfehlungen aus dem Einzelhandelsgutachten zum Schutz der noch vorhandenen Geschäfte in der Ortsmitte folgt und ich wünsche mir, dass er konsequent bleibt.“*
Einzelhandelskonzept von 2002 steht im Weg
Dass in ein Ärztehaus auch eine Apotheke gehört, sei selbstverständlich gewesen. Das war es nach der Kommunalwahl 2020 nicht mehr. Da spreizten sich der neue Gemeinderat und der neue Bürgermeister Stefan Kattari ein, verwiesen auf das 2002 erstellte Einzelhandelskonzept. Das regelt, welche Waren wo verkauft werden dürfen. Dem Innenort vorbehalten sind unter anderem Arzneimittel, Brillen, optische Erzeugnisse, Hörgeräte, medizinische und orthopädische Produkte. Neben der Filiale einer ortsansässigen Apotheke war damit auch der Umzug eines hochspezialisierten Optikers in Gefahr.
„Man kann das Einzelhandelskonzept richtig finden oder nicht“, sagt Bauunternehmer Manfred Mix, der zusammen mit Münch am Entwurf des Ärztehauses bastelte und es dann auch baute. „Für meine Begriffe ist es überholt. Aber was man vorher weiß, kann man hinterher nicht bemängeln. Die Kommunalpolitiker halten sich streng ans Ortsrecht.“ Die Verärgerung von Münch und Optikermeister Thomas Ager könne er aber verstehen. Schließlich wollten sie für die Gemeinde und in der Gemeinde etwas tun und es würden ihnen permanent Steine in den Weg gelegt. Bei drohendem Ärztemangel sollte man zur Sicherung schon eine Filialapotheke zulassen.
Kommunalpolitiker bleiben hart
Münch, der im zarten Alter von Ende 50 für das Ärztehaus einen Millionenkredit aufnahm, sagt im Nachhinein: „Ich hätte mit der Grundsteinlegung eigentlich aufhören müssen. Aber ich war zu dumm.“ Denn da hätte Bürgermeister Kattari die Ansage schon gemacht, „eine Apotheke im Ärztehaus wird es mit mir nicht geben“. Auch keine Filialapotheke. Die aber für Fachärzte wie Patienten gleichermaßen wichtig wäre. Gemeinderat und Bürgermeister bleiben hart, das Ärztehaus entsteht ohne Apotheke.
Hinzu kam nach Aussage mehrerer Beteiligter die Äußerung„Ihre Gewerbesteuer interessiert mich nicht“. Münch zahlt nach eigener Aussage für sein Institut für Enzymforschung eine hohe fünfstellige bis sechsstellige Summe. Mix sagt: „Natürlich ärgert mich so eine Aussage, wenn ich zwischen 300.000 und 500.000 Euro im Jahr zahle.“ Kattari will das so nicht stehen lassen: Er habe in Sachen Gewerbesteuer immer angefügt, dass diese nicht mehr so wichtig sei wie früher, der Einkommenssteueranteil sei mittlerweile die größte Einnahmequelle der Gemeinde. Was in 99,x Prozent aller Kommunen deutschlandweit der Fall ist. *Weiter ergänzt der Bürgermeister, dass eben die Gewerbesteuer nicht die höchste Einnahmequelle des Marktes Grassau ist, sondern der Anteil der Lohn- und Einkommenssteuer. In diesem Zusammenhang auf eine Geringschätzung der Gewerbesteuer zu schließen, sei falsch.*
Krankenwagen fahren Ärztehaus an
Im Juli 2024 ging das Ärztehaus in Betrieb. Mit einem Optiker, der in seinem Myopie-Institut Brillen und Kontaktlinsen gegen Kurzsichtigkeit bei Kindern und Brillen gegen Legasthenie anpassen kann, die Brillen aber nicht vor Ort verkaufen darf. Das darf er nur in seinem viel zu kleinen Laden im Ortszentrum. Dafür mit Praxen für Allgemeinmedizin, Dermatologie, Orthopädie, Psychosomatik, plastische Chirurgie, Immunologie, Physiotherapie, einer Frühförderung und einem Café. Mit einem Aufzug, groß genug für Krankenbett oder Trage. Mit Praxen, die so geplant sind, dass dort im Notfall sechs Intensiv-Zimmer und knapp 20 Krankenbetten innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung stehen. Ein kleines Krankenhaus im Achental. Das heute schon mehrfach am Tag von Krankenwagen mit Notfällen an Bord angefahren wird.
Kurzzeitiger Baustopp „Rufschädigung“
Die Praxen liefen schon, zwischen 800 und 900 Patienten kamen und kommen pro Woche, da folgte der nächste Rückschlag. Ein Baustopp für das gesamte Gebäude, die Praxen sollten geschlossen werden. Angeblich habe es einen entsprechenden Anruf aus der Gemeinde im Landratsamt gegeben, sagt die Gerüchteküche. „Ein Fehler vom Landratsamt“, nennt es Bauunternehmer Mix, „es wurden keine tragenden Bauteile verändert, es gab keine Nutzungsänderung – das hätte nicht sein dürfen.“ Rufschädigend sei es außerdem. Allerdings war die Sache für das ganze Haus ganz schnell vom Tisch, nur im Café im Erdgeschoss dauerte es etwas länger. *Bürgermeister Kattari stellt dazu im Nachgang klar, dass die Untere Bauaufsichtsbehörde am Landratsamt Traunstein nach einer Baukontrolle im Juli 2024 gegenüber der Baufirma eine Baueinstellung verfügt hat. Der Grund: Die Raumaufteilung innerhalb des Ärztehauses wich Kattari zufolge hinsichtlich verschiedener Räumlichkeiten vom genehmigten Eingabeplan ab. Die Baueinstellung bezog sich laut dem Bürgermeister auf die Räumlichkeiten des Cafés mit Flagshipstore und auf die Geschäftsräume, die an den Optiker vermietet werden sollten. Die abweichende Raumaufteilung zwischen verschiedenen Praxisräumen oder innerhalb einzelner Arztpraxen war offensichtlich genehmigungsfähig und nicht von der Baueinstellung betroffen.*
Bürgermeister spricht von Erpressung
So ganz hat Münch die Apotheke und den Brillenverkauf im Ärztehaus noch nicht aufgegeben. Bisher biss er allerdings bei den Kommunalpolitikern auf Granit. Er fühlt sich unerwünscht. „Wenn wir ihm nicht gewogen wären, dann stünde das Ärztehaus nicht“, sagt Kattari dazu im Gespräch mit der Chiemgau-Zeitung. „Am Unwillen eines Dr. Münch, sich ans Ortsrecht zu halten, ist nicht der Marktgemeinderat schuld. Sollen sich Bürgermeister und Marktgemeinderat erpressen lassen und einer Nutzung zustimmen, von der von Anfang an klar war, dass sie so nicht erlaubt ist?“ Sie seien froh, dass das Ärztehaus im Ort sei, aber das Ortsrecht sei in einigen Teilen nicht dehnbar. Eine Einstellung, über die der Bauunternehmer sagt: „Das finde ich schwach von der Gemeinde. Hier geht es schließlich nicht um eine Spielhalle.“
Kaufangebote für das Ärztehaus
„Erpressen“, weil nicht nur der Optiker überlegt, mit seinem Institut samt Laden und Café in eine andere Gemeinde zu ziehen. Zumal ihm zwei Angestellte aufgrund der beengten Situation im bestehenden Geschäft gekündigt hätten. Nein, auch Münch selber denkt über einen Umzug nach. Ihm liegen zwei Kaufangebote für die Immobilie vor. Ein Versicherungskonzern hat Interesse und der deutsch-tschetschenische Kultur- und Integrationsverein will die Immobilie unbedingt haben. Beide wollen kein Ärztehaus betreiben.
Nachbargemeinden hätten lebhaftes Interesse bekundet, dass er mit seinem Ärztehaus zu ihnen kommt, sagt Münch. Auch Grundstücke seien ihm schon angeboten worden. „Wenn er umziehen will, können wir das nicht verhindern. Das ist eine unternehmerische Entscheidung“, sagt Kattari. Die Frage der Redaktion, wie er den möglichen Verlust des Ärztehauses den Grassauern vermitteln will, bleibt unbeantwortet.
Da nimmt es sich fast wie Hohn aus, dass – bevor die Verkaufsgedanken des Mediziners Münch publik wurden – die Gemeinde Grassau auf Bauunternehmer Mix zukam und ihm gegenüber einen Wunsch äußerte: „Wir brauchen noch ein weiteres Ärztehaus.“
***Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien in einer früheren Version ohne die mit (*) und in kursiv dargestellten Passagen.***