Ein aktiver Ort
„Bezaubernd und herzlich“: Wieso Ruth Krumme ihren „Lebens-t-raum“ jetzt in Grassau lebt
Ruth Krumme hat ihren „Lebens-t-raum“ ausgeträumt. Zumindest in Bad Endorf. Doch beerdigen musste sie ihn nicht. Denn sie wurde abgeholt und willkommen geheißen. In einem Ort, in dem sich die Menschen die Hände reichen. Das ist ihre Geschichte.
Grassau/Bad Endorf – Am 24. Oktober hat Ruth Krumme ihr Geschäft in Bad Endorf geschlossen. Nach einem jahrelangen Sterben auf Raten, dem Kampf gegen Krisen, Inflation, Internethandel, Straßensperrungen und Ignoranz. Eigentlich wollte sie ihre Selbstständigkeit als Einzelhändlerin an den Nagel hängen. Etwas ganz Neues anfangen. Doch dann kam es anders.
Von existenziellen Problemen gelesen und sofort reagiert
Weil Ruth Krumme dem OVB ihre Geschichte erzählte, haben auch Annemarie Sichler-Brandl und ihr Mann Hans-Jürgen davon erfahren. „Mein Mann ist passionierter OVB-Leser. So wurde er auf die existenziellen Probleme von Ruth Krumme als Einzelhändlerin aufmerksam“, erzählt sie. Die Beiden zögerten nicht lang. Schon am nächsten Tag fuhren sie nach Bad Endorf und standen plötzlich in der Tür des fast verlorenen „Lebens-t-raums“.
Sie erzählten Ruth Krumme von „ihrem Grassau“: Diesem lebendigen, kleinen Ort mit der Kirche im Herzen und ganz viel Leben drumherum. Den Einzelhändlern, die mit Trachten, Blumen, Textilien, Haushaltswaren, Spielzeug und vielem mehr Leben ins Dorf bringen. Dem Café, dem Döner-Laden, den Restaurants und Wirtshäusern, der Grund- und Mittelschule und all den netten Leuten. Berichteten von Georgi- und Michaelis-Märkten, der langen Einkaufsnacht im August mit 8000 Besuchern. Der engagierten Gemeindeverwaltung. Dem tollen Verein „Aktives Grassau“. Und von all den Menschen, die sich freuen würden, wenn wieder Leben am Birkenweg 3 direkt am Kirchplatz einzieht.
Lange Suche nach einer Nachfolgerin
Dort nämlich hatte die Familie Sichler seit mehr als 70 Jahren ihr Schuhgeschäft, das 1949 von den Eltern von Annemarie als Schuhmacherwerkstatt gegründet und später von ihr als Schuh- und Sporthaus weitergeführt worden war. Bis Corona kam. Die Inflation. Der Fachkräftemangel. Das Rentenalter. „Ich habe lange nach einem Nachfolger für unser Geschäft gesucht, viele persönliche Briefe geschrieben und leider immer Absagen erhalten“, blickt Annemarie Sichler-Brandl auf das vergangene Jahr zurück.
All ihre Bemühungen und ihr größter Wunsch nach einem Einzelhandel schienen vergebens. Bis sie von Ruth Krumme hörte. Die hatte ihren „Lebens-t-raum“ eigentlich schon ausgeträumt. „Ich wollte wirklich aufhören, etwas anderes machen, Verantwortung abgeben“, sagt sie. Jobangebote hatte sie nach dem Beitrag im OVB genug: als Altenpflegerin, Verkäuferin, Nachfolgerin für Geschäftsinhaber von Kufstein bis Bruckmühl. Sollte sie wieder ein eigenes Geschäft eröffnen? Das Geschäftsrisiko noch länger aushalten?
Herzliches Willkommen
Sie ließ sich von Tochter Marisol inspirieren: „Na, anschauen können wir es uns ja mal.“ Und dabei blieb es nicht. War Grassau bis dahin ein Name, den Ruth Krumme „schon gehört“ hatte, verliebte sie sich auf Anhieb „in diesen bezaubernden kleinen Ort mit der wunderschönen Kirche und den herzlichen Menschen“. Der Nachbar kam und bot seine Hilfe beim Regale-Rücken an. Im Café wurde sie willkommen geheißen. Auch im Blumenladen nebenan. Und mit den Ergotherapeutinnen entstanden gleich neue Spielideen. „Grassau fühlt sich einfach heimelig an.“
Vor allem Annemarie und Hans-Jürgen Sichler bereiteten ihr ein herzliches Willkommen. Sie frischten den Laden auf, tauschten den grünen Moosteppich gegen modernes Laminat, strichen Balken und Wände, bauten eine neue Küche ein. „Extra für Ruth und für unser Grassau“, sagt Annemarie glücklich lächelnd.
Leben in einer aktiven Gemeinschaft
„Die meinen es wirklich ehrlich mit mir“, spürte Ruth Krumme. Und so sagte sie innerhalb kurzer Zeit zu, denn hier in Grassau fand sie genau die Menschen, die sie suchte. Und eine Händlergemeinschaft, die es versteht, mehr Leute in ihren Ort zu locken. „Das geht natürlich nur mit einem attraktiven Ortskern“, sagt Aleksander Reber, der Vorsitzende des Vereins „Aktives Grassau“, dem 120 Gewerbetreibende angehören.
Die Gemeinde habe in den vergangenen Jahren viel investiert, um eine Aufenthaltsqualität zu schaffen, die zum Verweilen einlädt, würdigt er das Miteinander. Am „Gasthof zur Post“ gebe es kostenlose Parkplätze, damit die Besucher bummeln und einkehren können, mehr Zeit im Ort verbringen. Nicht zu vergessen das Einzelhandelskonzept, das die Gewerbetreibenden schütze: „Konkurrenzgeschäfte dürfen sich außerhalb des Ortskerns nicht ansiedeln.“
Gemeinde gestaltet attraktives Umfeld
Schon seit 2002 sei klar geregelt, welche Sortimente das Zentrum nicht verlassen dürfen, damit die Kaufkraft im Ortskern bleibt und nicht an die Ortsränder gezogen werde, informiert Bürgermeister Stefan Kattari auf OVB-Anfrage. Zudem habe der Markt Grassau seit Ende der 90er-Jahre über die Städtebauförderung den Ortskern saniert. Fünf Gemeindegärtner sorgen für ein blühendes Grassau. „Die Aufenthaltsqualität können wir als Gemeinde direkt beeinflussen, aber natürlich auch Kontakte zwischen Vermietern und potenziellen Mietern vermitteln“, so Kattari. Da Parkgebühren für die „Gemeinde eine Nullrechnung, aber für Besucher ein Ärgernis“ seien, wolle der Markt Grassau auch künftig keine Parkgebühren erheben.
„Grassau ist wirklich ein Vorzeigeort“, ist Reber überzeugt. Und auch Ruth Krumme ist glücklich, hier angekommen zu sein. Sie ist dankbar, dass Menschen wie Annemarie und Hans-Jürgen Sichler, Nachbarn und Kollegen ihr gezeigt haben, dass man einen „Lebens-t-raum“ nicht beerdigen muss, sondern nur das richtige Umfeld braucht, um ihn zu verwirklichen.
Neueröffnung und Ankommen im Advent
Am ersten Samstag im Advent eröffnet sie ihr Geschäft am Birkenweg 3. Den Verkaufsraum hat sie inzwischen in ein gemütliches, weihnachtliches Wohnzimmer verwandelt: mit Sesseln und Bänken, Kissen und Kuscheldecken, Puppen und Plüschtieren, Babysachen und Spielen, Räuchermännchen und Pyramiden, Wolle und Garn, Büchern und Geschenken. Mit Raum zum Spielen, Lesen und Ratschen. „Mit all den bunten Angeboten eben, die zu mir und meinem Lebens-t-raum gehören“, blickt Ruth Krumme gespannt auf den Neustart am 30. November, um 9.30 Uhr. „Das ist eine große Bereicherung für uns“, freut sich Aleksander Reber auf „die Neue“ im Bunde der Grassauer Gewerbetreibenden und lädt sie noch vor ihrer Neueröffnung zum ersten Vereinstreffen ein. Worum es dort geht? „Wie man Grassau noch besser beleben kann.“


