„Fast schon ein Skandal“
Etikettenschwindel, Geschmäckle, Bürgerbegehren? Streit um (Agri)-PV-Projekt in Übersee eskaliert
Ein Schritt zur Energiewende oder Landschafts-Verschandelung? Interessenkonflikt beim Bürgermeister oder alles zum Nutzen der Gemeinde? In Übersee, wo gleich zwei große Photovoltaik-Anlagen entstehen sollen, tobt ein Solar-Streit. Es ist auch der Streit zweier Männer. Was nun passiert.
Übersee – Wolfgang Wimmer ist unverdächtig, einer der unbelehrbaren Gegner erneuerbarer Energien zu sein. Der Unternehmer kann stattdessen als jemand gelten, der die Energiewende schon weitgehend vollzogen hat. Für die Wärmegewinnung benötigt er kein Gramm Öl oder Gas. Die Halle seiner Maschinenbau-Firma mit 30 Angestellten, die auf die Produktion von Parkeisenbahnen spezialisiert ist, wird genau wie sein Wohnhaus per Erdwärme- und Luftwärmepumpe geheizt. Und auf dem Dach hat Wimmer eine Photovoltaik-Anlage mit 100 KW.
„Wunderschönes Fleckerl Erde“
Wieso also ist einer der größten Gewerbesteuer-Zahler von Übersee einer der vehementesten Gegner eines Bürgerenergie-Projekts, das als „Agri-PV Friedhofstraße“ vermarktet wird? „Weil es einfach viel zu groß geplant und nur gut 350 Meter vom Ortskern entfernt ist. Die geplante Fläche ist ein wunderschönes Fleckerl Erde, dass von Spaziergängern zur Naherholung genutzt wird und wo im Winter die Langläufer ihre Bahnen ziehen. Ich bin 52 Jahre alt und lebe seit 52 Jahren in Übersee, das ist meine Heimat“, sagt Wimmer im OVB-Gespräch emotional. Er befürchtet, dass die Landschaft und das Ortsbild von der zwölf Hektar (120.000 Quadratmeter) großen Anlage mit „Hunderten 5,2 Meter hohen Modulen dauerhaft verunstaltet wird“.
Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass er als Anwohner von dem „Solarplatten-Meer“ in seiner unmittelbaren Umgebung persönlich betroffen ist. Aber das macht nur einen Teil seines Frusts aus, denn Wimmer findet, dass bei diesem Projekt nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. „Das ist fast schon ein Skandal“, findet Wimmer und nennt mehrere Beispiele. Zum Beispiel den Fakt, dass das Projekt mit dem sympathischen Namen „Agri-PV“ vermarktet wird, obwohl es das zumindest nach Stand des ersten Entwurfs überhaupt nicht ist.
„Es kommt immer wieder vor, dass Freiflächen-PV als Agri-PV im Rahmen von gemeindlichen Bauleitplanungen ausgewiesen werden. Dies war bisher in allen Fällen Etikettenschwindel“, hat Matthias Anziger als Sachgebietsleiter für Land- und Almwirtschaft am Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Traunstein (AELF) zu diesem Trend-Thema allgemein in einer Pressemitteilung erklärt.
Der Unterschied zwischen Agri-PV und Freiflächen-PV
Wird eine klassische Freiflächen-Photovoltaikanlage gebaut, steht diese Fläche der Landwirtschaft nicht mehr zur Verfügung. Energiegewinnung ist hierbei also das einzige Ziel. Anders als bei der Agri-Photovoltaik (Agri-PV): Hier bleibt der landwirtschaftliche Anbau der Hauptnutzungszweck – und zusätzlich wird noch Energie gewonnen. Diese Doppelnutzung der Fläche löst das Problem der Flächenkonkurrenz: Landwirtinnen und Landwirte müssen sich nicht länger entscheiden, ob sie ihre Flächen für den Anbau oder für Solarenergie nutzen wollen, sondern können beides kombinieren. (Quelle Agrosolar Europe)
Gesetzliche Bedingung für das Label „Agri-PV“ ist nämlich, dass die Landwirtschaft weiter die wichtigste Nutzungsart bleibt und die Energieproduktion an zweiter Stelle steht. Im Übersee ist das jedoch laut der ersten Auslegung des Flächennutzungsplan nicht gegeben, weil die bislang intensive Bewirtschaftung der Wiesenfläche zurückgefahren werden soll.
Übersees Bürgermeister Herbert Strauch betont im OVB-Gespräch, dass in der Finalversion der Planungen der mit einer vierzeiligen Hecke eingegrünten Anlage alle gesetzlichen DIN-Vorgaben (DIN SPEC 91434) erfüllt werden: „Die Agri-PV-Platten sind aufgeständert und man kann sie senkrecht stellen, damit man dazwischen wirtschaften kann.“ Schon aus finanziellem Interesse müssten die DIN-Vorgaben erfüllt werden, weil nur die dann die erhöhte Einspeisevergütung für den Solarstrom fließt.
„Renditeobjekt“ oder „Wertschöpfung für die Region“
Womit das wichtige Thema Geld angesprochen wäre. Hier haben die Gegenspieler komplett unterschiedliche Ansichten. Wimmer sieht die Anlage als „Renditeobjekt mit Investitionen von zehn Millionen Euro“. Bürgermeister Strauch als perfektes Beispiel für die Einbeziehung möglichst vieler Bürger: „Ich wollte, dass die Bürger Vertrauen ins das Projekt haben und mitbestimmen können. Es sollte keine nebulöse Firma sein, sondern die Wertschöpfung in der Region bleiben.“ Also wird das Projekt von der Bürgerenergiegenossenschaft Neue Energie Achental (NEA) durchgezogen werden, an der sich die Bürger beteiligen und finanziell profitieren können. Das Angebot wird gut angenommen, zuletzt gab es 138 Mitglieder.
Problem an der Geschichte: Herbert Strauch, der solch ortsverändernde Projekten eigentlich als Bürgermeister neutral bewerten sollte, sitzt im Aufsichtsrat der NEA. Ein „klarer Interessenkonflikt“, wie nicht nur Wimmer findet. Anderswo würde man das als Geschmäckle bezeichnen. Ortschef Strauch gibt zu, dass das „nach außen komisch ausschaut“. Aber er sei nun mal von den Bürgermeistern von der Ökomodell-Region Achental in den Aufsichtsrat entsandt worden. Als der Mann, der in der Region vom Thema Photovoltaik am meisten direkt betroffen ist.
Übersee: Noch ein zweites PV-Projekt
Das hängt schlicht damit zusammen, dass Übersee an der Bahnstrecke Rosenheim - Salzburg liegt. Und laut Baugesetzbuch in einem 200-Meter-Korridor an übergeordneten Schienenwegen und Autobahnen die Umsetzung von Photovoltaik-Anlagen vereinfacht ist. Das hat dazu geführt, dass die Chiemgau GmbH des Landkreises eine weitere Photovoltaik-Anlage in Übersee mit etwa fünf Hektar (50.000 Quadratmeter) Fläche errichten will. Wimmer hat nichts gegen den Bau dieser Solarstrom-Anlage. Aber er wirft dem Bürgermeister vor, dieses nördlich der Bahnlinie gelegene Projekt „verheimlicht zu haben, obwohl er schon seit Monaten über die Flächensuche informiert war“.
Der Grund nach Meinung des Kritikers: Erst sollte das südlich der Bahnlinie gelegene Großprojekt der Gemeinde durchgepeitscht werden. Das sei auch der Grund, warum die Auslegung des Bebauungsplans jetzt gerade über Weihnachten stattfinde. „Damit es möglichst schnell durchflutscht. Die Bürger sind viel zu spät informiert worden, 20 bis 30 Prozent wissen immer noch nicht, was genau geplant ist“, so Wimmer. Strauch sieht das naturgemäß anders, bis 13. Januar 2025 hätten die Bürger Gelegenheit, sich zu äußern. Ohnehin gebe es vielleicht noch „acht oder zehn“ Kritiker am PV-Projekt in der Friedhofsstraße in der Gemeinde. Viele Bürger seien stattdessen verärgert über Leserbriefe mit „Halbwahrheiten“, deshalb deute aktuell „nichts auf ein Bürgerbegehren hin“.
Zumindest darin täuscht sich der Bürgermeister allerdings. Dem OVB liegt die Unterschriftenliste für den „Antrag auf Durchführung eines Bürgerentscheides (Bürgerbegehren) gegen die Agri-Photovoltaik (PV)-Anlage an der Friedhofofstraße vor“. Darin sind als Vertreter insgesamt sechs Personen mit Wimmer an der Spitze genannt, die nun auf die Jagd nach Unterstützern gehen werden. Wer die Liste unterzeichnet, beantragt gemäß Artikel 18 a der Bayerischen Gemeindeordnung die Durchführung eines Bürgerentscheids über die Frage, ob das laufende Bauleitverfahren eingestellt werden soll.
Bürgerentscheid: Es braucht 500 Unterschriften
„Übersee hat etwa 4300 wahlberechtige Einwohner, wir brauchen zehn Prozent davon, damit ein Bürgerentscheid stattfinden kann. Also 500 Unterschriften“, sagt Wimmer dem OVB. Er will dieses Ziel bis Mitte Januar erreichen und fügt hinzu: „Der Widerstand in der Bevölkerung ist groß.“ Übrigens gab es vor etwa einem Jahr einmal ein Vieraugengespräch zwischen Wimmer und Bürgermeister Strauch samt Ortsbegehung, aber keine Lösung. Die Gräben zwischen den beiden Männern sind inzwischen noch tiefer geworden. Auf welcher Seite die anderen Bürger Übersees stehen, wird sich bis Mitte Januar entscheiden.



