Urteil im Prozess wegen ausgesetztem Baby
Haftstrafe für Rosenheimerin: Wegen Aussetzung und gefährlicher Körperverletzung
Die 27-jährige Angeklagte, die im März ihr Neugeborenes ausgesetzt hatte, wurde vom Landgericht Traunstein wegen Aussetzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Update, 15.24 Uhr - Urteil am Landgericht Traunstein gefallen
Die Beschuldigte ergreift die Gelegenheit für das letzte Wort. Unter Tränen sagt sie: „Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, zu dem Zeitpunkt als ich das gemacht habe.“ Nach einer Unterbrechung der Verhandlung zur Beratung der Kammer verkündet die Vorsitzende Richterin Christina Braune das Urteil: Die 27-Jährige wird wegen Aussetzung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren und fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.
Kindsvater absichtlich getäuscht
Zur Begründung des Urteils sagt die Richterin, dass die Kammer kein Verdrängen der Schwangerschaft erkennen konnte. Den Kindsvater habe die Angeklagte in Bezug auf die Empfängnisverhütung absichtlich getäuscht. Der 27-Jährigen sei auch der außerordentlich unhygienische Zustand ihrer Wohnung bewusst gewesen, in der sie das Baby ohne medizinische Hilfe gebar. Das kennzeichne den sehr sorglosen und rücksichtslosen Umgang mit dem Kind. Weil keine Ersatznahrung vorhanden gewesen sei, habe sie das Kind gestillt.
Angeklagte wollte sich Umstände ersparen
Der Sinn des dünnen Taufkleidchens, welches das Mädchen trug, habe sich der Kammer in keinerlei Weise erschlossen. Während die Angeklagte selbst eine warme Winterjacke und zwei Mützen getragen habe, sei die „Verpackung“ des Kindes nur dazu da gewesen, zu verbergen, was sich in der Tasche befand.
Die beiden Mützen und das Verhalten der Angeklagten am Ablageort habe gezeigt, dass die Rosenheimerin nur darauf bedacht war, nicht erkannt zu werden. Um zu vermeiden, dass irgendwelche Umstände für sie entstünden, habe sie auch den schwierigen Weg der Adoption gemieden. Auch die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras zeigten in der Art und Weise, wie die Angeklagte die Tasche mit dem Kind trug, dass sie keine Rücksicht auf es nahm. „Auf diese Weise würde man kein Lebewesen transportieren“, so Richterin Braune.
Voll schuldfähig, keine Minderschwere
„Das Neugeborene hätte mehr oder minder von jetzt auf gleich versterben können“, so Braune. Die Aussetzung in der Kälte begründet den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung. „Rechtlich ist das Ganze eine Aussetzung“, erklärt die Richterin, „ein Versetzen in eine hilflose Lage und Unterlassung der gebotenen Versorgung“. Durch die Kälte in der Wohnung habe sich die Lage des Kindes noch verschärft – im Ablegen auf den kalten Steinboden habe die Tat ihren Abschluss gefunden. Die Kammer sieht keine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten und auch eine Verzweiflungstat – ein minderschwerer Fall wird damit ausgeschlossen.
„Milde“, weil Kind Glück hatte
Absichtlich habe die Angeklagte dem Kindsvater ihre Schwangerschaft verschwiegen. Die Angeklagte sei zwar kooperativ gewesen, doch ihr Geständnis sei erst nach der Entdeckung und die Bekanntgabe des Vaters erst nach Beauftragung eines Abstammungsgutachtens zustande gekommen.
Gravierend berücksichtigt die Kammer, dass das Kind scheinbar nicht zu Schaden gekommen ist – was aber laut der Vorsitzenden Richterin „nicht der Angeklagten zuzuschreiben ist, sondern dem robusten Gesundheitszustand ihrer Tochter.“ Auch eine „gewisse Grundversorgung“ habe stattgefunden. Dennoch habe es andere Möglichkeiten gegeben, die das Kind eben nicht in massive Lebensgefahr gebracht hätten.
Die Freiheitsstrafe wird nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Pflichtverteidiger der 27-Jährigen teilte mit, in Revision zu gehen.
Update, 13.28 Uhr - Pflichtverteidiger Dr. Frank hält sein Plädoyer
Dann ergreift Pflichtverteidiger Dr. Markus Frank das Wort. Er beginnt mit einer einleitenden Geschichte zur Babyklappe, die es zum Zeitpunkt der Aussetzung in Rosenheim nicht gab. Seine Mandantin habe das Kind abgelegt – in der Hoffnung, dass das Kind schnell gefunden würde. Innerhalb weniger Minuten sei das Baby dann auch entdeckt worden, der Rettungsdienst sei bereits 13 Minuten nach dem Ablegen da gewesen. Das Kind habe außerdem einen recht vitalen Eindruck gemacht. Der Vater habe dargelegt, dass das Kind „pumperlgesund“ ist und auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Folgeschäden komme, sei viel geringer, als dass es unauffällig bleibe.
Angeklagte suchte im Internet panisch nach Babyklappe
Auch die Entführung der Mandantin durch den leiblichen Vater hebt der Verteidiger in seinem Plädoyer hervor – und, dass die Angeklagte in einer „eigenen Blase und eigenen Welt“ gelebt habe. Ausgelöst durch die schwierigen Erlebnisse in ihrer Kindheit habe seine Mandantin keine Bindung zu ihren Eltern aufbauen können und Bindungsschwierigkeiten in Beziehungen davongetragen. Mit dem Ex-Partner habe die Beschuldigte nicht über Probleme oder tiefere Themen als über die Arbeit gesprochen. Der Suchverlauf ihres Browsers zeige mehr als 20 Versuche, eine Babyklappe zu finden. Je näher die Geburt kam, desto häufiger wurden die Suchaufrufe.
Verteidiger plädiert auf minderschweren Fall
Weil sie vorher die Unwahrheit gegenüber den Mitarbeiterinnen des Jugendamts gesagt hatte, habe sie sich nicht an sie wenden können. Aus psychiatrischer Sicht sei eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht auszuschließen. Der Verteidiger sieht einen minderschweren Fall gegeben: Die Hormonumstellung nach der Geburt kombiniert mit der Angst- und Paniksituation und einer Anpassungsstörung seiner Mandantin hätten die Steuerungsfähigkeit vermindert. Für die Strafzumessung sei zu berücksichtigen, dass der Zeitpunkt der Aussetzung mit dem Berufsverkehr zusammenfalle und seine Mandantin die Tat sehr bereue. Dr. Frank plädiert für eine Freiheitsstrafe unter zwei Jahren mit Aussetzung zur Bewährung.
Update, 12.36 Uhr - Brief der Angeklagten an ehemaligen Lebensgefährten wird vorgelesen
Im weiteren Verlauf der Verhandlung verliest die Vorsitzende Richterin Christina Braune einen beschlagnahmten Brief der Angeklagten an ihren ehemaligen Lebensgefährten. Sie schrieb ihm aus der Justizvollzugsanstalt: „Ich vermisse euch von Tag zu Tag mehr. Was passiert, wenn ich hier drin bleiben muss und nicht die Gelegenheit habe, alles wiedergutzumachen und euch zu unterstützen. Es ist schwer zu glauben, dass ich auf Bewährung herauskomme. Pass gut auf die kleine Maus auf und auf dich.“ Staatsanwalt Wolfgang Fiedler beantragt dann, den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung wegen des Durchtrennens der Nabelschnur mit einer Schere einzustellen.
Staatsanwalt sieht enorme zeitliche Brisanz
Sodann schließt die Vorsitzende Richterin die Beweisaufnahme und bittet Staatsanwalt Wolfgang Fiedler um sein Plädoyer. Ihm zufolge zeigten die Aufnahmen der Überwachungskameras ein zielgerichtetes Handeln der Angeklagten sowie eine gewisse Gefühlskälte bei der Aussetzung ihres Neugeborenen. Das Geständnis der Rosenheimerin sei nicht vollumfänglich: „Die Angeklagte war bezüglich ihrer Mutterschaft geständig, aber als reuig und einsichtig ist die Einlassung nicht anzusehen.“ In ihrem Geständnis hatte die Beschuldigte erklärt, sie habe kurz beim Baby gewartet, doch aus Sicht des Staatsanwalts zeigten die Aufnahmen keinerlei Anzeichen eines „Wartens“. Die Angeklagte habe ihr Baby mit der Stofftüte im Hinterhof des Hotels abgesetzt und den Ort ohne die geringste Pause verlassen.
Zielgerichtetes Handeln, vollumfänglich schuldfähig
Einen minderschweren Fall sieht Staatsanwalt nicht: „Es war reiner Zufall, dass das Baby gefunden und gerettet werden konnte und dass Folgeschäden auftreten, ist nicht auszuschließen.“ Auch eine verminderte Steuerungsfähigkeit der Angeklagten liege nicht vor. Die Videoaufzeichnungen zeigten ein zielgerichtetes Handeln der Beschuldigten, die Fiedler als vollumfänglich schuldfähig einschätzt. Die erwähnte Scham gegenüber den Mitarbeiterinnen des Jugendamts sei nicht nachvollziehbar. Für ihr „abgebrühtes Handeln“ plädiert der Staatsanwalt für fünf Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe – er sieht keinen Anlass für eine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt.
Update, 11.13 Uhr – Dritter Verhandlungstag beginnt verspätet
Der dritte Verhandlungstag im Prozess gegen eine 27-jährige Rosenheimerin, die im März ihr Neugeborenes aussetzte, beginnt mit fast einer Stunde Verspätung. Rechtsanwalt Dr. Markus Frank verliest sodann eine Ergänzung zur Einlassung seiner Mandantin. Darin erklärt die Angeklagte, dass sie den Jugendamtsmitarbeiterinnen aus Angst und Scham ihre erneute ungewollte Schwangerschaft verschwieg. Weil sie auch Angst vor dem Urteil weiterer Personen hatte, habe die Angeklagte auch gegenüber ihrer Familie nichts zu ihrem Zustand gesagt.
Zeuge sah Angeklagte kurz vor der Aussetzung
Dann verliest der Beisitzer Dr. Florian Richter die Aussage eines Zeugen, der die Angeklagte am Morgen der Aussetzung ihres Neugeborenen beobachtete. „Sie wirkte, als ob sie nicht wisse, wo sie hingehen will“, so der Zeuge. „Sie machte einen trutscheligen Eindruck und sah aus, als habe sie Gehprobleme. Ihr Tempo war sehr langsam.“ Durch das Lesen einer Nachricht auf OVBonline sei der Zeuge auf die Idee gekommen, dass es sich bei der orientierungslosen Dame möglicherweise um die Mutter handeln könnte.
Neonatologe gibt Einschätzung ab
Anschließend sagt ein sachverständiger Neonatologe aus. Prof. Dr. med. Thomas Rupprecht ist Chefarzt am Klinikum Bayreuth. „Das Kind war nahezu unbekleidet. Die Herzfrequenz war so niedrig und die Körpertemperatur unter 30 Grad. Da liegt die Sterblichkeit bei etwa 30 bis 50 Prozent“, so Rupprecht. Der Neonatologe geht davon aus, dass die Unterkühlung des Kindes schon in der Wohnung der Angeklagten begann. Seiner Meinung nach wäre der Tod nach 30 bis 60 Minuten eingetreten, wäre das Baby nicht aufgefunden worden. „An der akuten Lebensgefahr besteht nicht der geringste Zweifel. Die Herzfrequenz war schon ein Drittel langsamer als im Normalzustand“, so der Arzt.
Neugeborenes hatte großes Glück
Bei sechs Grad Außentemperatur würden Neugeborene im Normalfall mit Windel, Kleidung, Jacke und Fellsack spazieren gefahren. Seiner Meinung nach hatte das Kind großes Glück, dass es überlebt hat. Eventuelle Schädigungen könnten aber erst zwei bis drei Jahre später festgestellt werden. „In der Gesamtschau halte ich es aber für möglich, dass die Sache für das Kind gut ausgeht.“ Die Wahrscheinlichkeit liege nach Meinung des Experten bei über 50 Prozent. Dennoch sei es noch immer möglich, dass sich Entwicklungsstörungen zeigten. Das Abnabeln mit der Schere hielt der Neonatologe angesichts der großen Gefahr durch die Unterkühlung für vernachlässigbar. Das Kind sei in der Wohnung der Mandantin ohnehin schon großer Infektionsgefahr ausgesetzt worden.
Vorbericht
Traunstein; Rosenheim – Der Prozess gegen eine 27-jährige Angeklagte, die am 9. März ihr Neugeborenes auf einem Hotel-Parkplatz in Rosenheim ausgesetzt hatte, nähert sich dem Ende: Nachdem am zweiten Verhandlungstag ihr ehemaliger Lebensgefährte ausgesagt hatte, stand fest, dass es dem Kind inzwischen gut geht. Einen Monat nach der Aussetzung konnte es von der Pflegefamilie zum leiblichen Vater – dem Lebensgefährten der Angeklagten – und dessen Mutter umziehen, wo sie seither versorgt wird und laut Aussage des Vaters prächtig gedeiht.
Von der Schwangerschaft hatte weder der Lebensgefährte noch das Umfeld der Angeklagten etwas mitbekommen. Auch zwei Jugendamtsmitarbeiterinnen hatten dies nicht bemerkt, obwohl sie noch kurz vor der Geburt persönliche Gespräche mit der Beschuldigten geführt hatten. Bei den Terminen war es um zwei Kinder gegangen, die die Beschuldigte bereits vorher geboren und zur Adoption freigegeben hatte. Sie waren wohl aus kurzen Bekanntschaften entstanden. Obwohl sie mit ihrem Lebensgefährten bereits zwei Jahre zusammen war, wusste der weder von den Kindern noch von den traumatisierenden Erlebnissen in der Kindheit, der Angeklagten, die am Ende ihr Bruder als Zeuge vorbrachte.
Mit Problemen allein gelassen
Die Geschwister sollen demnach als Kleinkinder Zeugen heftiger Gewalt geworden sein. Der eigene Vater soll die beiden bei einem bewaffneten Einbruch aus der Wohnung der Mutter entführt haben. Laut dem Zeugen sei der Schaden aber erst nach der Festnahme des Entführers während einer größeren Polizeiaktion und der anschließenden Rückführung der Kinder zu ihrer Mutter zutage getreten. Laut dem Zeugen habe die Angeklagte so keine innige Beziehung zu ihrer Mutter aufbauen können, mit Problemen sei sie alleine gelassen worden und brauche psychologische Hilfe. In ihrer stark verwahrlosten Wohnung – auch diese hatte ihr Lebensgefährte nicht zu Gesicht bekommen – habe die Angeklagte Berichte und Dokumente zu den Vorfällen aus ihrer Kindheit gehortet.
Wie die psychiatrische Sachverständige Dr. med. Verena Klein aus Taufkirchen, den Zustand der Angeklagten einschätzt, wird sich wohl am dritten Verhandlungstag herausstellen. Er beginnt am 9. Oktober um 9.15 Uhr.