Dagmar Levin erinnert sich an Flut 2013 in Kolbermoor
„Zum Glück nur Sachwerte verloren“: Wenn Trödeltrupps das packen, was von der Flut bleibt
Es sind Auslöser wie Geräusche und Gerüche, die die Jahrhundertflut vom Juni 2013 wieder an die Oberfläche spülen. Auch bei Dagmar Levin, die bei der Evakuierung der Werkssiedlung in Kolbermoor half und selbst evakuiert werden musste.
Kolbermoor – Es gibt Wetterlagen, die Dagmar Levin unruhig machen. „Das monotone Geplätscher des Dauerregens. Das Grau in Grau des Himmels. Der steigende Pegel der Mangfall.“ Dann schwappen die Erinnerungen wieder hoch: an die bedrohliche Kraft des Flusses, seine unglaubliche Fracht. An ihr fast ferngesteuertes Funktionieren, an den enormen Zusammenhalt der Menschen, die einfach mit anpackten und halfen. An Trödlertrupps, denen sie ihre Möbel wieder entreißen musste. An die Spreu, die sich vom Weizen trennte. Als sich am 2. Juni 2013 die Fluten der Mangfall über die Werkssiedlung ergossen, musste auch Dagmar Levin evakuiert werden. Gleichzeitig war sie die Evakuierungsbeauftragte der Stadt.
Ein Brennpunkt der Dammverteidigung
Zwischen Mangfall und Werkskanal gelegen, war die Werkssiedlung ein Brennpunkt in der Hochwasserverteidigung. Das Bürgerhaus war gerade frisch saniert worden, die Arbeiten am benachbarten Wohnhaus waren noch in vollem Gange. „Wir wussten, dass der Damm am Schwarzen Weg nicht stabil ist“, erinnert sich Bürgermeister Peter Kloo. Tausende Sandsäcke wurden am Bahnhof gepackt und am Schwarzen Weg über Menschenketten verlegt. „Es gab auch die Überlegung, ob die Bundeswehr mit Big Packs den Dammfuss verstärken könne, doch die Turbulenzen der Hubschrauber hätten die Bäume an der Birkenallee entwurzelt. Dann wäre der Damm gebrochen“, beschreibt Kloo die prekäre Lage.
Evakuierung am Sonntagmorgen
Das Unvermeidbare zeichnet sich mit jeder neuen Meldung vom Pegelstand in Feldolling klarer ab: Die Werkssiedlung kann nicht verteidigt werden. „Das zu akzeptieren, war eine der schwersten Entscheidungen überhaupt“, erinnert sich Kloo. Am frühen Sonntagmorgen beginnt die Evakuierung. Auch Dagmar Levin muss ihre Erdgeschosswohnung in der Von-Bippen-Straße 3 verlassen, steckt in der Aufregung nur das Handy-Ladegerät ein. In der Pauline-Thoma-Mittelschule wird eine Notunterkunft eingerichtet.
Die Stadträtin hilft, wo sie nur kann, kümmert sich um die Evakuierten, diskutiert an der Mangfallbrücke mit Autofahrern, die die Straßensperrungen nicht akzeptieren wollen. „Irgendwann in den Nachtstunden kam mir der Gedanke: Jetzt gehe ich nach Hause. Dabei hatte ich ja gerade gar kein Zuhause“, beschreibt sie das Gefühl und weiß heute: „Ich hatte die Situation zwar rational, aber nicht emotional begriffen. Ich funktionierte wie ferngesteuert, bemerkte nicht, dass ich eine Nacht in Aktion auf der Straße zugebracht und stundenlang nichts gegessen hatte.“
Wie sich die Spreu vom Weizen trennt
Das Hochwasser trennt die Spreu vom Weizen. „Da waren hunderte Menschen, die mit anpackten und sich gegen die Flut stemmten. Aber es gab auch Leute, denen gar nicht klar war, was da gerade passiert“, erinnert sich der Bürgermeister. „Da gingen Eltern mit dem Kinderwagen direkt im Gefahrengebiet an der Mangfall spazieren, weil sie die Katastrophe aus nächster Nähe sehen wollten. Und während in der Hochphase der Überflutung Anwohner der Wendelsteinstraße mit dem Boot gerade aus ihren Häusern gerettet wurden, forderte ein paar Straßen weiter ein Mann von der Feuerwehr einen Generator, weil er den ,Tatort’-Krimi im Fernsehen schauen wollte.“
Eine Schneiße der Verwüstung
Falschmeldungen verbreiten Panik. Die Alte Spinnerei soll geflutet worden sein. Wegen des Dammbruchs in Kolbermoor dringe das Hochwasser in die Rosenheimer Innenstadt ein. „Es waren traumatische Stunden“, sagt Bürgermeister Kloo rückblickend. Als sich die Mangfall zurückzieht und Dagmar Levin am Dienstag, 4. Juni, wieder vor ihrem Haus steht, hat die Flut ihre Spuren hinterlassen. Bis zu 90 Zentimetern stand das Wasser in der Werkssiedlung. Dort, wo der Damm geborsten war, tobte das Wasser in einer Schneise durch die Anlage. „Mein Garten war verwüstet, aber beim Nachbarn standen die Gartenzwerge noch auf der Wiese.“ Die gute Nachricht: Die Gebäude sind nicht beschädigt. Die Keller müssen ausgepumpt werden. Das Mauerwerk ist nass, aber stabil. Die Bewohner dürfen in ihre Wohnungen zurück.
Mit dem Löffel zurück ins Haus
Dagmar Levin bahnt sich den Weg ins Haus mit einem Löffel. „Es war für mich unvorstellbar, wie das Kehrwasser Sand und Kies durch die geschlossene, massive Eingangstür drücken konnte.“ Sie arbeitet sich Millimeter für Millimeter vor. „Am Ende haben wir zehn Schubkarren Kies aus dem Eingangsbereich geschaufelt.“
Levin erinnert sich an eine unglaubliche Hilfsbereitschaft. „Plötzlich waren Leute da und fragten, wo sie helfen können. Andere versorgten die Helfer mit Lebensmitteln.“ Doch es gibt auch unschöne Erlebnisse: „Ganz Kolbermoor hat plötzlich seinen Sperrmüll entsorgt.“ Auch Trödeltrupps fahren durch die Stadt.
Trödeltrupps in der Stadt unterwegs
In letzter Minute rettet Levin ihre Möbel, die zum Trocknen an der Straße standen, vom Anhänger. Die Stromversorgung der Werkssiedlung läuft langsam wieder an. Vier Wochen muss sie mit einer Steckdose in der Wohnung auskommen.
Als Markus Söder, damals Bayerischer Finanzminister, am Donnerstag, 6. Juni, im Rundfunk jedem Flutopfer eine Soforthilfe von 1.500 Euro verspricht, stehen wenige Minuten später die ersten Menschen im Rathaus. Am Abend wird im Kolbermoorer Brückenwirt die Sendung „Jetzt red i“ aufgezeichnet. Hier fordert Bürgermeister Peter Kloo vom damaligen Umweltminister Marcel Huber eine verlässliche Aussage.
Bürgermeister fordert verlässliche Aussagen
Vor laufender Kamera bestätigt er schließlich, dass die Stadt das Geld ungeprüft auszahlen darf und auch zurückbekommt. Ab sofort melden sich etwa 1.800 Flutopfer im Rathaus. Doch auch Menschen, die nicht betroffen waren, reihen sich ein.
Mit dem Abstand von zehn Jahren sowie nach der Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal und der Sturzflut in Götting sagt Levin: „Ich sehe mich nicht als Opfer. Wir hatten Glück, haben nur Sachwerte, keine Menschen verloren.“ Dafür dankbar ist sie den Rettungskräften und auch den Vordenkern der Stadt: „Bürgermeister Peter Kloo und unser damaliger Kommandant Richard Schrank hatten einen Hochwasserplan parat. Der Einsatz war strukturiert, hat Schlimmeres vermieden. Hut ab vor den Menschen, die damals Verantwortung getragen haben.“


