Erste-Hilfe-Spezialausbildung in Kolbermoor
„Wenn es Gummibärlis gibt, ist Schluss“: Horror-Szenarien bringen Jugendfeuerwehr ins Schwitzen
Sieben „Schwerverletzte“ innerhalb weniger Stunden. So stark war die Kolbermoorer Feuerwehr noch nie gefordert. Jetzt musste sie bei schweren Verbrennungen, Schnitt- und Stichwunden, nach einem Stromschlag und einem Verkehrsunfall Erste Hilfe leisten und drei Opfer sogar reanimieren. Was passiert ist.
Kolbermoor – Um es vorwegzunehmen: Die Situation war dramatisch, der Adrenalinausstoß der Einsatzkräfte enorm, und doch war es nur eine Übung. Die aber hatte es in sich. Im Rahmen der Modularen Truppausbildung (MTA) absolvierten 30 Jugendfeuerwehrler und Quereinsteiger im Alter von 15 bis 35 Jahren einen zwölfstündigen Marathon. Mit dabei waren Kameraden der Feuerwehren Kolbermoor, Pullach, Großkarolinenfeld, Jarezöd und Ellmosen. „Nach dem theoretischen Part inszenieren wir praktische, fast lebensechte Fallbeispiele“, erklärt Martin Kreuzmair (44), in der Kolbermoorer Wehr für die MTA-Ausbildung zuständig und selbst schon seit 26 Jahren aktiv im Einsatz.
Die Crew für lebensnahe Fallbeispiele
Ehrenamtlich Regie führten Silvia Heil, Marco Errore und Andreas Lukas vom Einsatzzug Rosenheim der Malteser. Die Maske übernahm Stefan Fuchs, der nach 35 Jahren Erfahrung in der Feuerwehr und bei den Maltesern nur zu gut weiß, wie Unfallopfer aussehen. Zu den Schauspielerinnen in diesem „Horrorfilm“ gehörten unter anderem Raphaela Schöne, Lina Wagner-Douglas, Carmen Frappier und Isabella Arnold, die sich bei den Maltesern ehrenamtlich engagieren. Das qualifizierte sie für ihre Rollen, denn sie wissen genau, wie Menschen in Unfallsituationen und bei verschiedenen Verletzungen reagieren.
Betrunkene Frauen sind schwer zu bändigen
Die Nase gebrochen, Glasscherben im Arm und dazu noch völlig betrunken. Raphaela und Lina sehen nicht mehr schön aus, nachdem Stefan Fuchs sie für ihre erste Rolle geschminkt hat. Als die Übung beginnt, zeigen sie ihr ganzes schauspielerisches Können. Als das Erstversorgungsteam eintrifft, baggern sie die Helfer an, wälzen sich hysterisch am Boden und sind kaum zu bändigen. Da kommen die 15-jährigen Buben der Jugendfeuerwehr ganz schön ins Schwitzen. „Wenn es Gummibärlis gibt, ist Schluss“, holt Ausbilder Andreas Lukas sie schließlich vom hohen Stresslevel der Übung wieder auf den Boden der Realität. Seine Übungskritik: „Alles gut gemacht. Die Opfer sehr gut seelisch betreut. Die Kommunikation mit der Rettungsleitstelle muss noch präziser werden. Wichtige Dinge wie den Fundort und die Auftragslage immer wiederholen.“
Die Jugendlichen üben Manöver-Selbstkritik: „Wir haben versucht, die betrunkenen Frauen voneinander zu trennen, aber es ging einfach nicht“, beschreibt Korbinian Mauder von der Kolbermoorer Jugend. Der „Einsatz“ sitzt ihm noch in den Knochen. Er schwitzt. Seine Wangen sind knallrot. „Und mit dem Erste-Hilfe-Rucksack waren wir auch ein wenig unsicher.“ Das mache nichts, ermutigt ihn Malteser Lukas: „Den Rucksack einfach ausschütten und Leben retten. Beim Abrüsten ist genug Zeit, alles wieder ordentlich einzuräumen.“
„Die Feuerwehr ist immer zuerst vor Ort. Von euch wird erwartet, dass ihr eine weitaus qualifiziertere Erste Hilfe leistet als der Otto-Normal-Verbraucher“, motiviert Lukas die jungen Kameraden für die nächste Übung, die Wissen festigen soll und Fehler erlaubt, damit sie in der Praxis nicht passieren. Diesmal wird es eng und unübersichtlich.
„Schikanen“ sollen Helfer aus dem Konzept bringen
Dass es ein „Stromunfall“ ist, weiß der Einsatztrupp nicht. Der englischsprachige Passant, der den Unfall meldet, soll sie völlig aus dem Konzept bringen. Doch sie meistern die erste Hürde. Aber die zweite nicht: Plötzlich gibt es nicht mehr nur ein, sondern zwei Opfer. Ein Helfer hat die ohnmächtige Frau angefasst, die Brandmarken auf ihrer Haut für Hämatome gehalten. Wieder etwas gelernt. Das Opfer ist bewusstlos, atmet nicht. Der Trupp alarmiert Hilfe nach. Regina und Maria von der Dreder Wehr übernehmen die Herz-Lungen-Wiederbelebung mit dem Defibrilator. Herzdruckmassage, Atemstöße, Schock. Sie schwitzen. Am Ende gibt es Gummibärlis und viel Beifall von den anderen Teams, die diesmal zuschauen durften.
Mit jedem Fallbeispiel werden die Aufgaben anspruchsvoller. Dass es nur eine Übung ist, vergessen die Teilnehmer bei jedem Neustart: „Es ist, als ob Du durch eine Tür gehst, es Klick macht und Du im Einsatz bist“, weiß Ausbilder Lukas aus eigener Erfahrung. Gemeinsam mit den Wehren haben die Malteser den Erste-Hilfe-Lehrgang ausgearbeitet. Eine Heidenarbeit. Für Ausbilder und Azubis. Jetzt werden sie zu einem Grillunfall gerufen. Drei Verletzte hat Stefan Fuchs in Szene gesetzt. Die Helfer fokussieren sich auf Isabella, die mit einer Verbrennung dritten Grades kämpft. Das zweite Opfer übersehen sie erst. Dann endlich rufen sie Verstärkung. Und plötzlich sind die Zuschauer wieder im Einsatz.
Über die Drehleiter werden die Opfer von der Terrasse „auf die Erdgleiche verbracht“, wie es in der Sprache der Retter heißt, und an den Rettungsdienst übergeben. Drei Teams sind diesmal im Einsatz. Langsam lassen die Kräfte nach. Es ist 16 Uhr. Der Vorabend und acht Stunden Praxis stecken den Helfern in den Knochen. Mit den Gummibärlis kommt diesmal ein Riesenapplaus. „Ihr wart mit der Situation überfordert, aber das ist nicht schlimm“, ermutigte Kursleiterin Silvia Heil die Teams mit einem verständnisvollen Lächeln. „In den ersten Momenten eines Einsatzes gibt es immer eine Chaosphase, ehe sich eine Struktur bildet“, erklärt Gruppenführer Martin Kreuzmair. „Kommuniziert es, meldet es der Leitstelle, ruft Hilfe. Das ist keine Schande. Auch im richtigen Einsatz rücken Gruppen nach.“
Und schon geht es weiter. Ein Unfall mit drei Verletzten. Ein Radfahrer, der vermisst wird. Mit dem Rautek-Rettungsgriff wird die leblose Fahrerin aus dem Auto gezogen und schließlich reanimiert. Diesmal rufen die Erstversorger gleich nach Verstärkung. „Pro Opfer ein RTW“, so die Empfehlung der erfahren Kameraden. 17 Uhr, endlich kommen ein letztes Mal die „Gummibärlis“ . Jetzt ist die Übung wirklich zu Ende.
MTA-Ausbildung für sechs Feuerwehren
30 Teilnehmer sind erschöpft, aber zufrieden: „Es ist gut zu erkennen, welche Gefahren im Einsatz lauern können“, sagt Simon von der Dreder Jugendfeuerwehr: „So eine Übung bringt Erfahrungen, gibt Denkanstöße und stärkt das Selbstvertrauen. Das ist wichtig.“
Weil die aufwendige modulare Truppausbildung für eine Feuerwehr allein schwer zu stemmen ist, kooperieren Kolbermoor, Pullach, Großkarolinenfeld, Jarezöd und Ellmosen. Die Ausbildung findet einmal pro Woche in einer der Feuerwachen statt. „So lernen sich die Kameraden auch kennen, wissen, was die anderen Wehren können. Das hebt das Zusammenspiel bei gemeinsamen Einsätzen im Ernstfall auf ein ganz anderes Level“, beschreibt Kreuzmair.
Die MTA-Ausbildung geht noch bis in den Oktober. Dann stehen die Prüfungen an. Was sie für die Jugendlichen bedeuten, erklärt Andreas Lukas: „Damit erreichen sie den Ersthelferstatus, die erste Stufe auf der Leiter zum Sanitäter, Rettungsdiensthelfer und Rettungssanitäter als höchstem Niveau im Ehrenamt.“




