Ein Blick in die 75-jährige Geschichte der Volkshochschule
Gleichberechtigung in der Ehe? Kein Interesse in Kolbermoor
Als der katholische Pfarrer über die Gleichberechtigung in der Ehe sprach, war die Resonanz eher gering, doch eine Kunstausstellung wollten 3000 Besucher sehen. Wie sich die Volkshochschule Kolbermoor seit 1948 gewandelt hat.
Kolbermoor – Ein Ort der Begegnung ist die Volkshochschule Kolbermoor nun schon seit 75 Jahren. Im Interview mit dem OVB beleuchtet Vhs-Leiterin Ulrike Sinzinger Entstehung, Wandel und Alleinstellungsmerkmale der Kolbermoorer Einrichtung
Wer waren die Begründer der Kolbermoorer Volkshochschule?
Ulrike Sinzinger: Im Protokoll der Gründungsversammlung vom 13. August 1948 ist dokumentiert, dass der damalige Bürgermeister Karl Staudter 40 Personen aus allen Bevölkerungsschichten zusammengeführte, um einen Kulturförderkreis mit dem Namen „Kolbermoorer Volksbildungswerk“ zu gründen. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten unter anderem Heinz Ritter als Leiter der Handelsschule, Hanns Weigl als Rektor der Volksschule, der katholische Pfarrer Josef Birnkammer, Josef Reimeier und Ludwig Hintermayer. Allerdings gab es in Kolbermoor schon 1946 einen Kulturausschuss, der die Gründung des Volksbildungswerkes vorbereitete. Am 14. September 1948 wurde das „Volksbildungsunternehmen“ vom damaligen Landratsamt in Bad Aibling genehmigt und Heinz Ritter als dessen Leiter bestätigt. Das Volksbildungswerk war eine Zeit lang auch Träger der Handelschule.
Ging es damals vorrangig um die Förderung des kulturellen Lebens?
Ulrike Sinzinger: So ist es zwar im Protokoll von 1948 formuliert, aber das Volksbildungswerk hat weitaus mehr geleistet. An den angebotenen Kursen erkennt man, dass es neben Konzertbesuchen, Literatur und Vorträgen zur Landeskunde vorrangig darum ging, beim Wiederaufbau der Wirtschaft zu helfen. Berufsbildung war ein wesentlicher Baustein des Volksbildungswerkes. Beispielsweise wurden 1949 Kurse in Buchführung, Kurzschrift, Eilschrift und Maschineschreiben oder Übungen für Stenotypistinnen, Seminare in Geschäftskunde, Englisch und Spanisch angeboten.
Spielten auch politische Themen schon oder wieder eine Rolle?
Ulrike Sinzinger: Ja, das Volksbildungswerk klärte 1949 beispielsweise über die „Presse der Gegenwart“ auf, beschäftigte sich mit dem „Export als einer Überlebensfrage der deutschen Wirtschaft“, mit dem Weg, den Asien gehen würde oder auch mit den „Ruinen von heute“.
Wie war damals die Resonanz?
Ulrike Sinzinger: Unglaublich. Wir haben in der Chronik des Herbst-Winter-Semesters 1950/51 einen Eintrag gefunden, dass an zehn Vorträgen 1140 Besucher und an acht Kursen 428 Kolbermoorer teilgenommen haben. Eine Kunstausstellung wurde von 3000 Menschen besucht. Einen Dia-Votrag wollten 400 Leute sehen. Zu einem Fachvortrag kamen 100 Zuhörer. Das ist unvorstellbar.
Wie viele Besucher zählt die Vhs heute?
Ulrike Sinzinger: 2022 waren 2055 Personen in unseren Kursen eingeschrieben. Aber wir kämpfen auch noch mit den Corona-Nachwehen.
Früher gehörten auch Reisen zum Spektrum des Volksbildungswerkes. Warum sind die weggefallen?
Ulrike Sinzinger: Die Reisen waren sehr gefragt. Sie führten unter anderem nach Budapest, an den Balaton, ans Schwarze Meer, in die Hohe Tatra, nach Südspanien, an die Loire, nach Polen und in die Tschechei. Das Interessante daran war, dass die Leiter und Dozenten des Volksbildungswerkes diese Reisen auch persönlich begleiteten. Es waren also auch diese Kolbermoorer Persönlichkeiten, die für eine große Resonanz sorgten. Dann gab es einen Generationenwechsel, und natürlich wandelten sich auch die Reisegewohnheiten der Menschen. Hinzu kommt, dass sich in den 80er-Jahren mit dem Reiseveranstaltungsgesetz auch die gesetzlichen Grundlagen änderten. Zudem nahmen sich Reiseveranstalter verstärkt der Bildungsthemen an.
Gibt es Chronikeinträge, die die gesellschaftliche Entwicklung beschreiben?
Ulrike Sinzinger: Ein Schreiben aus den Anfangsjahren ans Bayerische Kultusministerium beispielsweise, in dem um die Bereitstellung von Glühbirnen gebeten wird, damit auch in den Abendstunden Unterricht angeboten werden kann. Oder eine Randnotiz aus den 1970er-Jahren, dass mehr Besucher wünschenswert gewesen wären, als der katholische Pfarrer über Gleichberechtigung in der Ehe oder über die Pubertät referierte.
Wann wurde aus dem Volksbildungswerk die Volkshochschule?
Ulrike Sinzinger: Im Jahr 1999 mit dem Beitritt zum deutschen Volkshochschulverband.
Wo war die Vhs in all den Jahren beheimatet?
Ulrike Sinzinger: Anfangs wurden in der Mädchenschule, also der heutigen Mangfallschule, Abendkurse angeboten. Später fanden Seminare in Containern der einstigen Mittelschule an der Flurstraße statt. Auch Musikschule, Mareissaal, Ottostraße oder Pauline-Thoma-Schule standen uns offen. Seit elf Jahren ist die Volkshochschule nun im Rathauskomplex beheimatet.
Welche Auswirkungen hat das neue Domizil auf die Besucherzahlen?
Ulrike Sinzinger: Sie haben sich mehr als verdoppelt. Das Ensemble aus Rathaus, Stadtbücherei und Volkshochschule ist einfach ein wunderschöner Ort mit vielen Synergien, mit dem für die Vhs auch eine neue Ära begonnen hat. Nicht nur, weil in lichtdurchfluteten, bestens ausgestatteten Räumen im gesamten Haus hervorragende Rahmenbedingungen zum Lernen und für den sozialen Austausch geschaffen wurden. Mit dem Übergang der Volkshochschule vom Verein in kommunale Trägerschaft wurden auch klare Strukturen geschaffen, die einen viel größeren Gestaltungsfreiraum ermöglichen. Das ist etwas ganz Besonderes, denn es verdeutlicht, dass die Volkshochschule Teil der Kommune ist, und wir mit der Erwachsenenbildung auch auf deren Bedürfnissen reagieren.
Wo liegen diese Bedürfnisse heute?
Ulrike Sinzinger: Wir wollen vor allem ein Ort der Begegnung sein und Impulse geben. Auch viele Monate nach der Corona-Pandemie ist noch spürbar, dass sich die Menschen danach sehnen, sich treffen und austauschen zu können. Deshalb ist beispielsweise das „Erzählcafé“ ein absoluter Erfolgsschlager, ebenso wie unsere Konzertreihen oder Exkursionen. Und deshalb bieten wir in Kooperation mit der Stadtbücherei künftig auch an jedem Montag, um 15 Uhr, ein kulturelles Angebot: mit Spielfilmen, kunstgeschichtlichen Themen-Nachmittagen, musikalischen Darbietungen oder Lesungen für Erwachsene an.
Ein aktuelles Thema unserer Zeit ist die Integration von Flüchtlingen. Wie engagiert sich die Vhs auf diesem Gebiet?
Ulrike Sinzinger: Seit 2015 führen wir kontinuierlich in Zusammenarbeit mit dem Bürgerhaus und dem Asylhelferkreis Deutsch-Kurse für unsere Neubürger durch. Im vergangenen Jahr haben wir den erwachsenen ukrainischen Kriegsflüchtlingen, die in Kolbermoor ankamen, damit das Ankommen etwas erleichtert. Auch für die Bewohner der Unterkunft an der Oberen Breitensteinstraße bieten wir Deutschkurse an. Die sprachlichen Grundlagen erleichtern ihnen den Alltag und später auch das Lernen im Integrationskurs, auf den sie im Moment etwa sechs Monate warten müssen. Die Deutschkurse werden von der Stadt, von der Sparkassenstiftung im Landkreis Rosenheim sowie von gewerblichen und privaten Spendern unterstützt.
Wie groß ist das Team der Volkshochschule?
Ulrike Sinzinger: Wir sind drei hauptamtliche Mitarbeiterinnen mit insgesamt 51 Wochenstunden, haben aber über 120 Honorarkräfte – also Kursleiter, Künstler und Referenten.
Wie finanziert sich die Volkshochschule?
Ulrike Sinzinger: Grundsätzlich finanzieren wir uns aus Teilnehmergebühren, weiterhin aus Zuschüssen des Freistaates Bayern und der Stadt Kolbermoor. Spenden und Unterstützung für bestimmte Projekte runden das Budget ab.
Am Donnerstag, 28. September, werden 75 Jahre Volkshochschule gefeiert. Wer darf kommen?
Ulrike Sinzinger: Natürlich alle, die Lust haben, einen schönen Abend zu verbringen. Los geht es um 19 Uhr im Sitzungssaal des Rathauses. Bürgermeister Peter Kloo, Rohrdorfs Bürgermeister Simon Hausstetter und ich werden kurze Festreden halten, denn wir wollen vor allem feiern. Dazu haben wir uns die Kolbermoorer Wirtshausmusi mit Musikschulleiter Günther Obermeier, die Clonws Rigol und Torf sowie die Band Laluna Blue eingeladen. Kommen Sie vorbei!
