Unsere Verfassung wird am 23. Mai 75
Trauer, Hunger, Wohnungsnot: 1949 haben die Wasserburger keine Zeit, das Grundgesetz zu feiern
75 Jahre Grundgesetz: Der Bundespräsident hat zur Feier am 23. Mai einen Staatsakt angeordnet. Peter Rink, Vorsitzender des Heimatvereins, Bürgermeister Michael Kölbl und Stadtarchivar Matthias Haupt über das Gründungsjahr der Bundesrepublik in Wasserburg. Warum die Bürger 1949 mit diesem Ereignis wenig anfangen konnten.
Wasserburg – 75 Jahre Grundgesetz: Am 23. Mai wird das deutschlandweit gefeiert: mit Reden, Vorträgen, einem Staatsakt. Doch vor 75 Jahren hatten die Deutschen nur wenig Lust, sich mit der Verabschiedung des Grundgesetzes, das als Geburtsstunde der Bundesrepublik gilt, zu beschäftigen. Kein Wunder, sagt Bürgermeister Michael Kölbl. „Vier Jahre nach Kriegsende hatten die Menschen vor allem existentielle Sorgen: Es ging um Arbeit, Essen, Wohnen.“ Die Not war auch auf dem Land so groß, dass der Alltagskampf nur wenig Platz ließ für politisches Interesse, berichten auch Heimatvereinsvorsitzender Peter Rink und Stadtarchivar Matthias Haupt. Doch neben existenziellen Sorgen drückten die Wasserburger so wie alle Deutschen auch emotionale Probleme. Es galt, den Verlust der vielen Toten zu verkraften, denn fast jede Familie hatte Gefallene oder anderweitige Opfer des Krieges zu beklagen.
Außerdem galt es, die Vertriebenen zu integrieren. Der Engpass bei Lebensmitteln, Heizmaterialien und Wohnraum bot neuen Zündstoff. In Wasserburg hatte sich die Einwohnerzahl laut Rink in drei Jahren um das Zehnfache erhöht. 200 Wohnungen fehlten, Anlass für die Gründung der Wohnungsbaugesellschaft Wasserburg. Sie begann 1950 mit dem Bau der ersten Reihenhäuser im Burgerfeld.
Das Grundgesetz galt damals für viele außerdem als Provisorium, weiß Rink. Der Vorsitzende des Heimatvereins Wasserburg hat sich intensiv mit der Nachkriegszeit in Wasserburg auseinandergesetzt, ebenso wie Stadtarchivar Haupt. Sie haben Akten gewälzt, Fotoalben aus dieser Zeit durchstöbert, Dokumente gesichtet. Darunter Berichte der Wasserburger Zeitung, ein Album von 1949, das das erste gemeinsam mit den Flüchtlingen ausgetragene Heimatfest in der Innstadt zeigt, die Verzeichnisse der ersten Wahlen. Stark damals: die Bayernpartei.
Trotzdem: Die Menschen einte eine Politikmüdigkeit, auch eine Folge des tief sitzenden Schocks über die Schrecken des Nazi-Regimes, über Bombenterror und Hungersnöte, sind Kölbl, Rink und Haupt überzeugt. Sogar Lebensmittelkarten gab es noch. Der Krieg wirkte nach wie vor intensiv nach.
Für viele war der Tag der Währungsreform ein wichtigeres Datum
Das überwundene nationalsozialistische Gewalt-Regime wurde damals nicht groß thematisiert in der Politik. Erst Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt 1985 eine Grundsatzrede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges, die als Anfang der Erinnerungsarbeit betrachtet wurde. Viel wichtiger war den Menschen laut Kölbl im Nachkriegs-Deutschland nicht der 23. Mai 1949, sondern der 21. Juni 1948, der Tag der Währungsreform: „Plötzlich gab es wieder Auslagen in den Schaufenstern, die sich über Nacht mit Waren füllten.“
Rink erinnert sich daran, dass auch in seinem Elternhaus nur wenig über die Gründung der Bundesrepublik gesprochen worden sei. Die Nachkriegszeit sei eher unpolitisch gewesen, zu tief habe noch die Scham über die Nazi-Zeit gesessen, berichtet der Vorsitzende des Heimatvereins, der in Berlin aufwuchs. „Das große Schweigen“ sei jahrzehntelang prägend gewesen. Haupt bestätigt: Die Erinnerungsarbeit mit Aufarbeitung des nationalsozialistischen Terrorregimes habe erst in den 90er Jahren richtig begonnen. Auch in Wasserburg.
„Ein großer Wurf“
Die Verabschiedung des Grundgesetzes ist zumindest aus heutiger Sicht „ein großer Wurf“ gewesen, sagen Kölbl, Rink und Haupt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Artikel eins hat Bürgermeister Michael Kölbl nach eigenen Angaben in seiner langen Amtszeit bereits „zig-mal in Reden zitiert“. Auch für Rink ist es der wichtigste Artikel. Er weist außerdem darauf hin, dass im Grundgesetz zum ersten Mal die Einzelne in den Mittelpunkt gestellt worden sei, nicht die Volksgemeinschaft. Artikel eins sollte nach Ansicht von Kölbl stets mit Artikel 20 verbunden werden: Er legt Demokratie, Bundesstaatsprinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit als Grundsätze der Verfassung fest, die unveränderbar sind. Denn es gehe auch darum, eine starke, wehrhafte Demokratie zu schaffen, so Kölbl. „Viele, die die Demokratie derzeit infrage stellen, sind diejenigen, die sie am meisten in Anspruch nehmen“, bedauert er.
Und da ist noch der Artikel 28, der dem Rathauschef ebenfalls wichtig ist: Er widmet sich der kommunalen Selbstverwaltung. Danach darf die unterste politische Ebene, die Kommune, all das selbst regeln, was sie in eigener Verantwortung im Rahmen der Gesetze tun kann. „Für mich als Bürgermeister natürlich ein ganz wichtiger Artikel.“
Politische Bildung, die das Grundgesetz in den Fokus stelle, etwa die Bayern beschlossene Verfassungsviertelstunde an Schulen, sei heute besonders wichtig, sagt Rink, „da meldet sich natürlich der gelernte Politologe in mir, doch ich bin überzeugt: Die Demokratie und unser Grundgesetz müssen verteidigt werden.“ Bildung sei die beste Waffe, findet der frühere Leiter des Luitpold-Gymnasiums Wasserburg. Auch das Parteiensystem gehöre geschützt, appelliert Rink. Hier schließt sich der Kreis zu 1949, damals waren die Deutschen eher parteienfeindlich aufgestellt, heute entwickelt sich erneut eine Anti-Parteien-Stimmung, bedauert er.
Deshalb ist der 23. Mai 2024 ein Grund zum Feiern, finden Kölbl, Rink und Haupt. Der Heimatverein hat nach Rinks Angaben im Herbst eine Veranstaltung zum Thema angesetzt. Denn den 75. Geburtstag auf den Tag genau festzulegen, sei ein schwieriges Unterfangen. Zwar sei im Mai Bonn das Grundgesetz verabschiedet, doch erst im August der erste Bundestag gewählt worden. Am 7. September trat der Bundestag erstmalig zusammen. Am 12. September seien Theodor Heuß zum Bundespräsidenten und am 15. September Konrad Adenauer zum Bundeskanzler gewählt worden. „Der 75. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland vollzieht sich also, wenn man so will, vom Frühjahr bis in den Herbst 1949, wo auch der Heimatverein seine Veranstaltung zur Erinnerung abhalten möchte.“





