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„Welttag des Stotterns“ am 22. Oktober

Wenn Worte zum Wagnis werden: Bernd Wingen (69) aus Feldkirchen-Westerham stottert seit seiner Kindheit

Schnappschuss aus dem Urlaub: Bernd Wingen (69) aus Feldkirchen-Westerham mit seiner Frau Beate. Der 69-Jährige stottert seit seiner Kindheit.
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Schnappschuss aus dem Urlaub: Bernd Wingen aus Feldkirchen-Westerham mit seiner Frau Beate: Der 69-Jährige stottert seit seiner Kindheit.

Er hat keine Probleme, die richtigen Worte zu finden. Nur manchmal, sie flüssig auszusprechen. Bernd Wingen (69) aus Feldkirchen-Westerham stottert seit seiner Kindheit. Wie er damit umgeht – und warum Eltern, deren Kinder zu stottern beginnen, nicht in Panik verfallen sollten.

Feldkirchen-Westerham – Es kommt wie aus dem Nichts: Gerade eben kommen Bernd Wingen (69) einzelne Worte, aber auch ganze Sätze flüssig von den Lippen. Doch plötzlich stockt der Wortfluss. Die Augen des Feldkirchen-Westerhamers werden etwas schmaler, sein Kopf neigt sich leicht nach unten, die Lippen fangen an zu beben. Mehrere Male verlässt nur die erste Silbe eines Wortes seinen Mund, ehe er das ganze Wort ausgesprochen hat. Bernd Wingen stottert – und gehört damit zu einer Gruppe von rund 800.000 Menschen in Deutschland, die unter dieser sprachlichen Beeinträchtigung leidet.

Wann das Stottern bei ihm angefangen hat, weiß Wingen gar nicht so genau. „Es war auf jeden Fall in der Kindheit“, sagt der gebürtige Rheinländer und berichtet von einer Theorie, die seine Mutter immer wieder erzählt habe. „Ich hatte als kleiner Bub im Alter von drei Jahren einen Autounfall, bei dem mich das Auto überrollt hat“, sagt Wingen. „Ich hatte aber das Glück, dass ich genau in die Lücke zwischen Auto und Boden gepasst habe und dadurch nicht verletzt worden bin.“ Doch seit diesem traumatischen Erlebnis habe er laut seiner Mutter gestottert.

Eine Besonderheit, die ihn zwar sein ganzes Leben begleiten, nicht aber groß auf seinem Lebensweg behindern sollte. Beispiel Schulzeit in Großhelfendorf bei Aying, wo die Familie in den 60er-Jahren eine neue Heimat gefunden hatte. „Es gab eigentlich nie Probleme damit, dass mich Mitschüler wegen des Stotterns gehänselt hätten“, sagt Wingen. Sein Problem sei eher gewesen, dass es ihm einfach schwergefallen sei, sich vor Leuten zu äußern, so dass er in gewisser Weise eine „Sprechangst“ entwickelt hatte.

Hypnose-Therapie? „Heute sagen alle Experten, dass das natürlich überhaupt nichts bringt“

Eine Entwicklung, der seine Eltern freilich gegensteuern wollten. „Das war zu dieser Zeit aber extrem schwer, weil es einfach kaum Angebote gab, vor allem keine seriösen“, erinnert sich der vierfache Familienvater. „So haben mich meine Eltern dann immer wieder zu teilweise eigenartigen Therapien geschleppt.“ Beispielsweise zur Hypnose-Therapie. Wingen: „Heute sagen alle Experten, dass das natürlich überhaupt nichts bringt.“ Dennoch sei er seinen Eltern für deren Einsatz heute noch „sehr dankbar“: „Ich habe wirklich eine gute Jugend gehabt.“

Für seinen weiteren Lebensweg sollte sich das Stottern glücklicherweise auch nicht als Hinderns erweisen. So lernte er als junger Mann in einer Jugendherberge am Steinhuder Meer in Niedersachsen seine spätere Frau Beate, heute 68 Jahre alt, kennen. Obwohl eine erste Fahrradtour recht einsilbig verlaufen war (Beate Wingen: „Er hat halt einfach so gut wie gar nichts gesagt.“), kamen sich die beiden schnell näher. „Mich hat es überhaupt nicht gestört, dass er stottert“, sagt die 68-Jährige. „Für mich war das eigentlich überhaupt kein Thema.“

Als Ingenieur bei einem großen Fahrzeugzulieferer tätig

Im beruflichen Leben stolperte Bernd Wingen zwar hin und wieder über einzelne Wörter, nie aber über seine Sprachbehinderung. Als Ingenieur beim Fahrzeugzulieferer konnte er mit seinem Können glänzen. „Ich hatte da eigentlich keine Nachteile durchs Stottern“, sagt Wingen, der mittlerweile in Rente ist. „Natürlich war es manchmal schwierig, mit jemanden zu reden, den ich noch nicht kannte. Dann musste ich mich halt überwinden – und dann funktioniert das auch.“

„Welttag des Stotterns“ am 22. Oktober soll sensibilisieren

Der „Welttag des Stotterns“, der 1998 ins Leben gerufen worden ist, wird jährlich am 22. Oktober begangen und soll die Menschen weltweit für die Sprachbehinderung sensibilisieren. In Deutschland sind rund 800.000 Menschen, also rund ein Prozent der Bevölkerung, von dieser Sprachstörung betroffen, die eher bei Männern als bei Frauen zu finden ist.

Die Ursachen des Phänomens sind noch nicht vollständig geklärt. Mitverantwortlich ist nach Angaben von Forschern allerdings eine Schwäche der Faserbahnen in der linken Gehirnhälfte, die die sprechrelevanten Zellen miteinander verbinden.

Betroffenen stehen mittlerweile verschiedene Therapien, angeboten von extra geschulten Therapeuten, zur Verfügung, die im bestmöglichen Fall das Stottern komplett abstellen können, zumindest aber für einen besseren Sprachfluss sorgen und helfen, Ängste von Betroffenen abzubauen.

Ausführliche Informationen rund ums Stottern und mögliche Therapien gibt es unter anderem auf der Homepage der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe unter www.bvss.de.

Und dennoch sollte seine Sprachbeeinträchtigung bald eines der großen Themen für den auch ehrenamtlich engagierten Mann werden. Denn als er 1993 auf eine Stotter-Selbsthilfegruppe in München stieß, wollte Wingen, der sein Schicksal bislang einfach so akzeptiert hatte, mehr über das Stottern erfahren. „Ich habe da erst realisiert, dass es nicht nur mich betrifft, sondern auch viele andere Menschen“, sagt der 69-Jährige, der anschließend mehrere Therapien bei ausgewiesenen Experten in ganz Deutschland absolviert hatte. „Da ging es dann beispielsweise um Sprech- oder Atemtechniken“, erinnert sich Wingen. „Mir haben diese Therapien sehr geholfen.“

1999 den Bundeskongress in München organisiert

Weshalb er sich mehr und mehr in der Selbsthilfegruppe engagierte. „In dieser Zeit haben wir viele Veranstaltungen mit den besten Therapeuten und größten Koryphäen rund ums Stottern aus ganz Deutschland organisiert“, erzählt Wingen. „1999 hatten wir sogar den Bundeskongress in München mit rund 300 Besuchern aus Deutschland und dem angrenzenden Ausland veranstaltet.“ Mittlerweile hat sich der 69-Jährige zwar aus der Selbsthilfegruppe zurückgezogen. Dennoch wird er nicht müde, zu betonen, wie wichtig eine frühzeitige und vor allem fachmännische Therapie für Betroffene ist.

Eltern sollten ganz normal mit ihrem Nachwuchs umgehen, denn es ist ja nichts Schlimmes.

Bernd Wingens Tipp für Menschen, deren Kinder plötzlich das Stottern anfangen

Denn das hat er nicht nur am eigenen Leib erfahren, sondern auch bei einem seiner vier Söhne gesehen. „Unser jüngster Sohn hat irgendwann auch angefangen, zu stottern“, erinnert sich Beate Wingen. „Da wussten wir erst nicht: Stottert er wirklich oder macht er nur den Papa nach.“ Das Paar habe daher mit dem Bub einen Therapeuten aufgesucht. „Nach rund einem Jahr war‘s dann komplett verschwunden“, berichtet der 69-Jährige von der erfolgreichen Therapie.

Daher hat Wingen, der seit einigen Jahren auch die Heimatkundliche Sammlung (HkS) in Feldkirchen-Westerham leitet, wichtige Tipps für Eltern, die in einer ähnlichen Situation stecken, parat. „Das Wichtigste ist, nicht in Panik zu verfallen und das Thema zu hoch zu hängen“, sagt Wingen. „Eltern sollten ganz normal mit ihrem Nachwuchs umgehen, denn es ist ja nichts Schlimmes.“ Anschließend sei es wichtig, schnell einen geeigneten Therapeuten zu suchen, der für das Thema Stottern qualifiziert ist. Denn: „Wenn man in der Kindheit oder in der Jugend mit einer Therapie anfängt, dann sind die Chancen deutlich höher, das Stottern loszuwerden.“

Wertvolle Tipps für Betroffene

Doch nicht nur Betroffenen, auch Menschen, die einem Betroffenen gegenüberstehen, kann Wingen wertvolle Tipps geben. „Auch wenn es vielleicht schwerfällt und man nur helfen will, ist es das beste, einen Stotternden einfach ausreden zu lassen“, so Wingen, der selbst schon erlebt hat, dass Gesprächspartner „verschämt zu Boden schauen“, wenn die Worte bei einem Betroffenen nicht flüssig kommen: „Das braucht es aber gar nicht.“ Er selbst gehe offensiv mit dem Thema um. Wingen: „Wenn ich vor mir unbekannten Leuten spreche, dann sage ich gerne: ,Achtung, ich stottere – jetzt wird es halt ein bisschen holprig.‘ Dann ist die Hürde eigentlich schon genommen.“

Zumal Wingen nicht das Gefühl hat, dass ihn seine sprachliche Einschränkung bislang groß aufgehalten hat. „Es gehört zu meinem Leben einfach dazu, dass ich hin und wieder stottere“, sagt der Feldkirchen-Westerhamer. „Aber ich lasse mich davon eigentlich von nichts abhalten.“ Zumal er ja auch nicht vorhatte, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, wie Wingen mit einem Schmunzeln auf den Lippen betont: „Als Nachrichtensprecher bei der Tagesschau wäre es vielleicht doch etwas schwierig für mich geworden.“

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